Sebastian Kiefer: Zu Franz Josef Czernins Gedicht „in der umnachtung ringsum, uns aufgeht es, -blitzt, …“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Franz Josef Czernins Gedicht „in der umnachtung ringsum, uns aufgeht es, -blitzt, …“

 

 

 

 

FRANZ JOSEF CZERNIN

in der umnachtung ringsum, uns aufgeht es, -blitzt,
dass scharf die zunge flamme redend überträgt
stürmisch, ja, schmerzlich uns anfeuernd, zeug erhitzt,
bis all die funken überspringen, dies einschlägt,

in manchem sinn, dicht finsternis, die uns besitzt,
da aller augen feuer ist auch fern gelegt,
bis wir, da jeder strahl sich pfeilschnell zugespitzt,
ins schwarze treffen uns, wie herzlich heiss bewegt!

uns immer umgemünzt mund voll, weithin verschwenden,
doch wort auch haltend im verjubeln sachlich fest,
uns zahl- wie sinnreich prangend einprägsam selbst senden:

geschickt allseits verkehren, uns verwechseln, – wenden,
wie licht ausgeben bis zum letzten stern, ja, rest,
am ende dunkel uns den eignen ort zu spenden.

 

Polyphonie und Dichtung

– Acht Notizen zum Stand der poetischen Dinge. –

In unserem Wort „Lyrik“ versteckt sich die Lyra. Romantiker träumten davon, beide, Musik und Dichtung, seien in einer versunkenen Urzeit unzertrennlich verschwistert gewesen und erst dann unter dem Druck der modernen Zivilisation voneinander abgefallen; das ist uns fremd geworden, doch beim Wort „Gedicht“ denken wir gleichwohl an Sangbarkeit der Phrasierung, sinnliche Klangfülle, rhythmische Verkörperlichung der Zeichen; an den jahrtausendealten Versuch, die Wortsprache durch Annäherung an die Musik, diese bezeichnungslose Zeitgestalt, magisch zu erhöhen. Oder zumindest: Betörender zu machen, unmittelbarer. Was heißt das: Unmittelbarer? Körperlicher, unkörperlicher? Bewusstsein ist uns das Unmittelbarste, ist es unkörperlich?
„Lyrik“ sei eine besondere Weise der musikalisierten Rede, nimmt man gemeinhin an; aber auch: „Lyrik“ sei eine besondere Weise der übertragenen Rede. Wie lässt sich das zusammen denken, das semantische Verfahren und die a-semantische Zeitgestalt? Unsere Schulbuchstereotypen erniedrigen das Musikalische der Dichtung zur bloßen Einfärbung oder zum Stimmungsreiz; sie blähen es zugleich – sentimentalisierend – auf, als wären Hörstimuli das „Lyrische“ an der Lyrik überhaupt. Man setzt voraus, die Musik der Worte wirke, während die Worte selbst etwas bedeuten. Sollte „lyrische“ Musikalisierung nicht auch meinen: Ausdifferenzierung der Rede, bis die Dimensionen des Sprechens einander bedingen?

*

„In der umnachtung ringsum, uns…“ Prima facie ist das traditionelle, „lyrische“ Musikalisierung. Allerdings: Die Artistenlust, mit der hier, den Alexandriner frei umspielend, musikalisiert und eine reiche innere Gliederung und konstruktiv-motivische Notwendigkeit gesucht wird, bringt man schwerlich mit „Lyrik“ im Sinne lyrischer Gestimmtheit oder kantabel untermalter Weltaussage zusammen. Die demonstrative Künstlichkeit von Grammatik und Bildgebrauch scheint jedes ariose Lineargefühl unterbinden zu wollen; andererseits scheint der Ton-Raum alle andere als bloßer Dekor zu sein oder gar Stimmungsgrundierung. Tradition scheint emphatisch bejaht zu sein und doch unterlaufen oder überwölbt. Der Tonus des Ganzen hinwiederum ist unverkennbar hoch und wenigstens darin scheinen Klanggebung, grammatisches Kalkül und Bildgebrauch übereinzustimmen. Diese Art von Vertonung stellt reiches Kolorit und eine vertrackte Konstruktivität gleichermaßen aus; sie will mehr als suggestive Verkörperlichung eines vorab bestehenden Sinnes. Keine Stimmung lässt sich von der Konstruktion lösen und dennoch scheint alles aus traditionellen „lyrischen“ Techniken und Topoi zu leben. Wie das?
Zunächst: Die Bestände. Der erste Halbvers wird dominiert von der Wiederkehr des Partikels „um“ am Phrasenende; die beiden wiegenden Daktylen – erst im Fortgang des Gedichtes bemerkt man, dass sie gegen die grundlegende Zweitaktigkeit gesetzt sind – werden sanft angehalten in dieser Schlusssilbe „-um“. Der melodische Bogenverlauf strebt nach oben hin zum Zentralakzent auf „-nacht-“, nimmt sich dann ritardierend zurück, um auf einer Fermate zu schließen; eine Art Halbschluß, eine unvollständige Kadenz, die gleichzeitig abrundet und öffnet zum Nachfolgenden. Das ,Umhersein‘, von dem gesprochen wird, erscheint im Lautaufriß wieder: Der „u“-Laut „umkreist“ andere Laute, eine annähernde Binnensymmetrie (i[-e]-u-a-u-i-u) entsteht und es ist, als könne der „u“-Laut nicht nur verbildlichen und musikalisieren, sondern zudem durch die „ung“-Silbe aus einer Bewegung einen Dingzustand erzeugen. Die Begründung für den phrasischen Bau ist gleichzeitig sach-, raum- und ohrmotiviert, die Dimensionen des Sprechens scheinen voneinander abhängig: Raumgliederung und Musikalisierung sind eher Erscheinungsweisen des Einen Gesagten, als dass sie ,Formungen‘ eines Meinens wären. Erreicht wird das, indem die rhetorische Grundforderung einer Adäquanz von Darstellung und Sache gleichsam übererfüllt wird: Tradition wird über sich hinausgetrieben, indem ihre Ideale buchstäblicher genommen werden als von dieser selbst.
Die umkreisende Bewegung der Kernsilbe „un“ / „um“ im ersten Vers verbildlicht etwas, von dem geredet wird. Dieses Etwas ist jedoch keine nakte, sprachunabhängige Tatsache: „Umnachtung“ kennen wir umgangssprachlich nur als (kalte) Metapher; eine quasi-wörtliche Verwendung, also ungefähr ,Umgebensein von Nacht‘, ist, obwohl sie sich gestisch förmlich aufdrängt, irregulär. Wir müssen diese Lesart, also das Naheliegende, gegen unsere Sprachreflexe durchsetzen. Aber: Die sinnliche Verkörperung hat schon vollzogen, was wir, gehorsame Diener der semantischen Gewohnheiten, erst linguistisch rekonstruieren müssen – in den Gesten der Wortmaterie kehrt das Naheliegende aus der Fremde zurück. Was zunächst ,barock‘ erscheint, die piktorale Funktionalisierung des Kolorits, ist eher antibarock: Nicht Bebilderung einer vorgängigen Bedeutung, sondern Prolepse eines noch nicht be- oder feststehenden Sinns in einer hör- und sehbaren Vorgestalt. Es ist, als wäre zunächst eine Physiognomie plastisch da; wir nehmen sie auf; sie ist beredt, doch die Person dahinter ist uns – noch – verborgen.

*

Die zweite Phrase („uns aufgeht es, -blitzt“) hebt an, indem sie das solcherart sicht- und hörbar umkreisende und umkreiste „un“ / „um“ erneut anstimmt, doch es aus dem Kreisen gleichsam herausschleudert – in ein „Aufgehen“ hinein. Die alles ins Symmetrische und Piktorale bindende Energie, die die erste Phrase in die „un“ / „um“-Silbe legte, wird aufgegriffen und umgelenkt; das macht die nachfolgende „Aufgeh“-Bewegung plastisch: Der durch Irritation erzeugte Stau entlädt sich im „auf“. Der Daktylus des Anfangs (der über das Komma hinweg im Wort „uns“ fragwürdig geworden war) wird nun barsch unterbunden: Spontan lesen wir das „auf“ in Verlängerung des Daktylus zunächst gesenkt („in der umnachtung ringsum, uns aufgeht es…“) und dieses unvermeidbare Fehllesen lässt das Hineinfahren des „auf-“ umso spürbarer werden. dieses Wort „auf“ erzwingt einen Übersprung in den Zweiertakt („uns aufgeht es“); der Versuch, den Zweiertakt in die erste Phrase zurückzulesen, um Zusammenhang des Ganzen zu schaffen, scheitert jedoch an derselben Stelle, der Silbe „auf“: Sie erscheint von irgendwoher hier hin eingezwängt wie ein Signal, das nur eine Erscheinungsart toleriert: Die entschiedene Hebung.
Jetzt erst, von diesem Signal aus rückwärts lesend, empfinden wir eine ambivalente metrische Disposition der ersten Phrase. Alleine die Silben „auf“ und „-nach(t)-“, so scheint es nun, können nicht anders denn gehoben intoniert werden. Sie sind Gegenspieler – „auf“ reißt die Umnachtung „auf“ – aber auch unverrückbare Grundfesten. Alles andere ist vakant. „in der umnachtung ringsum, uns…“ ist ebenso möglich wie „in der umnachtung ringsum, uns…“. Erstere Intonationsart hebt die Singularität dieser einen (Um-)Nacht(-ung) hervor; die zweite verbildlicht das Ringsumsein in der symmetrischen Anordnung der Hebungen und dem zweimaligen Aus- und Einschwingen hin zur „nacht“ und weg von ihr. Beide Intonationsarten sind Entfaltungen von Sinndimensionen des alltäglichen Wortgebrauches; das Mittel der Entfaltung ist: Konstruktivität. Die Rede von „schwebenden Versakzenten“ wäre missverständlich, denn sie legt Konturlosigkeit nahe. Hier handelt es sich jedoch um Überdeterminiertheit im wörtlichen Sinn: Ein Vers besteht aus zwei (oder mehreren) je für sich genau konturierten Sinn-Klangkörpern gleichzeitig.
Musikalisierung meint hier demnach weder Untermalung von vorgängigem Sinn noch – wie es eine missverstandene Romantik will – Verdünnung des Verweis- und Diskurscharakters zugunsten eines ,Lösens in Tönen‘. Nicht: Kleid des Gedankens, sondern: Haut oder Zellwand. Wenn es, wie eine Avantgarde von einst meinte, eine Sünde unserer indogermanischen Sprachen wäre, „Bedeutung“ streng von ihrer Realisationsgestalt abzutrennen, so läge in der Czernin’schen Art der Musikalisierung etwas von einem Versuch, durch exzessive Umsetzung traditioneller Poesieideale diese Kluft zu überbrücken. Radikal zu Ende gedacht lautet die traditionelle Forderung nach Adäquanz von Mittel und Sach-Referenz: Die räumliche und die hörbare Gestalt ist dann der Sache vollkommen angemessen, wenn sie keine ,Form‘ eines Gedankens mehr ist, – was ,Form‘ eines von ihm getrennten Zweiten ist, kann immer ersetzt werden durch eine ,andere‘ Form –, sondern: Verwandlung. Eine Verwandlung kann nicht ersetzt werden, sondern nur ihrerseits verwandelt werden, und sei es in eine Ausgangsformation zurück. Das radikale Verfolgen des Adäquatheitspostulates mündet in den zweiten großen, weitaus jüngeren Fluss der Tradition: Auf ihm fordert man organische „Notwendigkeit“ der Bauformen des Kunstwerkes. Das radikalisierte Adäquatspostulat begründet somit das Notwendigkeitspostulat – und vice versa.

*

Die Verse verstecken ihr Konstruiertsein nicht; sie stellen es aus, als wäre es ein Schirm, der die Region der „Künstlichkeit“ nach außen, zum alltäglichen Sprachgefühl hin, trennt; allerdings so trennt, dass Diffusion möglich und verlangt ist. Der Leser wird zum Sprung in diese befremdliche, wie unter Bann stehende Region gezwungen; oder verlockt, je nach Konstitution. Die Befremdlichkeit rührt von der Ungewissheit her: Ist dieser erscheinende Raum zu nah oder fern, ist er entfaltetes Alltäglichsein oder Entrückung, Ichhaftes oder dessen Feind? Die Verführungskraft ist dieselbe wie die beschirmende und befremdende, nämlich die gestisch-musikalische Tektonik selbst. Sinnfällige Plastizität und arios angereichertes Kolorit machen glauben, nicht einem Irregulären, sondern einem bloß Vergessenen, Vollständigeren, einstmals Alltäglichen oder auch: Einem abgelebten hohen Ton wieder zu begegnen. Als kehre hier etwas von irgendwoher zurück, das straffer und konsequenter in der Organisation ist als die Dinge unseres alltäglichen Umgangs, und das doch nichts anderes wäre als entfaltetes Alltagssprechen. Es tönt zum Leser hin wie die ,fremden Länder‘ Schumanns, die ja auch – ein Grundgedanke der Romantik (vgl. Novalis, Vermischte Bemerkungen Nr. 12) – das Fremdeste und das Innerste zugleich sind; weshalb Schumann ins träumerisch-liedhafte Schweifen eine Erinnerung an die verlorene Welt J.S. Bachs hineinwob.
Das Fremde, das womöglich das Eigentliche ist, wird durch Einbettung in den gestischen Wohllaut vertraut und süß verlockend, ohne ihm das Fremde zu nehmen. Die Verse demonstrieren Künstlichkeit, Kalkül, Gebautsein im Spekulativen, und lassen doch ahnen: Diese Künstlichkeit des Baues könnte die Natur eines höheren Wohllautes sein. Dann wäre Wohllaut nicht mehr versüßende Koloristik des Bekannten; das wäre sie auch; als Ganzes aber wäre sie Daseinsgestalt eines Neuen und Abgelebten. „Die Poesie ist eine künstliche Herstellung jenes mythischen Zustandes, ein freiwilliges und waches Träumen“, bestimmte A.W. Schlegel 1803 („Über Literatur, Kunst und Geist des Zeitalters“). Warum „künstlich“, warum „frei“, warum „wach“? Weil, könnte Schlegel sagen, wir mehr denn je über die Natur und das Bewusstsein wissen, doch noch immer kaum etwas darüber, p.e., was es heißt, „bewusst zu sein“. Daher liegt der Ursprung in der Zukunft. Wir müssen bauen, um sie nicht zu verfehlen. Wer fühlt, findet nur sich selbst. Traue Dich Deines Verstandes zu bedienen, denn das Verständige von gestern wiederholen heißt, es nicht zu wiederholen. Aber eben auch: Träumen. Kunstvolles Träumen. Halluzinierendes Bauen. Orphische Linguistik.

*

Die Silbe „auf“ ist irregulär in beiden Rhythmisierungsweisen, der daktylischen und der jambischen. Beide Weisen münden in die prosodischen Turbulenzen der zweiten Phrase. Die mit dem Wort „auf“(-gehen) aufbrechenden Turbulenzen erzeugen strudelartige Stauungen verschiedenster Hebungen, die sich final in der beschleunigenden, vokalischen Enge des Wortes „-blitzt“ nach oben hin entladen. Dieser Entladung folgt naturgemäß eine Beruhigung der Sprechbewegung in den gleichmäßigeren Jambus des nachfolgenden Verses hinein. Der Umbruch des prosodischen Habitus bedeutet notwendigerweise auch: Verkehrung des Tonsatzes. Die basalen Bauelemente des Anfanges kehren verwandelt, in beruhigter und ausbalancierter Facon, wieder: Die strukturbildende Silbe „un“ (bzw. „um“) taucht in der Mitte des Zentralwortes „zunge“ auf, sonst aber nirgends mehr im Vers, als wäre sie nun in den anatomischen Quell des Sprechens eingeschlossen. Die Kernsilbe „un“ umfängt nun nichts mehr, sondern wird umfangen, von den „a“-Lauten vor allem, die im ersten Vers ihrerseits umfangen wurden. Mit Vers zwei wird nicht nur das (scheinbar) äußere Geschehen auf seine anatomischen Quellen, die Zunge als Artikulationsorgan, zurückgeführt; mit dieser Umwendung der Sprechrichtung spiegelverkehrt sich auch das Verhältnis des klanglich Umfangenden zum Umfassten. Das Verkehrte, Doppelsinnfällige, das sich im Hörbaren des Eingangsverses verkörperte, kehrt nun in der Semantik („Zungenreden“) wieder – und in Gegenbewegung bleibt in dieser Seitenverkehrung die Rhythmisierung stet und unzweideutig. Laut, Raum und Sinn spiegeln einander, schlagen ineinander um: Verwandlung.
Der gesamte Eingangsvers erscheint so mit Vers zwei zusammen als polares Grundmodell von Turbulenz und Rückwendung, Aufbruch und Reflexion, wobei beide Pole durch Verwandlungsgesetze voneinander abhängig sind. Es überrascht nicht, dass die Verse drei und vier das Modell des Paares, (implodierender Daktylus / Alexandriner), variierend reproduzieren – allerdings in einer Beruhigung des Gegeneinanders: Als das „Element“ Feuer im Eingangsvers hineingeschleudert wurde, war es stofflich noch unerkennbar (Blitz); dann breitet es sich in den Binnenraum des Gedichtes aus und ist in vielerlei Mutationsformen präsent. Das „uns“ bleibt weiterhin intonatorisch prekär (in diesem Fall durchaus „schwebend“), als wäre das Geschehen noch an kein Bewusstsein zu binden; als hätte das Wort seine Rolle im Satz-Sein noch nicht ganz gefunden. Im ersten Vers korrespondierte „uns“ mit dem ebenfalls noch unentschiedenen intonierten „es“; jetzt korrespondiert das schwebende Partikel mit dem einzigen anderen Partikel von schwebender Intonation, dem „ja“, als wären beide Interjektionsgesten und nicht (nur) Funktionalpartikel.

*

In diskursiver Rede wäre die Redeweise „umnachtung ringsum“ lediglich ein logisches, normverletzendes Experiment. Die Musikalisierung der Verssprache macht aus der Verletzung etwas anderes: Einen Ausdruck wie „umnachtung“ empfinden wir im Alltäglichen als Wörtlichkeit, weil wir die Übertragung, denen er sein Dasein verdankt, vergessen haben; dank gestischer Musikalisierung kann eine entstellte Form dieses selben Ausdrucks nicht nur wörtlich, sondern darüberhinaus als Wiederkehr einer ursprünglicheren Bedeutung („umgeben von Nacht“) empfunden werden.
Das Gedicht tönt so konsequent im Zwischenraum von vergessener Metapher und Übertragung der Übertragung, die eine Rückübertragung sein könnte, dass selbst dieses Aufscheinen des Vergessenen und Kommenden davon nicht ausgenommen bleibt: ,Es geht uns auf‘ – wir stehen am Ende vielleicht gar mitten darin. Oder standen schon immer darin. Oder wir stehen nur in metaphorischem Sinn darinnen. Oder könnten einst hinein: Dann wäre die räumliche Bezeichnung „um-nacht-ung“ wörtlich zu verstehen. Oder das Ganze wäre ohnehin nur eine Metapher für Dinge, die sich „im“ Bewusstsein abspielen – wenn nicht diese Rede vom Sein „im“ Bewusstsein ihrerseits zwischen Bild und Sinn vagierte. Wie wir ohnehin auch im Alltag fast durchweg mit einem Bein in der Metapher stehen, wenn wir Erkennensprozesse beschreiben: ver-stehen, be-greifen, er-fassen, ein-sehen, auf-nehmen usf. Jedoch: Wenn die Metapher vom Innenraum des Bewusstseins eine Metapher ist, wofür stünde sie dann? Wenn wir nicht wissen, wofür sie stehen kann, wie können wir sie dann als eine Metapher erkennen? „Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren“, sagt Novalis (VB 20). Nur: Was ist innen, was außen? Und: Warum sollte ausgerechnet diese Übertragung aus dem Räumlichen ins Mentale keine Metapher sein? Wo wäre in dieser proteischen Sphäre zwischen Bild und Bezeichnung ein Objekt namens „Ich“ – muss dieses „Ich“ nicht vielmehr der polyphone Prozess selbst sein? Ein Spiel der Momente, in das wir augenblicks einzugreifen können meinen, um im nächsten Moment zu erfahren: Auch das, dieses Eingreifenkönnen, war ein Moment des Spieles? Selbst Novalis hat womöglich noch nicht radikal genug gefragt.
Die Beispielverse setzen Innen und Außen in weitaus komplexere Spiegelverhältnisse, nicht nur in den Spiegelsymmetrien der Lautgestalt von Vers eins und zwei. Jeder Vorgang erscheint, weil alles gleichzeitig als Metapher und simultan als Beschreibung gelesen werden kann, je nach Blickwinkel, als Vorgang der Außen- oder der Innenwelt gleichermaßen. Und die musikalische, gestische, räumliche Gestalt ist immer ein Funktionsmoment in dieser Vexierwelt: Die den Sprechton hebende Beschleunigung des Sprechens hin zum Wort „-nacht-“ und das verlangsamende Sinken ins Kadenzwort „ringsum“ hinein zeichnen einen Bogen, als wäre er eine Wiederholung des Gesichtskreises, der mit dem Wort „umnachtung ringsum“ aufgemacht würde; es ist gleichsam eine mehrdimensionale Mimesis – und zwar eine Mimesis an etwas, das sinnhaft noch nicht vollständig gegenwärtig ist. Oder nicht wieder gegenwärtig, denn ,Umgebensein von Nacht‘ ist der verdrängte plane Sinn im Ausdruck „umnachtetsein“ und diese Verdrängung hat den Bildsinn des Ausdrucks erst ermöglicht; der neue, durch Abschattung oder Verdrängung entstandene Bildsinn wiederum erscheint uns mittlerweile als sein eigentlicher, ,wörtlicher‘ Sinn. Die Dialektik von Eigentlichkeit und Fremdheit, Nähe und Ferne, Lagerung und Irritation, steckt also im Ausdruck „umnachtung“ selbst. Sie war uns nur zu nahe.

*

Adäquanz von Gestalt und Sinn bedeutet, konsequent verstanden: Verwandlung. Das kann man romantisch nennen: Verwandlung ist nichts anderes als Übersetzung in ein neues System und Novalis’ berühmtes Fragment von den drei Möglichkeiten des Übersetzens schließt:

Nicht blos Bücher, alles kann auf diese drey Arten übersezt werden. (VB 254)

Darüber hinaus jedoch wird Tradition radikalisiert, indem nicht nur etwas von einer Dimension in die andere übertragen oder projiziert wird, sondern das Sprechen selbst sich in einer Art Übergangs- oder Interferenzraum zwischen verschiedenen Modi bewegt. Wörtlich liest sich der Anfang etwa so: Man ist umgeben von nächtlichem Dunkel; dieses Umgebensein erscheint, gerade weil es hoch artifiziell in der gestisch-musikalischen Architektur auf andere Weise manifest wird, zugleich als Spiel der Sprache mit sich selbst – das aber ist nur eine weitere Erscheinungsform des „Umnachtetseins“, das Ausbleiben des, wie es in traditioneller Bildlichkeit (sic) hieß, ,Lichtes der Erkenntnis‘.
Erkenntnis heißt: Gewiss sein, dass unsere Sprache etwas außer ihr selbst regelhaft benennt. Wann können wir dessen gewiss sein? Das Gedicht antwortet verblüffenderweise so: Genau dann, wenn endgültig nicht mehr zu entscheiden ist, ob etwas Bild oder Bezeichnung ist. Denn: Glauben wir, etwas sei bloßes Sprachbild, so glauben wir, um weltgenauer zu sein, müsste das Bild durch eine eigentlichere, unumwundenere Bezeichnung ersetzt werden, also der Schmuck, der lediglich innersprachliche Funktion hat, entfernt werden. Glauben wir umgekehrt, ein Ausdruck sei wörtlich bezeichnend, glauben wir, jeder andere (nicht-äquivalente) Ausdruck müsse weniger direkt und gleichsam unverstellt bei der Abbildung (respektive Herstellung) einer Tatsache sein. Nun kann man Erkenntnisevolution wohl beschreiben als ständigen Versuch, das bloß Metaphorische vom Wörtlichen zu scheiden. Wenn die Vorsokratiker Feuer, Wasser, Erde, Luft als nicht mehr hintergehbare Stoffe auffassten, aus denen die Welt zusammengesetzt sei, sind uns diese Beschreibungen durch den Siegeszug der Naturwissenschaft zu bloßen Metaphern geworden – nicht anders erging es den Beschreibungen der Erde als Mittelpunkt des Kosmos, der Postulierung eines „Äther“-Mediums als Fluidum der Kommunikation der Dinge, der Gallenschwärze als Ursache für Depressionen usf. Wenn jedoch Erkenntnisevolution bedeutet, das, was Bezeichnung zu sein prätendiert, in seiner metaphorischen Natur bloßzulegen, andererseits alles, was Bezeichnung zu sein vorgibt, irgendwann einmal Metapher sein wird – wie ist es dann mit Ausdrücken, die zugleich Metapher und Bezeichnungen sind? Sie können offenbar nicht mehr falsifiziert werden. Jedenfalls nicht in gewohnter Weise.
Wann aber kann ein Ausdruck zugleich Metapher und Bezeichnung sein? Nur dann, sagen solche Verse, wenn alles als Übertragung eines anderen verstanden werden kann oder muss; dann wäre alles thematisch, weil es an einem Gesamtsinn funktional partizipiert, der mehr ist als die Summe der Dimensionen. So kann etwa das in alltäglichem Sinne Wörtliche (Umnachtetsein als dementer Weltverlust) als das Übertragene und damit mutmaßlich Abgeleitete oder Spätere (comes) erscheinen, aber umgekehrt kann auch, was umgangssprachlich irregulär oder ,nur verbildlichend‘ erscheint (z.B. das Wörtlichnehmen von „umnachtetsein“ durch die Raumklangkonstruktion), als das Ursprünglichere, Wörtlichere erscheinen; so verlieren sich die starren Zuordnungen, ohne dass sich Bild- und Bezeichnungsdimension aufhöben. Vielmehr erscheinen Bild- und Bezeichnungsdimension nur als Dimensionen unter anderen, in denen allen sich der Gesamtsinn offenbart. So etwa, wie an einer Fuge Bachs die nicht unmittelbar hörbaren arithmetischen Proportionen ebenso wie die semantischen Implikationen, die ohrschmeichelnden Instrumentalfarben wie die rhetorischen Figuren Anteil an einem Gesamtsinn haben, den nur wir mit unserer begrenzten Fähigkeit, die innere Aufmerksamkeit zu teilen, als Getrennte erfahren; nur wir müssen rasch zwischen dux und comes, Arithmetik und Oberflächenduft hin und her springen – aber: Wir hören, schmecken, sehen das jeweils andere mit, wenn wir uns auf eine dieser Dimensionen konzentrieren. Wir müssen uns zwar entscheiden, ob wir entweder alles nach arithmetischen Proportionen oder auf Symbolisationen hin untersuchen (die in Bachs Musik eine eminente Rolle spielen) oder eine Ausdrucksgeste körperlich erfahren usf.; aber für weniger begrenzte Sinne schlösse sich das Sukzessive zur Totale zusammen; vielleicht nur für Engel; vielleicht aber auch für künftige Leser.
Polyphon im engeren musikalischen Sinne eines simultanen Erklingens wäre für uns vielleicht ,nur‘ das simultane Mit- und Gegeneinander der Stimmen von Bild und Sinn. Während die anderen Modi traditionelle Weisen der Sprach-Musikalisierung fortschreiben, wird im Zentrum eine neue Dimension erschlossen: Die Möglichkeit einer Polyphonie in der Wortsprache, die etwas grundlegend anderes meinte als Mehrdeutigkeit, emblematischer Doppelsinn oder symbolische Überlagerung. Und: Überall werden Ursprungsfragen ersetzt durch das Vorführen von Verwandlungen, also Übersetzungen; im Seh-, im Hör-, im Pulsations-, im Phrasierungsbereich.

*

Offenbar spielen Redewendungen die Rolle von Topoi („Fundorten“) in dieser polyphonen Welt der Übertragungen. Sie gehen Hand in Hand mit der Inversion von Wortordnungen. Diese kann man als Irritation der Sprechgewohnheiten durch Archaisierung empfinden, denn Vorbilder beispielsweise für die häufige Umstellungen von Präfix und Verb, Subjekten und Personalpronomen finden sich eher im hohen Ton des Barock oder auch Klopstocks. Nur sind hier Inversionen wie alle Dimensionen des Tonsatzes streng sinn-funktional zu lesen.
Eine alltäglichere Wortordnung das Anfangsverses wäre etwa: „in der umnachtung rings um uns (her)“. Doch das stellte ein Subjekt als fraglosen und primär räumlichen Bezugspunkt her: Die Polyphonie wäre zerstört. Ergänzte man den Satz dann noch mit „geht es auf“, wäre die Zerstörung vollständig: Das „es“ würde lediglich ein Platzhalter für etwas anderes; denn wir sagen „jetzt geht es mir auf“, wenn aus dem pragmatischen Kontext evident ist, für welche Sache dieses „es“ steht. Durch Czernins „Entstellung“ des Idioms verliert das „es“ jedoch diesen Charakter des Stellvertreters; es kommt diesem nun eine innere Emphase zu, die es zu einer Art angerufenem Objekt macht; wir denken reflexartig einen Artikel hinzu – ,jetzt erkenne ich es, dieses „Es“!‘ Das „es“ ist jedoch nur dann eine Entität für sich selbst, wenn der Artikel hinzugedacht wird. Wird gegen dieses reflexartige Hinzudenken des Artikels der bloße Wortbestand gelesen, wächst dem „es“ wieder Stellvertreterfunktion zu. Dieses Changieren zwischen Stellvertreterfunktion und Fürsichsein des „es“ seinerseits könnte man als Variante der Polyphonie von BiId und Bezeichnungssinn verstehen. Ganz gewiss ist dieses Changieren das Gegenteil von sprachspielender Polysemie: Jenes sich zeigende „es“ wird so (und nur so) als eines erfahren, das, wenn es ganz sichtbar würde, ein anderes würde – und doch immer auch „es“ bleibt, das Fremde oder Namenlose oder der referenzlose Nur-Name. Mimesis, Polyphonie und Inversion bedingen einander.
Auch der schroff archaisierende Ton, der sich durch die vielen Inversionen ergibt, ist eine Konsequenz der mimetischen Genauigkeit. Gerade weil die ,natürliche‘ Wortstellung, die das Verb „geht“ an den Anfang der Verbalphrase gesetzt hätte, mit spürbarem Vorsatz vermieden ist, können wir „uns“ als eine Art Echo oder lautliche Streuung des für den ersten Teil zentralen, zwischen „un“ zum „um“ vagierenden Partikel empfinden. (Sogar das Vagieren zwischen „um“ und „un“ hat eine lautliche und zugleich gestisch-semantische Funktion: In „um“ steckt keimhaft das Räumliche, in „un“ ein Keim von Negation.) ,in der umnachtung ringsum, aufgeht es uns‘ wäre rhythmisch unmöglich: Das turbulente Stauungsgefühl der zweiten Hälfte wäre eingeebnet; dem hineingesprengten „auf“ müssten zwei Senkungen folgen, eine Hebung auf „uns“ würde die Phrase in sich abrunden, statt Energie aufzustauen, um sie im „-blitzt“ entladen zu können. Zudem wäre die Gesamtarchitektur zerstört: Der Vers zerfiele in zwei in sich geschlossene Phrasen, denen als Appendix das Wort „-blitzt“ hinterhertrottete, statt als Kulmination einzutreten. Auch stünde das gesamte Wort „aufgeht“ quer zum Fluss (während im Fall von „uns aufgeht es“ nur das Wort „auf“ einen gestischen Akzent bekommt, der „geht“ wie einen Schatten nach sich zieht). „uns“ wäre notwendigerweise zu betonen, und zwar stärker und sicherer als das „es“. Dieses „es“ würde zum bloßen Füllwort, zum Sekundären gegenüber der Gewissheit dieses „uns“; es verlöre seinen Status als (möglicher) Ort oder sogar Quell des ganzen Geschehens.
,in der umnachtung ringsum geht es uns auf‘ krankte anders: Die verbildlichende Kraft der ersten Hälfte, das Insichkreisen in Raum, Laut und Melodie, würde fast unmerklich, weil der Sprechfluss sich nun linear durch die ganze Zeile hinweg entfaltet. Die Stauungen in der zweiten Hälfte würden entfallen; nichts wäre da, das sich klangrhythmisch entladen müsste. Das Gehen rückte in den Vordergrund, nur wäre die Intonation nicht zwei- oder mehrstimmig, sondern einfach unklar: Läge die Hebung auf „geht“, würde zunächst nur die konkrete, körperliche Tätigkeit des Gehens vorgestellt. Der Vorstellung des Gehens klapperte gleichsam die Silbe „auf“ nach und wendete mit einem Ruck alles ins Metaphorische. Die Polyphonie wäre durchbrochen, Wörtlichkeit und Bildlichkeit erklängen nicht simultan, sondern das nachklappernde Wort „auf“ ließe die wörtliche Lesart nachträglich ins Verbildlichende umkippen.
Keine Inversionen ohne gestische Musikalisierung und semantische Transformation; aber auch: Keine Inversion ohne Polyphonie; keine Polyphonie ohne Mimesis. Mehrstimmigkeit ist Instrument und Ziel.
Das Vorziehen des „auf“ akzentuiert den Vorgang des trägerlosen Öffnens gegenüber einem subjektgebundenen Tun, das das Alltagswort „gehen“ in der konkretesten Bedeutung meint. Es entsteht ein merkwürdiges Kräftewiderspiel des Konkreten und Abstrakt-Imaginären; das Wort „gehen“ wird irritierend surreal und dabei doch auf neue Weise konkret: „Geht“ denn da etwas; geht es seinen Gang? Warum sagen wir überhaupt: Der Mond oder der Vorhang „geht“ auf? Allgegenwärtig scheint plötzlich der animistische Zug unserer Sprache. Die Verwendung von „geht“ ist höchst charakteristisch für Czernins Poesie, denn diese erfindet weniger irgendwelche Bedeutungen, als dass sie sie findet – sie entstehen durch Heraustreiben der Latenzen und Potenzen der gewöhnlichen Sprache: „Geht“ verwenden wir ebenso selbstverständlich buchstäblich wie übertragen, obwohl dabei im Grunde höchst seltsame Gebilde entstehen. Wenn der Hochdeutsche sagt: „Da haben wir noch genügend Zeit“, sagte der Wiener, „Das geht sich aus“, und findet es sehr natürlich. Also auch hier: Mehrstimmigkeit als verkörperndes Hinaustreiben von etwas, das schon je wirkt in unserer alltäglichen Sprache, sonderlich in der gängigen idiomatischen Struktur. Und: Mehrstimmigkeit als Verwandlung.
Konstruktivität und Mimesis bedingen einander. Die Inversion des Präfixes „auf“ macht es möglich, den Vers mit dem einzeln stehenden Wort „blitzt“ enden zu lassen, als entlüde sich hier eine (polyphon) aufgestaute Spannung in der im engen „i“ und den dichten Konsonanten komprimierten Lautlichkeit – als zuckte der Blitz erst durch das Wort; oder gar im Wort. Sinn-Funktionalität heißt auch hinsichtlich der Inversionen Mimesis. Der Weg zur genaueren Mimesis führt durch den (scheinbaren) Bruch von Gewohnheiten. Daher die archaische Irritation und das Ausstellen von Konstruktivität. Natur will gewonnen werden.
Von diesem synästhetischen Wortereignis „-blitzt“ her wird auch Vorangegangenes im Vers verständlich: Wirkte das „Gehen“ für sich genommen befremdlich in dieser turbulenten Konstellation, weil es gleichsam auf seiner Konkretheit und Langsamkeit beharrte und sich der Übertragung ins Metaphorische oder Nur-Geistige zu verweigern schien, so fährt das komprimierte Blitzen hinein, als würde es die beharrliche Trägheit des Gehens zersprengen wollen. Im übertragenen Sinn sind Aufgehen und Blitzen zwar verwandt, zwei gleichnishafte Modi des Verstehens; weil in diesem Gedicht aber immer die wörtliche, konkrete Bedeutung als Kontrapunkt miterklingt, können hier, wo es die Plastizität erfordert, die Modi unvereinbar werden und eine Dissonanz bilden: Die Dissonanz von ,Gehen‘ und ,Blitzen‘, das musikalisch Nichtverschmelzbare der beiden Wortkörper, ist ebenfalls ein mimetisches Moment. Wenn später in diesem Gedicht, das die Verwandlungsweisen von Bewusstsein und Materie im Zeichen des Elementes Feuer untersucht, Funken schlagen, ist man kaum verwundert: Der Aufeinanderprall der Wortdinge „aufgehen“ und „aufblitzen“, den die polyphone Textur ermöglicht, wirkt fort ins Weitere des Gedichtes wie eine bipolare Aufladung des Wortfeldes.
Funken schlagen kann nicht jeder Aufprall; die aufeinander treffenden Materien dürfen nicht willkürlich verschiedene sein. Auch „aufgeht“und „-blitzt“ sind verwandt; in der übertragenen Bedeutung für Verstehensvorgänge, in der gemeinsamen Assoziation mit Ereignissen am Firnament (dass Sterne „aufgehen“, ist uns geläufig, wenngleich auch das nicht ohne weiteres buchstäblich passiert). Verwandt sind „aufgeht“ und „-blitzt“ auch in der Wiederholung des invertierten Präfixes („aufgeht, aufblitzt“). Die Ersetzung des Präfixes durch das Auslassungszeichen im zweiten Fall mag zunächst eine Verschiedenheit in der Gemeinsamkeit versinnlichen. Doch auch diese Konstruktion hat eine strenge Funktion bei der Verkörperung von Sinn: Die Tilgung schafft eine Lücke, die die lntonationsspannung steigert; eine weitere Störung des Sprechflusses tritt ein und auch sie steigert die gestische Entladungssuggestion im Wort „-blitzt“. Zudem ist diese Tilgung ein subtiler Kniff, um noch einmal die Polyphonie zu intensivieren: Wenn etwas „aufblitzt“, zeigt sich darin etwas anderes als der Blitz selbst. Wenn wir dagegen lediglich sagen, es „blitzt“, meint es primär ein physikalisches Entladungsereignis für sich. Allerdings: ,Blitzen‘ können auch Augen oder reflektierende Gegenstände. Daher meint dieses „-blitzt“ womöglich nicht nur es selbst: Man kann „es“ über das Komma hinweg und also unter starkem Vorbehalt mit „blitzt“ zusammenziehen wie in der alltäglichen Rede „es blitzt“; das wäre vorderhand eine wörtliche Beschreibung des physischen Phänomens, da jedoch das „es“ durch die Inversionstechnik schon zwei stimmig aufgeladen ist, stellen sich auch hier andere Konnotationen ein: Ist „es“ identisch mit dem Blitz oder lässt „es“ blitzen, um, wie bei Hölderlin, ein Zeichen zu senden?

*

Wieso verbrüdern sich Inversionen mit Polyphonie und diese mit der Topik der Idiome?
Idiome sind häufig in sich keimhaft polyphon. Wir verstehen die Redewendung, jemand sei ,umnachtet‘, nur, wenn wir den wörtlichen Sinn kennen und wissen, dass gerade er augenblicks nicht gemeint ist. Der Reiz solcher Wendungen besteht gerade darin, dass sie ihrer halbbildlichen Zwischennatur wegen eine gestische und sinnliche Plastizität transportieren, die (scheinbar) wörtliche Ausdrücke meist nicht erreichen: Sagen wir, jemand habe eine Demenz der Gattung soundso, ist das wörtlich in gewissem Sinne wahrer als zu sagen, jemand sei ,umnachtet‘ oder gar ,fällt in Umnachtung‘. Doch der Ausdruck ,Umnachtetsein‘ transportiert körperliche Erfahrung – die Dichtung gibt sie dem Ausdruck gleichsam zurück, die Urerfahrung des Ausgesetztseins in eine Nacht, die nur mich selbst nicht durchdringt. In „Umnachtung“ scheint auch die Erfahrung mitzuschwingen, es bliebe ein Rest an Bewusstsein immer verschont in der Verwirrung – die Nacht ist ja ringsum; sie durchdringt das Bewusstsein nicht. Ein wohliger Schauder am Schrecklichen scheint darin aufbewahrt u.v.m.
In einem Idiom wie „Umnachtetsein steckt überdies eine Grunderfahrung mit unserer Sprache: Die Gegenstände erfahren oft merkwürdigste Verwandlungen, wenn sie aus dem Zustand als Ding in den des Sichereignens oder Tuns, also vom Nominalzustand ins Verb übergehen. Wenn die Nacht zum Verb wird, können wir ,über‘ die Nacht kommen und damit ,eigentlich‘ meinen: Die Nacht durchstehen oder überdauern. Oder die Nacht wird zu „nächtigen“ und wir reden so, als würden wir selbst zur Nacht. Und wenn wir statt „über“ das Präfix „um“ einsetzen, dürfen wir es nicht mehr aktivisch gebrauchen, weil es jetzt nur noch dement oder irrsinnig geworden meinen darf. Unsere Sprache ist ein Meister der stillschweigenden Verwandlung. Die Verwandlungswelt der „elemente“ ist eine Anverwandlung dieser Verwandlungsnatur unserer Alltagssprache.
Zudem: Viele Redewendungen sind sozusagen Formeln, in denen Verwandlungsvorgänge von Abstraktem in Konkretes und umgekehrt versinnlicht werden, bis uns diese seltsamsten Metamorphosen als alltäglichste Vorkommnisse erscheinen und die Grenzen von Innen- und Außennwelt, abstrakt und konkret, Bewusstsein und Objekt, Einbildung und Realität fließend werden: So sagen wir, man mache sich ,aus dem‘ Staub, als würde man sich wie eine Schmetterlingspuppe, aber willentlich, ,aus‘ dem Staub herausbegeben in ein anderes Element; als würde man sich überhaupt aus dem Staub, dem Inbegriff des Vergänglichen, herauswickeln. Wir sagen, man hätte eine „Eingebung“, als sei da etwas, das einem – wie die Taube in den mittelalterlichen Malereien am Ohr der Heiligen – etwas zuflüstere. Man sagt, wie im Eingangsbeispiel, etwas ,geht mir auf‘, als wäre ein Problem eine Art Sesam oder ein Gebäude, dessen Fenster sich von selbst öffnen können – oder als wäre ein Gebäude oder die Natur umgekehrt ein Sesam, dessen Zauberformel uns entschwunden ist. Sogar die Verwandlung von Raum in abstrakten Sinn und zurück ist also angelegt in unseren alltäglichen Idiomen. Von hier aus erhält die Rede, im Gedicht erschiene das Fremdeste als Eigentliches und Nähe als Ferne, das Künstlichste als Natur, das Selbstverständlichste als Artistik, einen handfesten Sinn: Das Gedicht entfaltet in gewisser Weise nur, was wir schon immer tun, ohne es ganz wahrhaben zu wollen. Dagegen wehren wir uns, mag die Verlockung groß sein, wie sie will, denn: Wenn wir dieser Entfaltung folgten, wären auch wir selbst nicht mehr dieselben. Wir müssen oder wollen – das wissen wir nicht genau – führt werden zur Verwandlung, um, wer weiß, zu uns selbst zu kommen. Dazu bedarf es der Artistik. Sie realisiert, was gängige „Lyrik“ nur verspricht.

Sebastian Kiefer, Akzente, Heft 4, August 2004

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00