Seamus Heaney: Norden

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Seamus Heaney: Norden

Heaney-Norden

NORDEN

Ich kam zurück an einen langen Strand,
das geschmiedete Hufeisen einer Bucht,
und fand nur die ewigen
Kräfte des donnernden Atlantiks.

Ich sah Islands
magielose Einladungen,
Grönlands pathetische
Siedlungen, und plötzlich

jene sagenhaften Räuber,
jene, die in Orkney und Dublin liegen,
gemessen an ihren langen,
rostenden Schwertern,

jene im festen Rumpf
steinerner Schiffe,
jene, zerstückelt und glitzernd
im Kies getauter Ströme,

die ozeanbetäubte Stimmen waren
mich zu warnen, erneut erhoben
in Gewalt und Offenbarung.
Des Drachenschiffs schwimmende Zunge

stieg im nachhinein −
sie sprach von Thors Hammer,
geschwungen gegen Land und Handel,
tumbe Bande und Rache,

Haß und Hinterlist
des Althing, Lügen und Weiber,
Frieden genannte Erschöpfung,
Erinnern, gefärbt von vergoßnem Blut.

Sie sagte: „Leg dich
in den Wortschatz, erforsche
Windung und Schimmer
deines gefurchten Hirns.

Schreibe im Dunkel.
Harre auf langem
Raubzug des Nordlichts,
doch keiner Lichtkaskaden.

Halte dein Auge klar
wie die Blase im Eiszapfen,
glaub dem Gefühl, welch buckligen Schatz
deine Hände einst kannten.“

 

 

 

Nachbemerkung des Übersetzers

Wer es unternimmt, Gedichte zu übertragen, sieht sich vor eine nahezu unlösbare Aufgabe gestellt. Wortsinn, Gestalt und Klang des Originals gleichermaßen zu bewahren, entspräche dem Ideal. Diese zweisprachige Ausgabe zeigt das Gelungene und das Uneingelöste, offenbart die Differenz und erlaubt dem Kundigen neben dem kritischen Vergleich, den vollen Rang und Reiz der heaneyschen Gedichte zu erfahren.
Als ich Ostdeutscher im Sommer und Herbst 1986 auf Einladung von Gabriele Bock diesen vierten, in London bereits 1975 erschienenen, Gedichtband Heaneys für den Reclam Verlag Leipzig übertrug, tat ich dies, ohne je in Irland gewesen oder dem Autor anderswo begegnet zu sein. Der anläßlich des Lizenzersuchens mitgeteilte Wunsch des Autors nach einer gleichermaßen inspirierten und genauen („inspired as well as accurate“) Übersetzung wurde mir gegen Ende meiner Bemühungen berichtet. So war mein wichtigstes Rüstzeug „Der Große Muret-Sanders“, den mir ein Münchner Freund aus diesem Anlaß geschickt hatte.
Es war ein Gang übers Moor. Links und recht meines abgründigen Pfades glucksten die Laute und Bedeutungen, irrlichterten Redewendungen und „false friends“. Neben den hilfreichen Anmerkungen der Lektorin und dem profunden Nachwort von Wolfgang Wicht blieb mir als Moorführer mein poetischer Instinkt. Sackte ich dennoch ins Bodenlose, half nur noch der Griff nach dem eigenen Zopf.

Leibhaftig vor mir stand Seamus Heaney erst acht Jahre später, im Dezember 1994, am Todestag Alfred Nobels. Die Berliner Akademie der Künste hatte zu ihrer Veranstaltungsreihe „Der Übersetzer und sein Autor“ eingeladen. Ditte König und Giovanni Bandini lasen ihre Nachdichtungen zu einem Auswahlband Heaneys im Hanser Verlag und berichteten akribisch von ihren Erfahrungen und Schwierigkeiten. Nach ihnen war der Autor an der Reihe. In seinem schon angejahrten, die kräftige Gestalt straff umspannenden Anzug hatte er auf mich zunächst wie der Direktor einer Bauernbank gewirkt. Das änderte sich, als er aufstand und seine Texte im Original vortrug. Da entfalteten sich seine gütige Souveränität und die Heiterkeit eines von seinem gelungenen Werk beflügelten Schöpfers. Ich saß und genoß.
Anschießend stellte ich mich vor. Mich berührte die herzliche Reaktion (schließlich war ihm das Reclambüchlein bereits vor sieben Jahren zugegangen). Und daß er vom anderen Ende des Saales seine Frau herbeirief, damit auch wir uns kennenlernten. Als er dann meinte, mir zum Dank irgend etwas Gutes tun zu müssen, wünschte ich mir, daß, wenn ich einmal nach Irland kommen sollte, mir seine Tür nicht verschlossen sein möge. Sehr beeindruckte mich schließlich, daß der von Reise, Lesung und Smalltalk Gestreßte, der am anderen Morgen zeitig zum Flugzeug mußte, sich, es ging auf Mitternacht, nicht auf sein Zimmer zurückzog, sondern mit ortsansässigen irischen Freunden, mit denen er eben noch gesungen hatte, ein Auto bestieg, um ans Brandenburger Tor zu fahren. Das war kein Star, nicht die Saturiertheit des Erfolgreichen, sondern noch immer der wache Jäger poetischer Konstellationen.

Auf den Tag genau ein Jahr später und zugleich 72 Jahre nach seinem großen Landsmann William Butler Yeats (in dessen Todesjahr 1939 er geboren wurde) nahm Seamus Heaney aus den Händen des schwedischen Königs den Nobelpreis entgegen. Als einsamer Pinguin-Schlips unter hunderten befrackten und ordensbebänderten weißen Fliegen und herausgeputzten Bienen hatte ich das Glück, Zeuge dieses Moments in Stockholms Konzerthaus zu sein. Dann stand der Älteste von neun Kindern eines katholischen Bauern mit seiner Frau Marie und den drei erwachsenen Kindern Michael, Christopher und Catherine Ann im Blitzlichtgewitter. Ich hetzte hinunter, im Bühnengewühl auch noch zu gratulieren, ehe das Protokoll die Preisträger entführte.
Drei Tage zuvor hatte Seamus Heayney vor der Schwedischen Akademie seinen Nobelvortrag gehalten, dessen Titel „Crediting Poetry“ man mit „Danksagung an die Poesie“ übersetzen könnte. In ihr verschränkte er auf kunstvolle Weise seine eigene Entwicklung und die seiner gewaltgebeutelten irischen Heimat mit einer bekenntnishaften Poetikvorlesung. Sein zuversichtliches Glück über den Waffenstillstand von 1994 war noch ungetrübt, die Bombe in den Londoner Docklands und die im Autobus vielleicht noch nicht gebastelt. Ihre Explosion macht Heaneys „North-Gedichte“, in denen er den Spuren vorzeitlich ritueller und jüngster politischer Gewalt nachspürt, erneut wichtig. Der Leser wird den blutigen Faden finden, der sich durch fast alles zieht, Vergangenheit und Gegenwart stranguliert und verknüpft.

Richard Pietraß, Nachwort

Nachwort

I
In einer im Mai 1976 im kalifornischen Berkeley gehaltenen Vorlesung, die Philip Larkin, Geoffrey Hill und Ted Hughes als die exemplarischen Vertreter der englischen Gegenwartslyrik behandelte, strich Heaney an Hughes gerade das heraus, was er für sein eigenes Schaffen als wahlverwandt empfand, das Anknüpfen an nordische Traditionen, heidnische angelsächsische und nordgermanische Elemente, an Shakespeare, die Mythologie, die mittelenglische Stabreimdichtung, Balladen und Volksdichtung. Er bewunderte, daß Hughes’ „Kunst durch klare Umrißlinien und inneren Reichtum gekennzeichnet ist“, und er betonte, daß die poetische Kraft der Gedichte unmittelbar etwas mit der Verwendung der Konsonanten zu tun hat, die „die Fülle und die Üppigkeit und die latente Lüsternheit der Vokale zäunen, zerschlagen und zermalmen“. Als englische nationalliterarische Vorläufer solcherart bewegender Klanglichkeit benannte er William Shakespeare (1564-1616), John Webster (1580?-1634), Gerard Manley Hopkins (1844-1889) und D.H. Lawrence (1885-1930). Zusammen mit Hughes ergeben sie dann gleichermaßen eine literarische Ahnenreihe für Heaney, der, wie er in einer autobiographischen Notiz zu dem Band Worlds. seven modern poets (1979) mitteilte, besonders „für Hopkins’ konsonantische Verse empfänglich war, die zwischen Zähnen und Zunge prasselten und prallten“. In dem Gedicht „Fosterage“ fand er das Bild, daß dieses Vorbilds Worte „wie Silberstücke“ auf seiner Zunge lasten. Fasziniert von dem Potential, das der „stakkatohaften konsonantischen, Qualität des Ulster-Akzents des gesprochenen Englisch ausnehmend entgegenkam“, probierte er in frühen Gedichten die konsonantische Gestaltung zuweilen exzessiv aus, wie in dem Gedicht „Churning Day“ (Tag des Butterns), dessen Anfang lautet:

A thick crust, coarse-grained as limestone rough-cast,
hardened gradually on top of the four crocks
that stood, large pottery bombs, in the small pantry.
After the hot brewery of gland, cud and udder
cool porous earthenware fermented the butter-milk…

(Dicke Kruste, grobkörnig wie Kalkstein kreidig,
stockte griesig auf den vier Krügen,
die wie Steingutbomben in der Vorratskammer standen.
Nach heißem Gebräu von Drüse, Kud und Euter
gärte kühl-poröses Steinzeug Buttermilch…)

Die laut malerische Verwendung der Verschlußlaute k, p, b, g, d und ihrer Verbindung mit den Liquida „r“ und „1“ transponiert den vor sich gehenden Arbeitsprozeß in Sprache. Durch den Stoff, den erzählerischen Gestus der mit fünf unregelmäßig verteilten Hauptbetonungen versehenen Verszeilen und die metonymische Reihung von erinnerten Erscheinungen und Gegenständen wird das Moment der menschlichen Tätigkeit in ihrer Zielgebundenheit greifbar in den Vordergrund gerückt. Der Mensch verändert Natur. Er ist in der Lage, Energien freizusetzen und Objekte wie auch sich selbst zu verändern.
Hier wird dann ein Unterschied deutlich, der Heaney von Hughes und insgesamt die Dichter der siebziger und achtziger Jahre von ihren unmittelbaren Vorgängern trennt. Bei Hughes waren Krisenbewußtsein und die Wahrnehmung der – oftmals negativen – Dialektik des Existierenden über originelle Metaphern, Symbole und Mythen dem subjektiven Verständnis, der Kontemplation, dem individuellen Aufschrecken auch übereignet, wobei in der Regel sehr dingliche Bildentwürfe abstrakte, philosophisch auszudeutende Vorgänge und Sachverhalte meinten. Demgegenüber gewann nun der direktere Zugang zu den empirisch wahrnehmbaren Realitäten die Oberhand, ohne daß die Methode auf das in „Fosterage“ von einer Person ausgesprochene Postulat „Beschreibung ist Offenbarung“ reduzierbar wäre. Sozialisierung und Politisierung charakterisierten die Lyrik; zugleich aber wurde die Fragestellung nach der Aktionsmöglichkeit des Subjekts, nach der Erkenntnis der inneren Zusammenhänge aufgeworfen. In diesem Rahmen war das Verständnis über die ästhetische Eigenart der Dichtung sowohl aus der Sicht der Produktion wie aus der der Rezeption neu zu prüfen, der Umgang mit dem Material Sprache sprachlich zu vergegenständlichen. Die Relativierungen, Vermittlungen und Gegensätze zwischen Privatem und Sozialem, Dichtung und Politik wurden in unterschiedlichen Handschriften, zum poetischen Gegenstand. Vielleicht kann man sagen, daß sich in der Heaney-Generation Elemente aus den beiden wichtigsten Tendenzen der sechziger Jahre, der verinnerlichten und der operativen Dichtung, fruchtbar gemischt haben.
Die Herausgeber der Anthologie Contemporary Btitish Poetry haben die Lyrikentwicklung der siebziger Jahre als „gegenläufig zur Produktion einer unumwunden persönlichen Dichtung“ gekennzeichnet. „Die meisten Mittel, die von den jungen Poeten erschlossen wurden, dienen dazu, die Distanz zwischen ihnen selbst und ihren Gegenständen zu betonen. Diese Poeten sind – um ein Wort aus Seamus Heaneys ,Exposure‘ zu bemühen – ,innere Emigranten‘; nicht so sehr die Bewohner ihres eigenen Lebens als betroffene Beobachter, nicht Opfer, sondern Betrachter, nicht Dichter, die in bekennerhafter Weißglut arbeiten, sondern Dramatiker und Geschichtenerzähler.“ Diese Haltung stimmte überein mit der schärferen Bewußtheit des Klassencharakters der Gesellschaft, der ökomischen Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnisse und der politischen Machtstrukturen. Nachweislich ist das bei Lyrikern wie Tony Harrison (geb. 1947), Douglas Dunn (geb. 1942), Jeffrey Wainwright (geb. 1944) oder – von der Hochkultur weniger zur Kenntnis genommen – in den lyrischen Artikulationen von „unten“, von Arbeitern, Frauen und zornigen Immigranten. Auffälligerweise war es eine ganze Gruppe von Nordiren, die mit Beginn der siebziger Jahre in der britischen Dichtung neue Akzente setzte. Neben Heaney profilierten sich in erster Linie die etwa gleichaltrigen Michael Longley (geb. 1939) und Derek Mahon (geb. 1941) denen Tom Paulin (geb, 1949), Medbh McGuckian (geb. 1950) und Paul Muldoon (geb. 1951) folgten.

II
Das Ferment, das die poetischen Prozesse maßgeblich steuerte, war die Brisanz der politischen Lage in Nordirland. Als mit dem Vertrag vom 6. Dezember 1921 die bis ins feudale Mittelalter zurückreichende Unterjochung der grünen Insel durch England beseitigt und Irland als selbständiger Dominion-Staat sowie 1937 als Republik ausgerufen wurde, geschah dies mit dem Kompromiß, daß die industriell weiterentwickelte Provinz Ulster im Nordosten, wo die Bevölkerung zu drei Fünfteln protestantisch und zu zwei Dritteln katholisch war als Teil des Vereinigten Königreichs weiterhin unter der Administration der britischen Regierung stand. Ausbeutung und Repressionen blieben besonders ausgeprägt. Wahlrecht besaßen nur steuerzahlende Wohnungs-, Haus- und Grundbesitzer. Das Special Powers Act von 1922, ein Gesetz über besondere Machtbefugnisse, erlaubte es unter anderem, Personen ohne Gerichtsverfahren zu internieren und ohne Haftbefehl festzunehmen; 1971 und 1978 wurde es durch weitere gesetzgeberische Akte noch verschärft. (Heaney hat in North die Sachlage in einigen Gedichten thematisiert.) Die Arbeitslosenquote lag Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre bei 10% und war die höchste in ganz Westeuropa. In Städten wie Londonderry, Newry und Belfast stieg sie bis 20% und darüber. Die Durchschnittslöhne der Arbeiter betrugen 1971 87,5% verglichen mit denen in England. Fast ein Drittel der Familien wurde mit diesem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze eingestuft.
Die Teilung der Insel bildete den permanenten Anlaß politischer Unruhe. Seit 1968 wurde in vielen Städten von der Northern Ireland Civil Rights Association eine bürgerliche Rechtsbewegung organisiert, die unter der Losung „Ein Mann, eine Stimme“ ihre Mindestforderung kundgab. Am 5. Oktober 1968 kam es in Derry zu einem ersten gewaltsamen Zusammenstoß zwischen Demonstranten und der Polizei. Der Funke war ins Pulverfaß geworfen. Die Unruhen verstärkten sich 1969 und nahmen immer mehr bürgerkriegsähnliche Züge an. Mit rücksichtsloser militärischer Gewalt versuchte die Regierung, der Situation Herr zu werden. In der Folgezeit, mit dem Höhepunkt 1971/72, beherrschten Demonstrationen, Barrikaden und Militärpatrouillen die Szene; Morde, Schußwechsel, Straßenkämpfe und Bombenexplosionen gehörten zum bestürzenden Alltag. Zwischen 1969 und März 1983 wurden 2268 Personen, davon 1611 Zivilisten, getötet; weit über 25000 Menschen wurden verwundet. Unter religiösen und kleinbürgerlichradikalen Vorzeichen spitzten Extremisten die Lage zu. Auf der einen Seite standen die paramilitärischen „Orange-Orden“ und die Sturmabteilungen des fanatischen Protestanten Ian Paisley, auf der anderen die 1970 von der offiziellen lrish Republican Army, der 1919 gegründeten illegalen katholischen Befreiungs- und Schutzorganisation, abgespaltene, provisorische IRA. Der sektiererische, anarchische Terrorismus beider Parteien in Nordirland und England hat damals und für unabsehbare Zeit einer politischen demokratischen Lösung geschadet, die Bevölkerung noch tiefer gespalten und die repressiven Maßnahmen der Regierung eskaliert.
Das neue gesellschaftliche Lagebewußtsein und seine ästhetischen Konsequenzen hat Heaney in seinem Aufsatz-Band Preoccupations (1980) ausführlich beschrieben. Nachdem er bereits 1966 und 1968 in Artikeln und nach den Vorfällen in Derry mit einem satirischen Gedicht zur Situation in Nordirland Stellung genommen hatte, verlanlaßte ihn 1969 die Gleichzeitigkeit und die Unadäquatheit, die zwischen der Veröffentlichung seines Gedichtbändchens Door into the Dark und den politischen Zusammenstößen bestand, zu prinzipieller Erwägung: „Von diesem Augenblick an gingen die Probleme des Gedichteschreibens von der direkten Angelegenheit, ein befriedigendes verbales, ikonisches Zeichen zu erreichen, in die Suche nach Bildern und Symbolen über, die unseren mißlichen Verhältnissen angemessen waren. Ich meine damit nicht die ausgiebigen Klagelieder darüber, daß Bürger eines Landes sich dazu veranlaßt sehen müssen, einander zu töten, oder daß sie ihre militärischen Verbände für solche Dinge der Begriffsbestimmung wie ,britisch‘ oder ,irisch‘ in Stellung bringen. Ich meine damit nicht die öffentliche Lobpreisung oder Verdammung von Widerstand oder Greueltaten … Ich meine, daß ich die Notwendigkeit empfand, ein Aktionsfeld zu entdecken, wo es, ohne daß das Festhalten am Vorgang und der Erfahrung von Dichtung, wie ich sie dargestellt habe, preisgegeben werden muß, möglich würde, die Perspektive menschlicher Vernunft zu erschließen und gleichzeitig der religiösen Intensität der Gewalt ihre bedauerliche Realität und Komplexität zu bestätigen.“
Für Heaney waren also keineswegs die Feder mit dem Gewehr und die Buchseite mit der Barrikade konzeptionell identisch. Dichtung behielt die Funktion einer eigenständigen Form menschlichen Bewußtseins, die direkt politisch höchstens über die Vermittlungen ganzheitlichen individuellen und gesellschaftlichen Denkens und Verhaltens wirksam werden kann, sich eben nicht der Fehlkalkulation des direkten politischen und sozialen Aktionismus hingeben darf. Gerade das angemessene Beharren auf dem Kunstcharakter der Kunst setzte die ästhetisch spezifische Formung des Vermittlungspotentials voraus. Die soziale, politische, klassenbedingte, ethnische, religiöse und emotionale Komplexität und Kompliziertheit der Zustände, deren Nichtberücksichtigung ja gerade den sektiererischen Irrationalismus schürte, gebot den Dichtern, kurzschlüssigen Wertungs- und Wahrheitsbehauptungen auszuweichen. Damit entgingen sie zugleich provinzieller Enge. So wie die Lösung des Nordirlandproblems letztlich ein Teil des revolutionären Weltprozesses ist, so beansprucht die poetische Reflexion weltliterarische Dimension. Möglicherweise ist sogar die Interpretation erlaubt, in dem am hochgradigsten verschlüsselten Gedicht von North, in „Aisling“, in der mythologischen Figur des Actaeon (die bereits Ezra Pound für ein Gedicht wider den ersten Weltkrieg aufgerufen hatte) das Sinnbild dafür zu sehen, wie Kolonialismus und Imperialismus auf ihre Träger und Akteure zurückschlagen werden.
Der die badende Diana Beobachtende wurde von dieser in einen Hirsch verwandelt und von seinen eigenen Hunden gejagt und zerrissen. Auch über die Vorbreitungsmechanismen, die für den Kunstprozeß nicht unberücksichtigt bleiben dürfen, mußten die nordirischen Dichter über das Regionale von vornherein hinauswirken, wollten sie Allgemeingültigkeit anstreben. Nicht nur, daß sie in Englisch als ihrer Muttersprache schrieben, ihre Verleger waren renommierte englische Häuser ihr Publikum, unabhängig von äußerer Ausstrahlung über Landesgrenzen hinaus, zunächst ein gesamt-großbritannisches – womit übrigens „Aisling“ auch eine literarische Deutungsvariante in bezug auf die englische Hochkultur erhält.
Es ging also in der Lyrik der jüngeren Nordiren nicht im geringsten um nationale Identität als Selbstzweck wenngleich das Brechen des kolonialen Diktats durch die Überwindung der Teilung als politisches Postulat und perspektivische Notwendigkeit ihr ideologischer Kern ist. Die weitest denkenden Politiker und die realitätsnächsten Schriftsteller, so James Joyce, W.B. Yeats und Sean O’Casey, hatten bornierten Nationalismus und Irlandtümelei seit eh abgelehnt: Für Heaney und seine Kollegen hatte sein Schulfreund Seamus Deane, Adressat des Gedichts „The Ministry of Fear“, in Aufsätzen die gleiche Linie mit teilweise sarkastischer Schärfe verfochten. Die zentrale ideelle Komponente der nordirischen neuen Lyrik bestand in der Frage nach durchgreifender Demokratisierung, Gerechtigkeit, Bewahrung der Menschenwürde, nach der Überwindung der Gewalt von Ausbeutung, Klassenhegemonie und Krieg, als nationales und als internationales schicksalhaftes Problem. In diesem Sinne bewerkstelligt in Heaneys „Summer 1969“ das lyrische Subjekt mühelos die Grenzüberschreitung vom faschistischen Francospanien, das selbst wiederum in Goyas Gemälden in bestürzender Weise erfahrbar wird, nach Nordirland, bedeutet seine Lektüre von (vermutlich) Richard Ellmanns voluminöser Joyce-Biographie die Weitung des eng Nationalen ins Kosmopolitische, vollzieht sich in den Grabfund-Gedichten die Vernetzung ferner historischer Vergangenheit und geschichtsbiIdender Gegenwart. Der eigentümliche, prickelnde, denkanregende Reiz der nordirischen Dichtung entspringt gerade diesem Spannungsverhältnis von geographischer Ortsgebundenheit und ihrer gleichzeitigen Transzendenz. In Thematik und Gestaltung äußert es sich in der Symbiose unterschiedlicher Geschichtsüberlieferungen und verschiedenartiger – keltischer, englischer, europäischer, antiker – Traditionen in Dichtung und Mythologie.

III
Seamus Heaney wurde am 13. April 1939 in der Siedlung Mossbawn in der nordirischen Grafschaft Derry als ältestes von neun Kindern einer katholischen Bauernfamilie geboren. Nach der überkonfessionellen Elementarschule von Anahorish besuchte er von 1951 bis 1957 die katholische Internatsschule St. Columb’s College in Londonderry und erhielt darauf ein Stipendium in der Queen’s University in Belfast, die er 1961 mit einem ausgezeichneten Examen in Anglistik abschloß. Danach arbeitete er als Lehrer in Belfast und ab 1966 als Dozent an der Queen’s University. Im Studienjahr 1970/71 hatte er ein Gastlektorat an der University of California in Berkeley inne. Zu Ostern 1972 kündigte er seine Belfaster Universitätsstelle und zog im Sommer des gleichen Jahres mit seiner Familie nach Glanmore in der Grafschaft Wicklow in der Republik Irland. Fortan war er als freier Schriftsteller und freier Lehrbeauftragter tätig. Seit 1976 lebt er in Dublin.
Heaneys Herkunft und der für seine Familie untypische Werdegang vom Landwirt und Viehhändler zum Intelligenzler mußten schriftstellerisches Schaffen und Autorenhaltung zwangsläufig beeinflussen. „Es war mir bestimmt, von der Erde der physischen Arbeit in den Himmel der Erziehung entrückt zu werden.“ Der Ort seiner Geburt, Kindheit und im weiteren Kreis seines Bildungsweges erwies sich mit wachsender Wirklichkeitserfahrung als gleichermaßen konflikthaltige wie auch für das Subjekt wieder produktive ÜberlagerungssteIle divergierender Kulturen, Religionen, politischer und historischer Bewegungen sowie menschlicher Arbeitssphären. Sich selbst mußte der Dichter als mitten hineinpostiert in diesen Kreuzungspunkt sehen, was ihn freilich wiederum in die Lage versetzte, kritische Distanz, wenn erforderlich, in jeder Hinsicht zu entwickeln.
Er wuchs mit irischen Kinderreimen, Nonsens-Versen, Legenden, patriotischen Balladen und englischer Kinderliteratur auf und lernte in der Schule die englische Dichtung von Byron und Keats, auf der Universität dann die von Chaucer, Shakespeare, Wordsworth, Hopkins, Matthew Arnold und Robert Frost kennen. Nach dem Studium rückten zeitgenössische Lyriker mehr in sein Blickfeld, neben Ted Hughes vor allem der Waliser R. S. Thomas (geb. 1913) sowie die Iren Patrick Kavanagh (1905-1967), John Montague (geb. 1929), Thomas Kinsella (geb. 1928) und Richard Murphy (geb. 1927), Umwelt und Kunstwelt durchdrangen sich als Heaney in den sechziger Jahren zu schreiben begann. Es folgte, in seinen eigenen Worten „die fruchtbare Zusammenfügung der literarischen Tradition, die ich studiert, und des Lebens, das ich in Derry gelebt hatte. In diesem Moment waren meine ,Kartoffeln‘ reif fürs ,Ausgraben‘.“
Der poetische Schaffensprozeß erhielt erheblichen Impetus aus dem Spannungsverhältnis von literaturgeschichtlicher überwiegend englischer – Anregung und Verwurzelung in einer geographisch und sozial stets vergegenwärtigten Umwelt. für den Knaben, dereinst, war das heimatliche Gehöft der Nabel der Welt, auf dem die Pumpe, in „Sunlight“ wieder evoziert, zum Gleichnis, für Stabilität und Sicherheit aufrückt. Selbst amerikanische Bomber und Truppenmanöver auf den Feldern „stören nicht den Rhythmus des Hofes. Da steht die Pumpe, ein schlankes, eisernes Götzenbild, schnauzig, behelmt, gestriegelt mit einem Schwungarm, dunkelgrün gestrichen und auf einem Zementsockel befestigt – das Zentrum einer anderen Welt.“ Dieses kindliche Paradies mußte zurückgelassen werden, nicht aber die nun politisierte Landschaft: „Eine Hälfte meiner Sensibilität äußert sich in der geistigen Physiognomie, die daraus entsteht, daß man zu einem Ort, einer Vorfahrenschaft, einer Geschichte, einer Kultur, oder wie immer man es bezeichnen will, gehört. Aber das Realitätsbewußtsein und der innere Kampf mit sich selbst sind das Ergebnis dessen, was Lawrence ,die Stimmen meiner Erziehung‘ nannte. Diese Stimmen zerren einen in zwei Richtungen, zurück zu den politischen und kulturellen Traumata Irlands und nach vorn in die Impulse und die Erfahrung der Welt jenseits dieses Landes.“ So entfaltete sich für Heaney „die Vorstellung von meiner Person als irisch in einer Provinz, die darauf beharrt, daß sie englisch ist. In letzter Zeit (d.h. in den siebziger Jahren; W.W.) wurde mir klar, daß diese komplexen religiösen Erscheinungen und Dilemmas genau der Gegend, wo ich geboren wurde, wesenseigen waren.“
Orte haben in Heaneys Gedichten deshalb eine besondere und symbolische Bedeutung. Einer Vorlesung vom Januar 1977 gab er sogar das Thema „The Sense of Place“ (Sinn für Orte). Darin unterschied er das gelebte und unbewußte vom reflektierten und bewußten Verhältnis zu geographischen Landschaften: Die Spannung zwischen diesen beiden Polen hielt er für maßgebend für die Tradition irischer Dichtung, seit mit Yeats und den Autoren des sogenannten Celtic Twilight eine „Entdeckung des Vertrauens in unseren eigenen Boden, in unsere Landschaft, in unsere Rede, Englisch und Irisch“, begann. Solchen Sinn für Orte sah er bei Derek Mahon, Michael Longley und Paul Muldoon fortgeführt; er selbst hätte seinen Namen ohne weiteres hinzufügen können. Polemisch gegen jegliche Heimattümelei und plakative Parteinahme insistierte er darauf, daß Orte „existieren, um dem Dichter zu dienen, und nicht umgekehrt“.
Heaneys Geburtsgehöft lag symbolischerweise zwischen zwei Dörfern, deren Feldmarken englisch und irisch geeignet waren und bestellt wurden; die eine, The Demesne (das Wort war aus dem Normannischen ins Mittelenglische gedrungen); war Grundbesitz von Lord Moyola, einem ehemaligen unionistischen Premierminister Nordirlands; die andere, The Bog (keltischer Etymologie), umfaßte das sumpfige Land am Fluß Bann, dessen Tal wiederum als eines der ältesten, besiedelten Gebiete der Insel gilt. Der Name „Mossbawn“ bestätigte sich, wie in „Belderg“ ebenfalls erklärt, als nicht minder bedeutungsträchtig. Der Dichter gewahrte „in den Silben meines Heims eine Metapher der gespaltenen Kultur Ulsters“. „Moss“, das nordgermanische Wort für „Torfmoor“, war ein aus dem Schottischen ererbter Begriff, der wahrscheinlich durch Siedler im 16. Jahrhundert verbreitet wurde. Mit „bawn“ bezeichneten die englischen Kolonisten, ihre befestigten Bauernhäuser; es benennt jedoch ebenso den vom Gärtner aufgehäufelten Erdhügel, und es konnte homophon mit gälisch „bán“, „weiß“, verstanden werden; „weißes Moos“ wiederum galt als Umschreibung für das im Sumpf wachsende Wollgras.
So wie hier, so fand Heaney Allenthalben in den Ortsnamen seiner engeren Heimat „in ihrer Mischung von schottischer, irischer, und englischer Etymologie“ die „Geschichte ihrer Besitzer“ eingeschrieben. Solche Namen auszusprechen bedeutete, daß „dies eine Distanz zu den Orten schafft und sie in das, was Wordsworth einmal die Sicht des Geistes genannt hat, verwandelt“. Folgerichtig vereinnahmte Heaney den metaphorischen Sinngehalt und den Klang von Namen in sein poetisches Instrumentarium. Weitere gestalterische Möglichkeiten wurden vielfältig daraus entwickelt: Die b-Alliteration, die sich im II. „ Kinship“-Gedicht aus Bog ableitet – amber, bin, bone, bank, enbalmer, sabred, bride, outback – gibt, wenn die inhaltliche Konnotation des Wortes beachtet wird, dem Wertsystem des lyrischen Subjekts einprägsame literarische Form. Die Überzeugung, von Klangmustern aus sprachlichem Material bildet für Heaney von Anfang an eine fundamentale Bedingung poetischer Produktion. „Das Geheimnis, ein Dichter zu sein, irischer, oder irgendein anderer“, schrieb er, „liegt in der Freisetzung der Energien der Wörter.“ Damit meinte er keine symbolistische Ausgrenzung der den Zeichen anhaftenden semantischen Qualitäten, sondern umgekehrt die Fixierung von Bedeutungen durch sorgfältig konstruierte Textkombinationen, die Technik, „die essentiellen Muster der Wahrnehmung, der Stimme und des Gedankens als Wasserzeichen in das Gefüge und Gewebe deiner Zeilen einzulassen, … die Bedeutung der Erfahrung in die Gesetzlichkeit der Form, zu bringen“.
Die ersten beiden Gedichtbände Heaneys, Death of a Naturalist (1966) und Door into the Dark (1969), machten bereits deutlich, welche außergewöhnliche Originalität und poetische Intensität dem Talent des Lyrikers entsprossen. In Preoccupations erläuterte er seine Absichten in rückschauendem Autorenkommentar:

Ich habe versucht, auf die spezifische Auffassung von Dichtung als eine Eingangspforte in das verborgene Leben der Gefühle oder als einen Ausgangspunkt dafür hinzuarbeiten. Wörter selbst sind Türen; Janus ist bis zu einem gewissen Grade ihre Gottheit, die zurückblickt auf die Verzweigungen der Wurzeln und Assoziationen und vorausblickt auf die Verdeutlichung von Sinn und Bedeutung.

In unterschiedlichen Versformen und metrischen Anordnungen thematisierte er die Landschaft seiner Herkunft, die ländliche Arbeitswelt, sein Verhältnis zu Vater und Mutter sowie seine eigene Suche, sein Graben („Digging“ heißt ein zentrales Gedicht) nach dem Wesen seiner Berufung. Die letzten drei Gedichte in Door into the Dark deuten mit der Einbeziehung von Geschichte den Schritt zu neuen Gegenständen an; das „Bogland“, wie das Schlußgedicht heißt, wird zum Symbol einer historischen und kulturellen Identität· eines Volkes, dessen Vergangenheit wie die Wasserfläche im Moor unergründlich ist („The wet centre is bottomless“).
Die nächste Sammlung, Wintering Out (1972) widerspiegelte, zunächst noch eher indirekt, die Brisanz der politischen Situation wie auch das nun zur Reife gelangte poetologische Selbstverständnis des Dichters. Die Form – u.a. die verstärkte Verzerrung des in der englischen Literatur verbreiteten Jambus, der Kontrast von Konsonanten und Vokalen (bei Zurücknahme der Alliterationshäufigkeit), die auffällige Setzung von Ortsnamen und archaischer Wörter und die Verschärfung der Metaphern, insgesamt eine erhebliche Disziplinierung der Sprache artikuliert ideologischen und politischen Gehalt. „Ich denke mir die persönlichen und irischen Bekenntnisse als Vokale und die literarische Bewußtheit,die vom Englischen genährt wird, als Konsonanten“, bezeugte Heaney in Preoccupations, wo sich ebenfalls der Hinweis findet, daß die alte keltische Literatur „auf die ursprünglichen Bedeutungen von Ortsnamen zurückgeht und eine Art mythologischer Etymologie konstituiert“. Einer lyrischen Explosion gleich kamen zwei Gedichte, die in bestürzender Bildlichkeit die Leichenfunde aus der frühen Eisenzeit beschrieben, die in den Mooren Jütlands gefunden worden waren und als Kampfes- oder Kultopfer identifiziert wurden. Die englische Übersetzung eines Buches darüber von P.V. Glob, The Bog PeopIe, erschien 1969, für Heaney sinnfällig in dem Jahr, „als das Morden begann“. Die allegorische Bedeutsamkeit in Hinblick auf die aktuellen Vorgänge vermochte der Dichter seinen Lesern herausfordernd mitzuteilen. Seinen Standpunkt als Autor umriß er unter Verweis auf eines der Gedichte, „The Tollund Man“: „Und die unvergeßlichen Photographien dieser Opfer überlagern sich in meinem Kopf mit den Photos der Gewalttaten, in Vergangenheit und Gegenwart; in den langen Riten der irischen politischen und religiösen Kämpfe. Als ich dieses Gedicht schrieb hatte ich eine völlig neue Empfindung, die der Angst.“ In North sind dann „Come to the Bower“, „Bog Queen“, „The Grauballe Man“, „Punishment“ und „Strange Fruit“, also der mittlere Abschnitt von Teil I, direkt von Passagen in Globs Buch angeregt. Die sich in Wintering Out anbahnende umfassende Durchwirkung politischer, sozialer, historischer und ideologischer Erscheinnngen, die Frage danach, was diese dem Menschen antun und wie diese den Dichter aufrufen, sind in North und in ähnlichem Geiste in den beiden folgenden Gedichtbänden Field Work (1979) und Station Island (1984) in vielfältiger thematischer und ständig sich erweiternder gestalterischer Variation zur Hauptsache geworden. Seine Anschauung vom Eigentümlichen des künstlerischen Schaffens hat er in Station Island in ein lakonisch gesagtes und vielschichtig aussagefähiges Epigramm gebündelt:

THE FIRST GLOSS

Take hold of the shaft of the pen.
Subsribe to the first step taken
from a justified line
into the margin.

DER ERSTE ANSTRICH

Ergreife den Kiel einer Feder.
Unterzeichne den Erstschritt
vollführt von der richtigen Linie
hinein in den Rand.

IV
North, zuerst 1975 im Londoner Verlag Faber and Faber, publiziert, ist, wie Blake Morrison, feststellte, „Heaneys geschlossenster Versuch, die tragische Geschichte von Ulster zu interpretieren“. Der Titel ist in der für den Wortgebrauch der ganzen Sammlung bezeichnenden Weise vieldeutig. North kann Norden, „nördlich“ oder „nordwärts“ heißen. Wie an den beiden Teilen des Bandes ablesbar, denotiert das Wort eine bis ins Eisenzeitalter zurückreichende nordeuropäische Völkergeschichte und Kultur, das politische Gebiet Nordirland, die biographische Rückbewegung des Dichters von Kalifornien nach Irland sowie den von seiner gesellschaftlichen Verwurzelung und Sympathie. Gegen die Folie des bekannten Gedichts „In Memory of W.B. Yeats“ (1939; Zum Gedenken an W.B. Yeats) von W.H. Auden (1907–1973) gelegt, markiert es auch eine poetische Rückbewegung. Der einer Autorenüberlegung gleichkommende Kommentar des Sprechers bei Auden besagt (in Ernst Jandls schöner Übersetzung):

aaaaaNarr Irland quälte dich zur Dichtung.
Irlands Narrheit und Wetter bestehen weiter,
Denn Dichtung bewirkt nichts: sie überdauert
Im Tal ihrer Erzeugung, wo die Exekutive
Ihre Finger einzieht, fließt nach Süden weiter
Von Gehöften der Isolation und des emsigen Kummers,
Rauhen Dörfern, wo wir glauben und sterben…

In beziehungsreicher Aufhebung dieses Gedankens meint in Heaneys Titelgedicht die Umkehr nach Norden die Hinwendung zu Geschichte und Gemeinschaft, die Rückkehr dorthin, „wo wir glauben und sterben“, freilich auch die Bestätigung, daß – kurzschlüssig – Dichtung nichts bewirkt. Kunst ist nicht Thors mächtigem Hammer und nicht seiner Zauberkraft gleichzusetzen. Aber wie das Zeugnis der personifiziert sprechenden steinernen Schiffszunge Rückschau und Einsicht (hindsight) koppelt, so gewinnt des Dichters Versenken in seinen „Wort-Schatz“, das klaräugige Schaffen in der Dunkelheit wiederum gesellschaftliches Wirkungspotential in einer vom Nordlicht (aurora borealis) angekündigten geschichtlichen Wandlung, die eine lange Periode räuberischer Eroberungen (long foray) beendet. Die Lichtkaskaden von Ad-hoc-Veränderung oder anarchischem Aktionismus führen politisch und künstlerisch in die Illusion. Stilistische Mittel, z.B. die Syllepse von „Gewalt“ und „Offenbarung“ (in violence and epiphany), die äußerst wirkungsvolle Kreuzung grammatischer Strukturen, wie des Subjekts und des Objekts in der Metapher „memory incubating the spilled blood“ (so daß die Erinnerung vergossenes Blut latent bewahrt und Blut, das vergossen wird, Erinnerung und Bewußtsein gebiert) oder die semantische Vielschichtigkeit von „north“ selbst, figurieren wiederum als gestalterische Verdichtungen der thematischen Überlagerung von Geschichte, Gegenwart und Zukunft, von gesellschaftlicher und ästhetischer Praxis.
Jedes der Gedichte in North stellt eine selbständige und für sich lesbare Äußerung dar; die meisten wurden überwiegend in Zeitschriften veröffentlicht. Aber erstmals bei Heaney bildet die Sammlung einen durch Reihung, Ordnung und gegenseitige Bezugnahme deutlich durchkomponierten Zyklus. Poetische Zyklen sind insgesamt eine auffällige Erscheinung in der Lyrikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Sie zielten auf die Intensivierung und Verbreiterung der ästhetischen Ausdrucksformen und auf die Vertiefung der intendierten Hauptaussage und Wirkung ab. Vor allem versuchten sie, die differenzierte Wahrnehmung der komplizierten Widersprüche in der Epoche der allgemeinen Krise des Kapitalismus zu demonstrieren. Heaney lotet durch das zyklische Prinzip das konflikthafte Verhältnis von öffentlichen politischen Vorgängen und privater subjektiver Existenz, von gedanklichem Realitätsbezug und sprachlicher Autonomie des literarischen Werks, von der Aneignung der Wirklichkeit in der Dichtung und der Dichtung in der Wirklichkeit, von der Einbettung des Dichters in der Gemeinschaft und seiner schaffensgesetzmäßigen Vereinzelung vertieft aus. Zwischen dem Vorspiel von zwei Gedichten unter der Überschrift „Mossbawn“, und dem letzten Bekenntnisgedicht „Exposure“ spielt er es in zwei Hauptteilen in blockweise inhaltlicher Anordnung vor allem über die thematische Variation von politischen, ideologischen, militärischen und ökonomischen Repressionen durch.
Die beiden Einführungsgedichte behennen die Wurzeln, aus denen Heaney hervorging. Die Bilder der brotbackenden Bäuerin und der Saatkartoffelschneider tendieren allerdings keineswegs zu idyllischer Beschreibung. Vielmehr steht der Arbeitsvorgang im Vordergrund, als wesentlich für die menschliche Reduktion. Über diesen Gedanken wird der Blick frei für Vergangenheit und Tradition. Und für deren menschliche und poetische Bedeutsamkeit. Durch die beiden Gedichte sind zugleich die beiden in der Sammlung und bei Heaney ganz generell häufigen formalen Strukturmodelle vorgegeben. In „Sunlight“ ist es die reimlose Strophe mit überwiegend zwei (zuweilen drei oder vereinzelt auch nur einer) metrisch nicht gebundenen Starkdrucksilben in jeder der vier Kurzzeilen, denen eine unregelmäßige Zahl von Schwachdrucksilben zugeordnet ist. Heaney griff damit freizügig auf die Form der aus vier Kurzzeilen bestehenden Strophe der alten irischen Dichtung, deren Silbengleichzahl außerdem zumindest in den beiden ersten Strophen von „North“ erhalten scheint, wie auch auf die rhythmisch variable, altenglische Stabreimdichtung zurück. Eingelassen in die strophische und rhythmische Anordnung ist die raffinierte Verteilung klanglicher Momente von Alliterationen und Assonanzen, wobei modellhaft nur auf die Lautdominanten „b“, „w“, „h“, „m“, die Binnen- und Endlautung Vokal + „n“ sowie „oo“, „oa“ und „u“, in „Sunlight“ verwiesen sei. Der in Formstrenge gezwungene freie Vers ermöglicht eine hochgradig lakonische und die Metaphern als Aussagenträger herausmeißelnde Darstellung. Er überspringt praktisch die gebräuchlichen Ausdrucksmuster der englischen Dichtung seit der Renaissance. Das Schriftbild, das in der Literatur der Moderne vergleichbar bereits in Gedichten des Amerikaners William Carlos Williams (1883-1963) auffiel, vermittelt den Eindruck der wie eine Wirbelsäule aufeinandergeschichteten Mahlsteine („Querns piled like vertebrae“; in „Belderg“) oder des Gedankenwurms („worm of thought“; in „Viking Dublin“) – der aufgehäuften Zeugen oder der Sondierungen von Geschichte. Es ist auch zu assoziieren mit der Metapher der Pumpe, die in Heaneys Erklärung, „ein ursprüngliches Hinabsenken in Erde, Sand, Kies und Wasser, kennzeichnete“.
In „The Seed Cutters“ dagegen bemüht der Dichter das seiner Definition nach höchst strenge Sonett, das er in diesem Falle durch die Reimanordnung und die zehnsilbigen Verszeilen an das englische Renaissancemodell von Spenser und Shakespeare anlehnt. Dessen rhythmische Akzentuierung durch den fünffüßigen Jambus und dessen gedanklicher Neuansatz mit der 9. Zeile sind allerdings unverkennbar negiert. Später, in den Gedichten „Strange Fruit“, „Act of Union“, „Summer 1969“ (1. Strophe) sowie in einem Kranz von 10 Sonetten in „Field Work“ und einigen Teilen von „Station Island“ wird er weitere Abwandlungen und Brechungen, aber ebenso klare Gestaltungskonturen benutzen, um jeweils konkreten inhaltlichen Absichten gerecht zu werden. Häufig kontrastiert die formgebundene lyrische Organisation mit dem Schrecken, der Brutalität, der Gewalt, dem Chaos der Wirklichkeit, was Wirkung und Botschaft der Gedichte immens verschärft.
Die komplementären beiden Teile von North unterscheiden sich thematisch dadurch, daß zunächst Erscheinungen historischer Vergangenheit und dann solche, der unmittelbaren Gegenwart bedrängende Bedeutung für das lyrische Subjekt und, hineingezogen, für den Leser gewinnen. Gestalterisch steht der äußersten, nachgerade in Stein gehauenen Verknappung im ersten Teil ein eher erzählender, bedachter, nichtsdestoweniger aber scharf zupackender Gestus im zweiten gegenüber. In einem der irischen Kulturzeitschrift Crane Bag 1977 gegebenen Interview erläuterte Heaney: „Die beiden Hälften des Buches konstituieren zwei unterschiedliche Äußerungstypen, die jeweils aus der Notwendigkeit erwuchsen, zwei Arten von Ausdrucksverlangen – das eine symbolisch, das andere konkret – Gestalt und greifbare sprachliche Form zu geben.“ Diese wiederum umfaßt die Spanne vom symbolisch aufgeladenen freien Vers bis zur traditionellen Gebundenheit von Rhythmus und Wechselreim in einem konkret-„journalistisch“ auf politische Ereignisse reagierenden Gedicht wie „Whatever You Say Say Nothing“.
Teil I erhält einen Rahmen durch zwei „Antaeus“-Gedichte. Das erste, bezeichnend in einer umschließenden strophischen Reimgebung, ist nach den vorausgegangenen Mossbawn-„Zueignungen“ in seiner Aussage relativ eindeutig. Am Gleichnis des Riesen Antäus, der alle Fremden im Zweikampf besiegt und, stets neue, unbändige Kraft aus der Berührung mit seiner Mutter Gäa, der Erde, gewinnt, erfährt sich das poetische (Dichter-) Ich durch die Wurzelung im Volk, in seiner Erde, die ihn erst geboren hat und ihn in seiner Berufung bestimmt. Der Aufstieg in die etablierte erste Kultur Englands wäre sein Fall. Das zweite, in der freien Quaderform der voraufgehenden „symbolischen“ Werke gestaltet, ist dagegen höchst vielschichtig. Der in „Antaeus“ überheblich anonym gehaltene Herkules besiegt getreu dem antiken Mythos seinen Widersacher, indem er ihn in der Luft schwebend totdrückt. Der Sprecher des Gedichts ist nicht mehr das mit Antäus identische Ich, sondern ein Beobachter von außen – der Dichter, per seine eigene Position beurteilen muß. Das nüchterne Resümee lautet notwendig, daß Kraft und List des Eroberers und Machtbesitzers so erheblich sind, daß partikulärer Widerstand in Niederlagen endet und nichts bewirkt wird. Die Mythologie, vom keltischen Gott Balor, und die Geschichte, bis zum Sioux-Häuptling Sitting Bull, der 1876 über die amerikanischen Regierungstruppen erfolgreich blieb, belegen, daß Teilsiege letztlich Scheinsiege sind. Für den Dichter bedeudet diese Erkenntnis, aus beschränkter Parteinahme für die Entrechteten herauszutreten und die provinzielle Position des Antäus zu verlassen. Auf der tieferen Sinnebene der assoziierbaren Nordirlandsituation wird das anarchische Sektierertum als konsequenzenlos bewertet. So tendiert die Aussage letztlich dahin, daß der Imperialismus nur organisiert von innen heraus, unter Ausnutzung seiner eigenen Widersprüche, zu bekämpfen ist. In diesem totalen Umfeld findet die Arbeit des Dichters Sinn. Der Rahmen von „Antaeus“ zu „Hercules and Antaeus“ bezeichnet damit einen Prozeß von Erkenntnis- und Standpunktgewinn, der wohl der Schaffensentwicklung Heaneys von den Anfängen bis zur Reife gleichkommen mag, aber übergreifend die Erkenntnisleistung des Lesers herausfordert.
Dieser Prozeß ist über die inneren Gedichte des I. Teils ausgeführt, der in drei Komplexe geordnet ist. In den sechs Gedichten von „Belderg“ bis „Bone Dreams“ gräbt der Dichter hinein in die keltische und nordische Vergangenheit sowie ihre Dokumente und Überlieferungen. Sie koppeln sich gedanklich, manchmal auch gegenständlich direkt, wie in „Funeral Rites“, ans politisch Aktuelle oder an den künstlerischen Schaffensvorgang, jene „dynamische Fähigikeit, die zwischen den Ursprüngen der Gefühle in Erinnerung und Erfahrung und der formalen Gestaltung vermittelt“. In „Viking Dublin“ und „Bone Dreams“ ist das in unnachahmlicher Originalität realisiert. Die Sage vom Helden Gunnar, der hinterhältig gefangen und gefesselt in einen Schlangenhof geworfen wird, wo er mit den Füßen eine Harfe spielte und darob alle Schlangen einschliefen bis auf eine, die ihn tötete, korreliert mit dem aktuellen Alltag sinnlosen Terrors und bekenntnishafter Trauerzüge.
Es folgen die fünf Gedichte, welche die im dänischen Moor ausgegrabenen mumifizierten Körper beschreiben, ergänzt durch das strukturelle und inhaltliche Gegenstück zu „Bone Dreams“, das erneut sechsteilige „Kinship“, in dem die „Verwandtschaft“ von schaffendem Autor und erschlossenem Gegenstand selbst zum Gegenstand, wird. Daß die archaischen Blutopfer die Gewaltsamkeiten des irischen Bürgerkriegs bezeugen, verdeutlicht sich sowohl, über den Gesamteindruck der Gedichtfolge als auch an Details. Die zweifach erwähnten geschorenen Köpfe von Mädchen zum Beispiel verurteilen die Praxis der militanten IRA, katholische Mädchen zu scheren, zu teeren und zu federn, die mit englischen Soldaten gingen oder Geheimnisse verrieten. Die auffällige Verbindung von sexueller Symbolik mit der geistigen Aneignung der Moormumien in „Strange Fruit“ äußert sie sich sogar mittels der Verwendung des vornehmsten Liebesgedichts, des Sonetts – kann wohl kaum als makaber, eher schon als beabsichtigt schockierend aufgefaßt werden. Noch stärker aber belegen sie die starke Verinnerlichung, die jene merkwürdigen und doch so verallgemeinernd aussagestarken Funde im Autor erhalten haben, die emotionale Annäherung, die letztlich absolute Vergegenwärtigung und künstlerisch sinnliche Faßbarkeit. Die passive Betrachtung schlägt in aktive „Eroberung“ um, was einerseits ein bildlicher Vorgang nachgerade körperlicher Berührung und sexueller Liebeshandlung und andererseits ein geistig-produktiver Prozeß der Umwandlung des Gegenstandes in ideologische und politische Artikulation ist.
Die dritte Gruppe aus vier Gedichten behandelt die historische Underdrückung Irlands. Die durchgängige Allegorik sexueller Beziehung, in erster Linie unter dem Aspekt männlicher Dominanz vergegenständlicht die gedankliche Aussage. In „Act of Union“ ist allein schon die erneute Benutzung der Sonettform, um die permanente Vergewaltigung Irlands zu beschreiben, ein sarkastischer und anklagender Kommentar. Militärische und sexuelle Brutalität überblenden sich in „Ocean’s Love to Ireland“. In Smerwick im Südwesten Irlands hatten papistische Spanier 1579 ein Fort errichtet, das im folgenden Jahr unter grausamen Massakern von den Engländern zerstört wurde. Möglicherweise war Walter Ralegh, der Günstling von Königin Elizabeth (Cynthia), an der Aktion beteiligt. Eines von dessen Liebesabenteuern hat der Schriftsteller und Sammler John Aubrey (1626-1697) so beschrieben: „Einmal, als er eine der Ehrenjungfrauen an einem Baum im Wald nahm, die sich zunächst weigerte, weil sie besorgt um ihre Ehre war, rief diese sittsam, Lieber Sir Walter, was verlangt ihr von mir, wollt ihr mich ruinieren? Nein; lieber Sir Walter! Sweet Sir Walter! Sir Walter! Schließlich, als Gefahr und Vergnügen gleichzeitig wuchsen, rief sie in Ekstase, Swisser, Swatter, Swisser, Swatter.“ Diese Pose des Siegers ist freilich nicht die des Sprechers des Gedichts. Dessen Aufmerksamkeit gilt dem Opfer, Irland, das vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart („The Betrothal of Cavehill“) den Akten der Gewalt unterworfen ist.
Die biographischen Erfahrungen des Dichters im II. Teil werden von einem Gedicht eingeleitet, dessen Aussage unmittelbar an den Schluß von Teil I anknüpft. Der revolutionäre romantische Dichter Percy Bysshe Shelley (1792 bis 1822) hatte dem gesellschaftlichen Sendungsbewußtsein der Poeten in der Formulierung Ausdruck verliehen, daß sie die „unbestätigten Gesetzgeber der Welt“ seien. Die tatsächlichen Machtverhältnisse, so kehrt Heaney die Vorstellung ironisch zum Traum um, verurteilen ein solches Konzept zum Scheitern. Konkret sind die Betonmauern von Gefängnissen Machtmittel der Machtbesitzenden. Der Shelleysche (und auch Schillersche) Aufklärungsglaube, daß Kunst den Widerspruch zwischen sittlichem Anspruch und der rohen Realität versöhnen könne, ist ausgeschlossen. Nichtsdestoweniger bestehen die Gedichte darauf, daß sich Individuelles und Politisches notwendigerweise verquicken, daß also der bloße Rückzug aufs Private keine menschliche Lösung bereithält. Aber um so schwieriger wird die Position des Dichters, dessen Aktions- und Funktionsspielraum ständig befragt und diskutiert wird. Fest steht, daß Kunst an sich die gesellschaftlich notwendigen Wandlungen nicht herbeiführen kann. Die antithetische Negation verleiht aber der Botschaft aller Gedichte die Tragfähigkeit, daß solcherart Wandel politisch zu organisieren ist. Diese Einsicht zu fördern wäre dann aber wiederum eine legitime Funktion der Dichtung.
Die lyrischen Texte Heaneys erregen durch die hohe Virtuosität ihrer Einfälle und durch ihre poetische Diktion. In vorsätzlichem Gegensatz zur Gebundenheit von Reim und Rhythmus einer rhetorischen Kunst, die auf bürgerlichem ideologischem Einverständnis beruhte, verwendet er in Weiterführung seiner literarischen Vorbilder originelle Formen, die mit den inhaltlichen Absichten im Verhältnis des unmittelbaren Umschlagens ineinander stehen. Die Kunstform ist Mittel ideeller Emanzipation in einer Zeit der Krise bürgerlicher Weltanschauung und des imperialistischen britischen Kolonialsystems als Ganzes.
Im Rahmen der stets Bedeutung tragenden Strophen- und Versstruktur kommt den Alliterationen, Assonanzen, Binnenreimen, Endreimen, dem Verhältnis von Lauten zueinander, Wortwiederholungen und Paronomasie (Wiederholung lautähnlicher, doch semantisch völlig verschiedener Wörter) eine gewichtige Rolle im poetischen Textkomplex zu. Die größte unmittelbare Wirkung geht allerdings von der ungewöhnlich kompakten, kühnen und präzisen Bildsprache Heaneys aus, mit der er zusammen mit Ted Hughes der englischen Dichtung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine neue Dimension eröffnet hat. Das Spezifische liegt in der als präziser Beobachtung hervorgehenden synekdochischen (Teil für Ganzes oder umgekehrt) und metonymischen (Attribut einer Sache für die Sache) Einsetzung von Details sowie in einer aggressiven Metaphorik. Typisch ist dabei die enge Spanne zwischen Bild und Gegenstand, zu der sich das Tertium comparationis zumeist leicht herstellt, bei gleichzeitiger, oft extrem weiter Diskrepanz der üblichen Wortsemantik (My body was braille / for the creeping influences; Gunfire barks its questions off Cavehill). Die logisch nahe Kombinatorik dissonanter Bedeutungsebenen schafft eine originelle, nachgerade visionäre Bildhaftigkeit, die eindringliche emotionale Reaktionen provoziert. Diese verlaufen allerdings nicht im Sinne einer empfindungslyrischen Einfühlung des Lesers in die Autorenhaltung oder in gedichtgegebene Stimmungen. Heaney erzeugt eine kristallklare Dinglichkeit, die erst Impulse und Erkenntnis beim Leser auslösen will und somit querläuft gegen eine Verskunst die bereits vorgefaßte Ideologeme bebildert. Die verstörenden Metaphern und Vergleiche zerstören jede Innigkeit. Die unkonventionelle Rauheit der Sprache und der Lakonismus der durch die Kurzzeilen und Strophensprünge bekräftigt wird, verstärken den Zwang zur rationalen Durchdringung des poetischen Angebots. Die häufige Verkettung von Metaphern zu Metaphernbündeln, die Bildung von Topikketten (z.B. I am Hamlet…; „Viking Dublin“) und die bei Heaney besonders augenfällige Mehrdeutigkeit von Wörtern, wodurch oftmals semantische Reibungen und Gegenläufigkeiten innerhalb eines Lexems erzeugt werden, binden die weitgreifende Komplexität des Sinns der literarischen Werke an die Intensität ihres Ausdrucks.
Der Bedeutungsreichtum der Metaphorik wird begleitet von einer Wortwahl, die sich auf zahlreiche unalltägliche Begriffe keltischen, normannischen und lateinischen Ursprungs sowie Neubildungen von quasi-archaischen Substantivkomposita (love-den, blood-holt, dream-bower, oak-bone…) stützt. Heaney realisiert damit sein poetisches und ideologisches Programm, seine englischsprachigen und den Reichtum des Englischen als Sprache nutzenden Gedichte aus der typisch englischen Kultur auszugrenzen. Form wird wiederum zum Aspekt politischer Wirkung. Zugleich verinhaltlichen die Gestaltungsmittel in ihrer Gesamtheit die gedanklichen Hauptlinien der suchenden Erforschung der Lehren der Geschichte, der aktuell unlösbaren gesellschaftlichen und politischen Konfrontationen, der ambivalenten Situation des Dichters. Das dichterische Gebilde versteht sich als eigenständige Realität, die ihren spezifischen Platz im sozialen Umfeld behauptet und in einer nur ihr zukommenden Weise ästhetisch und damit auch ideologisch wirkt. Gerade um Rang und Möglichkeiten, der Kunst geht es Heaney immer wieder. Als Produzent schwankt er legitim zwischen Zweifel und Missionarismus; vom Leser aber fordert er die Einsicht in die Besonderheiten von Kunstwerk und Kunstschaffen und nicht die falsche Erwartung der konkreten sozialen Einsatzwaffe. Das von den irischen Bedingungen ausgelöste Ringen um die Äquivalenz von Politik und Literatur trifft einen Nerv modernen Kunstmachens überhaupt: Wie ist ein größeres als ein elitäres Publikum zu erreichen, und wie stellt sich ein werktätiges Volk auf die Botschaften gedankentiefer Kunst ein?
Ständig bieten Heaneys Gedichte den Vorgang oder die Ergebnisse von Gewaltanwendung und Brutalität an. Das Grausame wird aber nicht, wie etwa bei Ted Hughes, bildhaft abstrakt, sondern stets auf politische und gesellschaftliche Tatbestände hin konkretisiert erfaßt. Es meint in erster Linie die vergangenheitliche und gegenwärtige Unterdrückung von Menschen, die Eroberung von Territorien, die Ausbeutung im System von ökonomischen und gesetzgeberischen Maßnahmen sowie die Kolonialherrschaft von England über Irland. Gesellschaft, Politik und Dichtung rücken gerade über dieses Thema der Gewalt in ihr für den Dichter zentrales, prekäres, jedoch nicht falsch voneinander abweichendes Verhältnis. Abstrakte Glücksverheißungen haben angesichts der Bedrohung, der Menschen und der Menschheit keine alternative Tragfähigkeit mehr, verflüchtigen sich vielmehr zu Ideologemen, die mit reaktionärem Politikergeschwätz austauschbar sind. Heaney leitet deshalb aus dem Nachdenken über sich selbst die Konsequenzen ab:

Auf der einen Seite ist Dichtung etwas Intimes und Natürliches, auf der anderen Seite muß, sie sich in einer Welt behaupten, die öffentlich und brutal ist. Hier lassen tatsächlich Explosionen die Fensterscheiben Tag und Nacht klirren, Existenzen werden höflich und grausam ruiniert, unschuldige Männer sind im Namen des Gesetzes in Internierungslagern geschlagen und erniedrigt worden, zerstörerische Elemente aller Art, die vielleicht sogar für höchst erregend empfunden werden, sind in der Luft. In einem Augenblick ist man zu dem alten Wirbel von rassischen und religiösen Instinkten hingezogen, im nächsten sucht man das Wesen von menschlicher Liebe und Vernunft. Aber ist man mit seinem raison d’être nicht mit den Zeichen auf dem Papier verwoben? Wie Patrick Kavanagh sagte, ein Mensch hantiert mit Versen und merkt plötzlich, daß sie sein Leben sind. Man muß seiner eigenen Sensibilität treu sein, denn das Betrügen der Gefühle, ist eine Sünde gegen die schöpferische Phantasie. Dichtung entspringt aus dem Streit mit uns selbst, der Streit mit anderen ist Rhetorik. Es würde den Rhythmus meines Schaffensprozesses unterbrechen, wenn ich begänne die gegenwärtigen Ereignisse mit mehr Willen als Wegen, mit ihnen fertig zu werden, herausfordern würde…

Dieses Bekenntnis zur künstlerischen Einheit von Sinnlichkeit und Sinn ist auf strikte Gesellschaftlichkeit der Dichtung aus. Alle Gedichte Heaneys drängen auf die Standpunktbildung des einzelnen, die individuelle Klärungen zu den Problemen der Zeit voraussetzt und neu veranlaßt. Er selbst nennt sich über den Sprecher des letzten Gedichts beziehungsreich „an inner émigré“ und „a wood-kerne“. Das waren im mittelalterlichen Irland leichtbewaffnete Fußsoldaten, die gegen die Kolonialisierung ihres Landes kämpften; es ist zudem – im typisch Heaneyschen doppelsinnigen Wortgebrauch – ein Buchstabe, der zum Teil über seinen schriftsetzerischen Rahmen hinausragt.

Wolfgang Wicht, Nachwort, August 1985

 

In den hier versammelten Versen

sind alle Motive versammelt, die Heaneys Werk kennzeichnen und berühmt gemacht haben: die absurde politische Lage Irlands, der Gegensatz von künstlerischem und politischem Engagement und der Gegensatz von irischer und englischer Tradition. Kein zeitgenössischer Dichter hat diese Verflechtung so anschaulich gemacht wie Seamus Heaney.

Carl Hanser Verlag, Ankündigung, 1996

 

Seamus Heaney kongenial?

In den letzten vier Jahren sind in Deutschland zwei Gedichtbände von Seamus Heaney erschienen, und zwar einer 1984 in der Bundesrepublik (übertragen von Henriette Beese), der andere 1987 in der DDR (übertragen von Richard Pietraß).
Seamus Heaney in französischer oder spanischer Übersetzung ist kaum vorstellbar: Die Klänge der romanischen Sprachen, müßte man meinen, wären zu wohllautend und geschmeidig für seine lapidare und herbe Ausdrucksweise. Dagegen ist die deutsche Sprache im gewissen Sinne dazu prädestiniert, denn es ist der vorromanische, angelsächsische – also germanische – Urgrund der englischen Sprache, auf den das lyrische Vokabular Heaneys ständig zurückgreift.
Wenn er im Gedicht „Bone dreams“ darüber frohlockt, das uralte Kompositum „ban-hus“ für „charnel house“ aufgedeckt zu haben, ist das im konservativen Neuhochdeutsch gleich wiederzugeben als „Beinhaus“ – das Deutsche kann auf sprachgeschichtliche Ausgrabung verzichten, weil in ihm die Archaismen noch fortleben. Wie könnte man etwa Heaneys Vers „Quagmire, swampland, morass“ besser reproduzieren als mit dem noch bündigeren „Matsch, Sumpf, Morast“ oder die Anfangszeilen des Gedichts „Anahorish“ genauer als mit Henriette Beeses Übertragung:

Mein „Ort des klaren Wassers“,
der erste Hügel auf der Welt
wo Quellen sich spülten
ins schimmernde Gras

und gedunkelte Kiesel
im Bett der Schneise.

Ich glaube, Heaney wäre selbst stolz darauf.
Es ist aber der deutschen Sprache nicht immer gegeben, der einmaligen Gedrungenheit der Heaneyschen Vokabeln treu zu bleiben, da modernes Englisch den schwerfälligen Flexionsapparat abgeworfen hat, der sich noch im Deutschen geltend macht. Beese ist sich dieses Problems sehr wohl bewußt. Gerade noch gelingt ihr die klangmalerische Übersetzung von Heaneys „the pat and slap of small spades on wet lumps“, dem „Klatschen und Schlagen der Spatel auf feuchten Klumpen“ – aber meist hat die deutsche Zeile die fatale Neigung, weit über den Rand der Buchseite hinauszuragen. So wird aus 10 Silben die doppelte Anzahl: „for churning-day, when the hooped churn was scoured“ – „für den Tag des Butterns, wenn man das reifenbeschlagene Butterfaß scheuerte.“
In dieser Hinsicht sind die Versuche von Pietraß manchmal geglückter:

And here is love
like a tinsmith’s scoop
sunk past its gleam
in the meal-bin.

(Heaney)

Und hier ist Liebe
wie der Löffel des Zinngießers,
über den eignen Schimmer hinaus versunken
im Mehlkasten.

(Beese)

Und Liebe –
wie eine Zinnschippe,
die aufschimmerte
und im Mehltrog versank.

(Pietraß).

Und noch ein Beispiel: „They unswaddled the wet fern of her hair“ (Heaney) – „Sie haben die Binden vom feuchten Farn ihres Haares genommen“ (Beese) – „Man löste sanft den nassen Farn des Haars“ (Pietraß).
Der Preis für Pietraß’ Verknappung sind die abenteuerlichen Freiheiten im Übersetzen, die er sich gelegentlich herausnimmt, um Rhythmus und Klang beizubehalten, wie z.B. „schwitzend, schwätzend“ für „dithering, blathering“, (Warum nicht „schwankend, schwätzend“?) Beeses Fassung gebärdet sich dem Original gegenüber respektvoller und eignet sich wohl am besten für Leser, die mit hinreichenden Englischkenntnissen ausgerüstet sind, um die deutsche Fassung als Verweistext mitlesen zu können.
Beide Übersetzer haben sich mit ihren Paralleltexten auf gefährliches Terrain begeben, indem sie vor einer Leserschaft aufgetreten sind, die mit Besserwisserei nicht gerade zimperlich ist, aber ich finde, daß die Autoren, bis auf ein paar vereinzelte Fehlübersetzungen in beiden Fällen, gewissenhaft recherchiert und durchweg einwandfrei – stellenweise sogar optimal – übersetzt haben. Ich denke zum Beispiel an das schon erwähnte „Anahorish“ von Beese, an ihre Fassung des ersten Gedichts im Zyklus „Viking Dublin“ oder an Pietraß’ reimende Wiedergabe des schon im Englischen diffizilen „Whatever You Say Say Nothing III“. Pietraß’ Übersetzungen werden noch dazu von einem fachmännischen und recht informativen Nachwort des Potsdamer Anglisten Wolfgang Wicht begleitet.

Eoin Bourke, die horen, Heft 151, 3. Quartal 1988

Der gründliche Dichter

Seit einigen Jahren gibt es eine neue Generation in der Weltliga der Dichter, deren Profil durch die Nobelpreise an Joseph Brodsky, Derek Walcott und zuletzt Seamus Heaney (1995) deutlich wurde. Es sind sprachmächtige und gelehrte Dichter, gebildete Rhapsoden, die sich in aufsehenerregenden Vorlesungen und Essays einen internationalen Kanon der Tradition geschaffen haben, zu dem Rilke und Auden, Frost und Mandelstam und etliche andere gehören, die man in der Zeit, als hierzulande Brecht und William Carlos Williams zitiert wurden, für nicht so unanfechtbar oben hielt. Der Adel der Dichtung, um Wallace Stevens’ Wort aufzugreifen, zählt wieder; und dazu hat gewiß beigetragen, daß diese Dichtung, im Falle der Nobelpreisträger aus Rußland, der Karibik und Irland stammend, weitgehend auf Englisch geschrieben, aber dann in fast alle großen Kultursprachen übersetzt wurde.
In seinem Essay „Der Einfluß der Übersetzung“ weist Heaney darauf hin, wie sehr wir uns heute von Gedichtübersetzungen beeinflussen lassen. Das klingt für gewöhnliche Fernsehzuschauer befremdlich und übertrieben, aber leuchtet ein, wenn man etwa an die Wirkung der Dissidenten-Poesie, zumal der russischen Dissidenten wie Joseph Brodsky, denkt. Ihre Sicht der Welt mit der kompromißlosen Ablehnung des Sozialismus wurde zur herrschenden in der internationalen Öffentlichkeit. Der Dichter nämlich schafft aus seinen Erfahrungen eine persona, so erklärt Heaney, und das Sprechen dieser persona von ihrem, dann auch poetologischen, Weg bindet die Gedichte und fesselt, gerade wenn wir nicht über die Erfahrung dieses Weges verfügen, unsere Aufmerksamkeit, weil wir eine Fehlerkorrektur, eine Bereicherung unserer Wahrnehmung, aber auch unseres modernen, das heißt: auf Innovationen gerichteten, Dichtungsverständnisses erhoffen.
Es ist kein Zufall, daß ausgerechnet der 1939 geborene Nordire Seamus Heaney diesen Aspekt heutiger Weltkultur hervorhebt. Denn für ihn, den katholischen Iren, der in einer Zeit der Aufregung und des Terrors Englisch, wenn freilich auch in der Tradition großer Iren, schreibt, hat sich als dringlichste Aufgabe gestellt, die persona zu schaffen, durch die hindurch seine Gedichte stimmen und klingen können. Nicht Verräter am irischen Unabhängigkeitsstreben, aber auch nicht fanatischer irischer Barde sollte die sein, sondern ein englisch schreibender irischer Dichter unserer Zeit, der sich selbst bestimmt. Der Gedichtband Norden von 1975 nun, Heaneys vierter, bei Faber&Faber in London erschienen, konstituiert in besonderem Maße die persona Heaneys für seine Gedichte; und insofern tat der Hanser Verlag gut daran, die vollständige zweisprachige Ausgabe zusammen mit einer Auswahl der Oxford Lectures zu veröffentlichen. (Heaney war 1989 bis 1994 Professor für Poesie in Oxford und hatte pro Jahr drei Vorträge zu halten; zehn Vorträge sind in dieser Ausgabe enthalten.) Freilich, mitunter klingt die Übersetzung der Gedichte von Richard Pietraß, die dieser zuerst 1986 für eine DDR-Ausgabe unternahm, wie mit deutscher Dichter-Schnute gesprochen, und einige Schief- und Outriertheiten hätten jetzt gut gegen einen kleinen Anmerkungsapparat ausgetauscht werden können.
Das zweite Widmungsgedicht des Bandes, „Die Saatschneider“, beginnt mit den Versen:

Sie scheinen aus fremden Jahrhunderten. Breughel,
Du kennst sie, wenn ich sie lebendig beschreibe.
Im Halbkreis sitzen sie, im Winkel der Hecke,
Doch rückt ihnen der widrige Wind zuleibe.
Sie sind die Saatschneider. Falten und Rüschen
Tragen die Keime der Saatkartoffeln,
Die unterm Stroh begraben liegen.

Die ruhige, sich einlassende Gebärde; das unabgenutzte Vokabular, der unerwartete Sprachfluß, die Anrede an den für seine lustvollen, detailgenauen Landschaftstableaus und Weltgenreszenen bekannten Maler: das ist, neben dem ersten Widmungsgedicht für Mary Heaney, das die familiäre Landszene, das Backen zu Hause, erinnert, programmatisch. Zwischen persönlicher (Land-) Erfahrung und der liebevoll und sorgfältig ausgemalten Weltgenreszene wird die persona situiert, nicht als hilflos heutige, sondern als Mensch mit Wissen und Wurzeln. „Und du, Tacitus, sieh“, heißt es etwa, um die Perspektive der Bildung zu bewahren, die den Konflikt in Mythen und Zeiten der Geschichte einbezieht und so um die „Frieden genannte Erschöpfung“ weiß und das Graben („Digging“) in den Schichten der Vergangenheit, die poetische Archäologie, zur Grundlage der Dichtungen macht. Und der vornehmliche Ort des Grabens, die Heimat der Bilder, Mythen und Erfahrungen, ist die nördliche Moorlandschaft. In ausführlichen Katalogen, beharrlich und immer zwingender für den Leser, wird diese Welt in Geschichte und Gegenwart, als mythische (Heaney sieht sich, den Iren, als Antäus, der aus der Verbindung mit der Erde seine Stärke gewinnt, den Engländer als den überall seine Heldenstücke vorführenden Herkules) und persönliche Erfahrung vorgestellt – ohne daß er sich von der „formalen Zitadelle“ des Gedichts entfernt. Die Bindung an Metrum und Rhythmus, in Strophen und gelegentlich Reim hält die Verse streng und markant. Immer sind sie als Struktur und Gesang gegenwärtig.
Das gelingt, weil Heaney ein Meister im Eröffnen des Dichtungsraums und ein Meister der Formeln ist. „Ich sah“, „Ich bin Hamlet“, „Man findet“, „Sagt mir“: Die Initiationen (entscheidend – wie weiß, wer schreibt), die durch Annoncen, Adressen, Identifikationen, Sammelgebärden den Horizont für die großen Kataloge des Sinnlichen und des Wissens öffnen, sind erfindungsreich und zeitgenössisch. So kann man Belege sammeln, so kann die Verwandlung gelingen. Zumal wenn diese Sammelgebärden immer wieder in dichterische Formeln von großer Bündigkeit münden wie (ich zitiere hier einmal das Original:) „perfected in my memory“, „in the scales / with beauty and atrocity“, „I am the artful voyeur“.
Auch die Meta-Formeln, die sich auf das Dichten selbst beziehen wie „Leg dich / in den Wortschatz, erforsche“ und damit das bewußte Einblenden der in der Moderne unerläßlichen Reflexionsebene, können so beiläufig mitgesprochen werden, als seien sie Teile der großen poetischen Geschichtslandschaft.
Es kann nicht verwundern, daß der Dichter als Historiker noch in den Metaphern der Liebesgedichte triumphiert und der persona zu grandiosen Formeln verhilft, in denen das Persönliche wie das Politische, die irische Wunde, weise resümiert ist:

Heute abend, die erste Regung, ein Puls,
Als sei der Regen im Moorland gereift
Zu gleitender Flut: zum Moorbruch,
Zur Wunde, die übers Farnbett greift.
Dein Rücken gleicht der östlichen Küste,

(im Original: „Your back is a firm line of eastern coast“)

Arme und Beine liegen geschlossen
Unter deinen gestuften Hügeln. Ich küsse
Die schwellende Gegend, der wir entsprossen

(„I caress / The heaving province where our past has grown.“)

Ich bin das Großreich

(„tall kingdom“)

über deiner Schulter,
Von dir nicht umschmeichelt, nicht verkannt.
Eroberung ist Lüge

(„Conquest is a lie.“).

Die Vorlesungen gehen von frühen Vorlieben Heaneys aus, um von dort auf das Grundsätzliche der Dichtung zu sprechen zu kommen. Über Marlowe, Wilde, Dylan Thomas, Larkin, Elizabeth Bishop, über, in jedem Sinn, Grenzen der Dichtung handeln diese Vorlesungen im Kern; und sie handeln über das Zentrum der Dichtung: „Die Richtigstellung der Poesie“ (so, und nicht vage Die Verteidigung der Poesie hätte der Band heißen müssen). Worum Theorien engagierter und reiner Poesie seit langem streiten, das hat Heaney überzeugend aufgelöst: Die Dichtung, indem sie ihre eigene Welt schafft, liefert immer auch eine Version der Wirklichkeit mit, die diese durch ihre Abweichungen richtigstellt. Das heißt, sie gewöhnt den Leser an ihre Maßstäbe und macht ihn damit souveräner gegenüber der Wirklichkeit. Das aber gelingt ihr aufgrund ihrer Technik (der zweite zentrale Begriff, den Heaney in den Vorlesungen immer wieder bedenkt). Technik ist mehr als handwerkliches Können; es ist auch poetologisches Vorwissen, wie aus etwas ein Gedicht werden kann, und gleichsam die Emanation der persona der Gedichte: die aus den Gedichten die eigene, authentische Art von Gedichten werden läßt. Die dann, und sei es als Übersetzungen, in die Weltkultur hineinwirken.

Hugo Dittberner, Frankfurter Rundschau, 2.10.1996

Seamus Heaney. Poesie als Feldarbeit

Graben
„Omphalos, omphalos“ – diesen Laut hört ein frühes Gedicht aus dem Geräusch heraus, das die Pumpe im Hof der Farm im nordirischen Mossbawn machte, wo Seamus Heaney 1939, im Todesjahr von William Butler Yeats, geboren wurde. Omphalos, ein ovaler Marmorblock im delphischen Heiligtum, galt im Altertum als Nabel der Welt. Jeder Dichter hat sein Delphi, seinen Omphalos. Das Delphi Seamus Heaneys heißt Mossbawn.
Das Wort ist ein erster Schlüssel zum Verständnis seiner Lyrik. Es fügt zwei disparate Elemente zusammen: das englische Wort für Moos (moss) und das gälische für weiß (bán). In den Silben seines Heimatorts erkennt der Dichter eine Metapher für die gespaltene Kultur von Ulster, für das Syndrom des religiösen und politischen Konflikts. Das aus zwei heterogenen Elementen komponierte Wort verweist aber auch auf die poetische Synthese, auf den Versuch, jenes sprachliche und kulturelle Trauma zu heilen, das Irland durch die englische Kolonialisierung zugefügt wurde.
Der junge Heaney, das älteste von neun Kindern eines Bauern und Viehhändlers, besucht die Grundschule in Anahorish, in der – ungewöhnlich für Nordirland – katholische wie protestantische Kinder miteinander unterrichtet wurden. Der Education Act von 1947 ermöglichte es Kindern aus kleinbäuerlichen oder proletarischen Verhältnissen höhere Schulen zu besuchen. Nach seiner Internatszeit studierte Heaney an der Queen’s University in Belfast Anglistik und ließ, unter dem sprechenden Pseudonym „Incertus“, in Studentenzeitungen seine ersten Gedichte erscheinen. Noch dachte er an den Lehrerberuf. Beim Schreiben seiner Diplomarbeit über literarische Magazine in Nordirland entdeckte er seine „Irishnes“, erschloß sich ihm die Fülle der heimischen Lyrik, lernte er Dichter kennen, „die mehr harmonisierten mit den wirklichen Stimmen meiner ersten eigenen Welt, als die Ironien und die Eleganz von MacNeice oder Eliot das je hätten tun können“.
Die Schule hält den jungen Dichter nur kurz. Seine ersten Veröffentlichungen führen Heaney zu Philip Hobsbaum, der im London der fünfziger Jahre The Group initiiert hatte, mit Lesungen und Diskussionen junger Lyriker. Etwas Ähnliches entsteht nun in Belfast, in Hobsbaums Wohnung, und wird später von Heaney fortgeführt, unter Beteiligung von Derek Mahon, Michael Longley, Stewart Parker und James Simmons. 1966 erscheint bei Faber & Faber Death of a Naturalist (Tod eines Naturforschers), der erste große Gedichtband, der Heaney gleich drei Preise einträgt.
Im selben Jahr wird Heaney Hobsbaums Nachfolger als Englischdozent an der Queen’s University und beginnt nebenher als Kritiker und Publizist zu arbeiten. Nach einem akademischen Jahr in Berkeley kehrt Heaney 1971 nach Nordirland zurück, wo sich die politische Situation so zugespitzt hat, daß der Dichter sich zu einem Schritt entschließt, der ihm von manchen Leuten verübelt wurde: Er verläßt Ulster und übersiedelt in die Republik Irland, nach Glanmore, County Wicklow, eine Frage des Überlebens als Dichter. In einem Gedicht aus dem Zyklus „Schule des Gesangs“ heißt es:

Ich bin weder Gefangener noch Spitzel;
Ein innerer Emigrant, langhaarig
Und gedankenvoll; ein hölzerner Bauernlümmel,

Der dem Massaker entkam,
Tarnfarbe annimmt
Von Baum und Borke
Und jeden Windhauch spürt
(…)

Heaney, der Intransigenz und Gewalt verabscheut und sich deshalb der prononcierten Parteinahme entzog, wurde nun als „Drückeberger“ und „Seiltänzer“ beschimpft und mußte sich in „The Honest Ulsterman“ als „Hofdichter der Gewalt“ bezeichnen lassen, als „Mythenboßler“ und „Anthropologe des Ritualmords“. Der letztgenannte Vorwurf bezog sich auf Gedichte, die ihre Inspiration der Lektüre von Peter Vilhelm Globs Buch über die Bog People (1965) verdankten, über die rituellen Sühnetötungen im eisenzeitlichen Jütland. Heaney hatte zudem die vom Moor (bog) konservierten Leichen im Museum von Aarhus gesehen.
Ungeschmälert durch die politischen Angriffe wächst seitdem Heaneys Reputation. In Harvard und Boston hält der Dichter Poetry Workshops, 1982 wird er Ehrendoktor von Queen’s, 1986 hält er in Kent die T.S. Eliot Memorial Lectures, seit 1989 ist er Poeta laureatus in Oxford, 1994 – um auch eine deutsche Ehrung zu nennen – erhält er den Bienek-Lyrikpreis, 1995 den Literatur-Nobelpreis. Da fällt es fast schwer, auf Heaneys Anfänge zurückzukommen; auf den jungen katholischen Iren, der Mitte der sechziger Jahre seine ersten gültigen Verse veröffentlicht, als Antwort auf Herkunft und Tradition.
Heaneys Poesie beginnt als ein Akt einer Landnahme. Seine lastenden, aber auch befreienden Vorbilder sind Landsleute: Yeats und Joyce. Jahre braucht es, ehe Heaney sich dem übermächtigen Einfluß von Yeats entziehen kann. Im Rückblick fragt ein Essay im Titel „Yeats – ein Beispiel?“ In genauer Abwägung heißt es:

Was Yeats dem praktizierenden Schriftsteller bietet, ist Beispielhaftigkeit an Plackerei, an Beharrlichkeit. Er ist das wahrhaft ideale Beispiel eines Dichters, der sich den mittleren Jahren nähert. Er erinnert einen daran, daß man sich der Überprüfung und der Plackerei zu unterwerfen haben kann, wenn man die Befriedigung der Vollendung sucht; er verstört einen mit der Anregung, daß man, sobald man es geschafft hat, auf bestimmte eigene Weise eine Art von Gedicht zu schreiben, man sich von ebendieser Weise zu verabschieden und sich einem anderen Bereich der eigenen Erfahrung zuwenden sollte, bis man gelernt hat, mit einer neuen Stimme diesen Bereich angemessen in Sprache zu fassen.

Eher ermutigend ist das Vorbild James Joyce. Im Zyklus Station Island (1984) läßt der Dichter den Kollegen auftreten und sagen:

Wen kümmert’s noch? Die englische Sprache gehört uns.

Und:

Du hast lange genug zugehört. Jetzt schlag deinen eigenen Ton an.

Dennoch – oder auch konsequent – hat Heaney sich noch Anfang der achtziger Jahren geweigert, in einer Anthologie britischer Lyrik zu figurieren.
Als Heaney sich derart von Joyce ermutigen ließ, verfügte er bereits über ein eigenes Idiom, ein eigenes Thema. Auf seine Weise setzte der Dichter die Arbeit seiner bäuerlichen Vorfahren fort. Auch er treibt Field Work – Feldarbeit und Feldforschung zugleich. „Digging“ (Vom Graben) heißt ein zentrales Gedicht in dem schon erwähnten Band Death of a Naturalist von 1966; und Heaney hat es allen Auswahlbänden seiner Lyrik vorangestellt. Es beginnt knapp und prägnant:

Between my finger and my thumb
The squat pen rests; snug as a gun.

Man muß es ganz zitieren, um seine ungemeine Kraft und Konkretheit zu demonstrieren. Ich wähle die deutsche Fassung von Giovanni Bandini und Ditte König:

An Daumen und Finger schmiegt sich sehr
Stämmig die Feder; fest wie ein Gewehr.

Ein sauberes Scharren klingt zu mir herein.
Ein Spaten dringt in den kiesigen Boden ein:
Mein Vater, beim Graben. Ich guck, bis sein

Angespannter Rumpf zwischen den Blumenbeeten
Sich beugt, sich wieder hebt vor zwanzig Jahren:
Sein Auf und Ab in den Kartoffelfurchen,
Wo er damals grub.

Der grobe Stiefel trat das Blatt, der Stiel,
Innen ans Knie geschmiegt, hebelte wuchtig.
Er stemmte hohes Kraut um, rammte den blanken Stahl
Und legte neue Knollen bloß. Wir lasen sie,
Liebten die kühle Härte in unseren Händen.

Bei Gott, der Alte wußte den Spaten zu führen.
Genau wie sein Alter.

Großvater stach mehr Torf an einem Tag
Als irgend jemand sonst in Toners Moor.
Einmal brachte ich ihm eine Flasche Milch,
Nur mit Papier verpfropft. Er reckte sich,

Trank aus, und dann legte er sofort wieder los,
Hob sauber zugeschnittene Soden ab, warf sie
Über die Schulter, bohrte sich tief und tiefer,
Bis hin zum guten Torf. Er grub.

Der kalte Duft von Humus, der Quaatsch und Schmatz
Durchweichten Torfs, das Hacken einer Schneide
In Wurzelfleisch werden in mir wach.
Doch um ein Mann wie sie zu sein, fehlt mir der Spaten.

An Daumen und Finger schmiegt sich sehr
Stämmig die Feder.
Mit ihr werde ich graben.

Das Gedicht hatte für den jungen Poeten die Kraft einer Initiation:

Dies war das erste Mal, daß ich glaubte, mehr getan zu haben, als nur Wörter auf dem Papier zu arrangieren: ich hatte das Gefühl, einen Schacht in das wirkliche Leben eingelassen zu haben. Die Fakten und Oberflächen dieses Dinges waren wahr; wichtiger jedoch war, daß die Erregung, die durch ihre Nennung ausgelöst wurde, mir eine Art Unbekümmertheit und Vertrauen gab.

Allzu selbstkritisch meinte der Autor, das Gedicht enthalte einige Zeilen, die mehr „von der Theatralik eines Revolverhelden als von der Selbstversunkenheit eines Ausgräbers“ hätten. Aber „Digging“ gab doch den entscheidenden Impuls zum Weiterschreiben:

Mit der Erfahrung der Erregung war ich dazu verurteilt, sie immer und immer wieder zu suchen.

Ministerium für Angst
So begann Heaneys Feder im planierten Sprachfeld zu graben und zu forschen. Sie förderte Verschüttetes zutage: eine arme katholische Kindheit und ein noch intaktes, aber schweres ländliches Dasein. Sie stieß aber auch auf ältere und älteste Schichten, auf Marsch und Moor als „Gedächtnis der Landschaft“.
„Bogland“ ist das Moor – Sumpf- und Geestland –, aber auch ein Synonym für Irland. „Wir haben keine Prärien“ – diese Zeile war der Auslöser für Heaney, dem amerikanischen einen irischen Mythos entgegenzusetzen, eben den des Moores. Moorland beginnt:

Wir haben keine Prärien,
Den Sonnenball abends zu hälften –
Überall fügt sich das Auge
Dem zudringlichen Horizont,

Verfällt dem Zyklopenblick
Eines Bergsees. Unser zaunloses Land
Ist Moor, das weiter verschorft
Zwischen den Blicken der Sonne.
(…)

Berichte über Moorleichenfunde in Nordeuropa und Fotos der im Torf konservierten Körper führten ihn auf die Archetypen der Vorgeschichte:

Die unvergeßlichen Photographien dieser Opfer verschmolzen in meinem Kopf mit Photographien der vergangenen und der gegenwärtigen Abscheulichkeiten in den Langzeitritualen irischer Politik- und Religionskämpfe.

Doch auch ohne Erläuterung begriffen jene Leser, die Heaney mehr abverlangten als die aktuellen politischen Stereotypen, was die strengen und befremdenden Gedichte über Moorleichen und die archaischen Opfer- und Bestrafungsriten mit den Gewaltakten im nordirischen Bürgerkrieg zu tun hatten. Das Gedicht „Bestrafung“, das die Moorleiche einer steinzeitlichen Ehebrecherin beschreibt, spricht für sich:

Ich kann den Ruck
des Stricks an ihrem Nacken
spüren, den Wind
an ihrer nackten Stirn.

Er bläst ihre Brustwarzen
zu Bernsteinperlen,
rüttelt am zarten Tauwerk
ihrer Rippen.

Ich seh den ertrunkenen
Körper im Moor,
den beschwerenden Stein,
die schwimmenden Ruten und Zweige.
(…)

Die Tote als Archetyp des Opfers erhält einen parabolischen Sinn. Sie verweist auf die Fortdauer von Gewalt in der Zivilisation; sie erhält aber auch, durch die eindringliche, fast erotische Präzision der Darstellung, einen Aspekt von Todeslust, ja Nekrophilie. Der Dichter ist sogar befähigt, den Standpunkt des strafenden Kollektivs einzunehmen:

Der ich stillschweigend duldete
voll zivilisierter Entrüstung
und sie dennoch verstand: die genaue,
innige Rache des Stamms.

Heaney ist der zeitgenössischen irischen Wirklichkeit, sofern sie poetisch-authentisch zu fassen war, nicht ausgewichen. So steht in seinen Bänden Ältestes wie Aktuellstes konturenscharf nebeneinander: etwa in seinem zentralen Gedichtband North (Norden) (1975) neben dem Bild der ermordeten Ehebrecherin die Schilderung des von Aggressivität bestimmten Rituals einer Straßenkontrolle, „The Ministry of Fear“ (Das Ministerium für Angst):

(…) Und wenn ich nach Hause fuhr, während die Freiheit
Des Sommers Abend für Abend schrumpfte, die Luft
Ganz Mondschein und Geruch nach Heu, schwangen Polizisten
Blutrote Scheinwerfer, umstanden das Auto
Wie schwarze Rinder, schnüffelten und hielten
Mir die Schnauze eines Revolvers vors Auge:
„Wie heißen Sie, Fahrer?“
aaaaaaaaaaaaaaaaaaa„Seamus…“
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa„Seamus?“

Einmal lasen sie bei einer Straßensperre meine Briefe
Und beleuchteten mit ihren Lampen deine Hieroglyphen,
Die „gewandten Formulierungen“ in verschnörkelter Schrift.

Ulster war britisch, hatte aber keine Rechte
Auf englische Lyrik: überall um uns her, obwohl
Wir es nicht benannten, das Ministerium für Angst.

Ü: Henriette Beese

So wie das Moor Gedächtnis der Landschaft ist, ist für Heaney Sprache das Gedächtnis des Volkes. Dazu scheint die Wahl des Englischen als Dichtungssprache im Widerspruch zu stehen. Heaney nahm sich sein „Recht auf englische Lyrik“. Er schreibt ein Englisch, das im eigenen nordirischen Dialekt Überreste des elisabethanischen Englisch bewahrt. Er liebt – wie der Anglist Horst Oppel gezeigt hat – Latinismen, streut antiquiertes oder nur im Dialekt erhaltenes Wortgut ein, das aufs Gälische zurückgeht; er erfindet, nach dem Vorbild der altenglischen Dichter, „verdunkelte“ Komposita oder stockt ehemalige Komposita, die inzwischen zu Monemen wurden, wieder zum poetischen „Compound“ auf. Man hat einige seiner Gedichte „languagepoems“ genannt, was Abstraktion und Reflexion befürchten lassen könnte. Aber die Gedichte, die Heaney auf Orte und Ortsnamen seiner heimatlichen Umwelt schrieb, sind reiner Klang – so in den Eingangsstrophen von „Anahorish“:

Mein „Ort klaren Wassers“,
der erste Berg auf der Welt,
wo Quellen ins blanke
Gras spülten und

Kopfsteine dunkelten
im Flußbett des Wegs.
Anahorish, sanftes Gefälle
von Mitlaut, Vokal-Wiese
(…)

Ort und Sprachlaut werden in der poetischen Evokation eins; ja, der Ort scheint, gleichsam ohne Zutun des Dichters, selbst zu sprechen, etwa in der von Henriette Beese übersetzten Folge „Gifts of Rain“ (Gaben des Regens):

Das lohfarbne, kehlige Wasser
buchstabiert sich: Moyola
ist sich selber Noten und Zusammenklang,

bettet die Örtlichkeit
in die Äußerung
(…)

Da seine „gutturale Muse“, wie sie Heaney gern nennt, selbst schon Widerstand bot gegen britischen Sprachimperialismus, konnte der Dichter auf ausdrückliche politische Stellungnahmen verzichten. Er tut es bis heute, da der „feste Knebel aus Raum und Zeit“, wie eins seiner Gedichte formuliert, sich gelockert hat. Es genügt ihm, suggestive Bilder und Symbole für die Situation zu finden, vor allem für den „Sex-Appeal der Gewalt“. Heaney entzog sich auch dem Versuch, ihn für die katholische Sache zu vereinnahmen. Seine Arbeit, genährt von den Stoffen seiner Herkunft, ist längst zum Beispiel dafür geworden, wie große welthaltige Poesie aus dem Besonderen und Lokalen erwächst.

Republik des Gewissens
Auf dieses Lokale bezieht sich auch Station Island, ein zwölfteiliges Gedicht, das nach einer vielbesuchten irischen Wallfahrtsinsel benannt ist. Dieses Poem „voller Stimmen, voller Menschen“ ist darüber hinaus so etwas wie eine (vorläufige) Bilanz von Heaneys Leben und Dichten. Man darf sagen: eine poetische Wallfahrt und Lebensbeichte. Heaney kehrt im Eingedenken an die Orte seiner Vergangenheit zurück. Wie in Dantes Divina Commedia erscheinen die Schatten toter Freunde, die Geister großer Menschen, um zu raten und zu helfen. Der Dichter beginnt, sich endlich von den Zwängen seiner Herkunft, den Lemuren seiner armen katholischen Kindheit zu befreien. Die wohl erhoffte Wiedergewinnung des Glaubens gelingt freilich nicht, doch Joyce bietet ihm am Schluß die Hand und entläßt ihn mit der Ermahnung, die Freude (joy) am Schreiben nicht zu vergessen. Das Gedicht, dessen vollständige Übersetzung noch aussteht, lebt vom Paradox: Das Scheitern der Selbsterlösung des Menschen rettet den Dichter.
Das irische Thema jedoch hält Heaney weiter fest. Das zeigt der Band The Haw Lantern (Die Hagebuttenlaterne) von 1987. Der karge Glanz der winterharten Hagebuttenfrucht wird zum Symbol der Poesie:

ein kleines Licht für kleine Leute
das nur von ihnen will, daß sie den Docht
der Selbstachtung am Leben halten.

Heaney weiß, wovon er spricht, wenn er so die „kleinen Leute“ ermutigen möchte. Er kennt nicht bloß den tiefen Erinnerungsglanz eines bäuerlichen und proletarischen Lebens; er kennt auch den Preis der eigenen Sozialisation: die Entfremdung von der Herkunft. Davon zeugt so glanzvoll wie demütig der Zyklus „Clearances“ (Lichtungen), den Heaney seiner Mutter gewidmet hat. Die acht sehr frei behandelten Sonette leben nicht bloß vom Glanz, der auf Porzellan, Rosinenbrot und Schnitten und selbst das Kartoffelschälen fällt. Sie zeigen auch – wie könnte es anders sein? – den Verrat, den der junge Mensch begeht, wenn er sich durch Sprache und Bildung von seinem Herkommen entfernt. Nr. 4 des Zyklus lautet:

Fear of affectation made her affect
Inadequacy whenever it came to
Pronouncing words ,beyond her‘,
Bertold Brek.
She’d manage something hampered and askew
Every time, as if she might betray
The hampered and inadequate by too
Well-adjusted a vocabulary.
With more challenge than pride, she’d tell me, ,You
Know all them things.‘ So I governed my tongue
In front of her, a genuinely well-
adjusted adequate betrayal
Of what I knew better. I’d
naw and aye
And decently relapse into the wrong
Grammar which kept us allied and at bay.

Giovanni Bandini und Ditte König mußten beim Übersetzen zu beträchtlichen Freiheiten Zuflucht nehmen; wobei der Austausch von Sartre gegen Brecht noch die geringste Lizenz war. Deutlich wird aber auch in der Übersetzung, wie stark die Sprachscham der sogenannten einfachen Menschen ist, eine Barriere, die auch der wahrhaft trainierte Sohn nicht einfach überspringen kann. „So I governed my tongue“, was vielleicht doch deutlicher und entschiedener ist als das „Sprachgefühl“, das die Übersetzung vorschlägt. Immerhin, das sollte nicht vergessen sein, versucht sie auch dem Kunstcharakter des Sonetts (etwa den Reimen) gerecht zu werden:

Aus Angst vor Affektiertheit affektierte
Sie Unzulänglichkeit, wenn sie sich gedrängt
Fühlte, „Gelehrtes“ auszusprechen.
Schammpol Sarter.
Sie brachte es immer schief und irgendwie beschränkt
Zustande, als ob sie sonst, durch einen zu
Passenden Wortschatz, die Beschränkte
Und Unzulängliche verraten hätte.
Eher vorwurfsvoll als stolz hieß es dann: „Du
Weißt ja sowas.“ So brauchte ich Sprachgefühl,
Im Umgang mit ihr – einen in der Tat
Zulänglich passenden Verrat
An meinem besseren Wissen. Und ich verfiel
Rücksichtsvoll wieder in das Platt,
Das uns auf gleicher Stufe und in Schach hielt.

Der Band The Haw Lantern ist auch politisch ein Dokument der Emanzipation. Wo Heaney sich noch einmal dem Thema Irland zuwendet, tut er es jetzt mit noch größerer Souveränität als früher. Er tut es als Moralist und mit den Mitteln des großen allegorischen Gedichts. So handelt „From the Land of the Unspoken“ (Aus dem Land des Unausgesprochenen) vom geheimen Zusammenhang von Unterdrücktsein und Sprachscham, und das heißt auch: vom Gewaltpotential der Sprach-Ohnmächtigen. Der Gedichtkreis „Parable Island“ (Parabolische Insel) zeigt den Versuch, dem Sprachimperialismus der „Besatzer“ zu widerstehen. Doch der Ort, „wo sich alle Namen treffen“ und man versuchen kann, „das Erz der Wahrheit abzubauen“, läßt sich ohne den Dichter nicht finden. Er ist der Dolmetsch und Botschafter in einer Republik des Gewissens – ein Botschafter, der nie abberufen werden kann:

(…)
Ich verließ diese karge Republik
von keiner Last bedrückt; die Frau am Zoll
hatte darauf beharrt, mein Freigut sei ich selbst.

Der Alte erhob sich und fixierte mich:
Dies sei die offizielle Anerkennung
meiner jetzt doppelten Nationalität.

Er wünsche daher, daß ich nach meiner Heimkehr
mich als Beauftragten verstehen möge
und für sie das Wort in meiner Sprache ergreife.

Ihre Botschaften, sagte er, seien überall,
arbeiteten jedoch ganz unabhängig,
und kein Botschafter werde jemals abberufen.

Heaney ist ein ebenso umsichtiger wie sprachmächtiger Botschafter. Er ergreift das Wort für jene, die nicht vollgültig sprechen können. Er erneuert gleichsam die traditionellen Zaubersprüche, „um Stummheit zu heilen und gegen den bösen Blick“. Doch er tut es auf der Ebene der Reflexion und der avancierten Kunst: Das irische Englisch seiner Poesie übersteigt die Sphäre seiner Entstehung. Was das Besondere, den Zauber von Heaneys Poesie ausmacht, ist zugleich das schöne und schwere Problem seiner Übersetzer, den Laut seiner „gutturalen Muse“ nachzubilden, jene Mischung von dialektalen und archaischen Sprachschichten, die so sehr seinen Themen korrespondiert.
Der deutsche Leser mag fasziniert und zugleich befremdet sein. Wir haben einen Reichtum von Dialekten und lokalen Sprachformen, doch kaum die politische Problematik sprachlicher Minderheiten und gewiß keine regionale Lyrik von überregionalem Rang. Eine Poesie des Archaischen und bodenständig Lokalen scheint immer noch durch die Blut-und-Boden-Ideologie und die nazistischen Mythologeme diskreditiert. Die Lektüre von Heaneys Versen vermittelt eine Ahnung dessen, was in der deutschen Lyrik möglich wäre, gäbe es einen Rückgriff aufs Archaische, der nicht zu Regression oder Aggressivität geriete.

Harald Hartung, aus Harald Hartung: Masken und Stimmen, Carl Hanser Verlag, 1996

 

 

 

Richard Pietraß zum 70. Geburtstag:

Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016

Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer + DAS&D +
Übersetzungen 1 & 2 + KLG 1 & 2
Porträtgalerie:  Galerie Foto Gezett + deutsche FOTOTHEK
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Das Pietraß _______ Aus einem Bestiarium Literaricum, aufgefunden im Archiv des Museo Rhinum; übersetzt von Peter Böthig

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Pietraß“.

 

Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Tobias Döring: Hier regiert die Zunge
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.4.2009

Volker Sielaff: Nachrichten aus dem irischen Ägypten
poetenladen.de, 13.4.2009

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLfGIMDbPIA +
Internet Archive
Porträtgalerie: Keystone-SDA
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Nachrufe auf Seamus Heaney: Der Spiegel ✝ FAZ 12 ✝
Die Welt ✝ Tagesspiegel ✝ NZZ 12 ✝ der Standart ✝
Berliner Zeitung ✝ Badische Zeitung ✝ taz ✝ SZ ✝ Akzente ✝︎

 

 

Seamus Heaneys Rede zu seinem 70. Geburtstag.

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