Sebastian Kleinschmidt: Zu Hilde Domins Gedicht „Unterricht“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hilde Domins Gedicht „Unterricht“ aus Hilde Domin: Gesammelte Gedichte.

 

 

 

 

HILDE DOMIN

Unterricht

Jeder der geht
belehrt uns ein wenig
über uns selber.
Kostbarster Unterricht
an den Sterbebetten.
Alle Spiegel so klar
wie ein See nach großem Regen,
ehe der dunstige Tag
die Bilder wieder verwischt.

Nur einmal sterben sie für uns,
nie wieder.
Was wüßten wir je
ohne sie?
Ohne die sicheren Waagen
auf die wir gelegt sind
wenn wir verlassen werden.
Diese Waagen ohne die nichts
sein Gewicht hat.

Wir, deren Worte sich verfehlen,
wir vergessen es.
Und sie?
Sie können die Lehre
nicht wiederholen.

Dein Tod oder meiner
der nächste Unterricht:
so hell, so deutlich,
daß es gleich dunkel wird.

 

Unbekanntes Fach

– Zu einem Gedicht Hilde Domins über den Tod. –

Fast möchte man sagen, dem Tod, dieser härtesten Tatsache des Lebens und ewigen Wunde des menschlichen Geistes, wird in diesem Gedicht der Stachel genommen. Und zwar ganz einfach dadurch, daß es den so bitteren Ausgang des Lebens zu einer Art Unterricht macht, in dem die Sterbenden die Lehrer und die Weiterlebenden die Schüler sind. Welcher Stoff genau durchgenommen wird, bleibt ungesagt, gesagt wird nur, daß es ein kostbarer Unterricht ist. Kostbar vor allem deshalb, weil im Augenblick des Sterbens, an der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, wenn das Tosen der Welt endet, der Mensch die Summe seines Lebens zieht und zu einer philosophischen Konklusion über das Ganze des irdischen Daseins gelangt.

Alle Spiegel so klar
wie ein See nach großem Regen,
ehe der dunstige Tag
die Bilder wieder verwischt.

Hilde Domins von Rilke-Motiven durchzogene Verse vergegenwärtigen keine Gespräche mit Sterbenden. Sie resümieren eine Erfahrung. Nicht von Trauer und Verzweiflung ist die Rede, nicht von der Schwere und Fremdheit des Sterbens, sondern von Dankbarkeit für zuteil gewordenes Wissen. Es dürfte ein Wissen sein, das mehr umfaßt, als mit Worten gesagt werden kann. Die Erkenntnis reift, daß es die Toten sind, die die Lebenden tragen, und daß sie es sind, die dem Leben der Weiterlebenden Tiefe und Ernst geben. Vom Tod selbst, dem schlechthin Undurchdringlichen, gibt es kein Wissen. Doch der Sterbende kommt dem Unerforschlichen nahe, seine erschöpften Augen scheinen schon vorauszublicken in die andere Welt. Auf einmal verstehen wir, daß sich im Hinübergehen die Metamorphose der Geburt wiederholt, wenn auch auf entgegengesetzte Weise. Das rätselhafte Aus-der-Welt-Gehen ist ebenso unbegreiflich und geradeso übermächtig wie das Auf-die-Welt-Kommen. Der Sterbende selbst erhält Unterricht – in einem unbekannten Fach.
Doch worin besteht der Unterricht, den wir erhaltene Todgeweihte sind Lehrer in der Kunst, aus der Welt zu gehen, dem wohl schwierigsten Kapitel der Lebenskunst. Der Philosoph sagt: Das Leben, das wir dazu verbrauchen, uns dem Tode zu nähern, verbrauchen wir dazu, ihn zu fliehen. Aber an Sterbebetten, das will das Gedicht ja sagen, kann man den Tod nicht fliehen. Und daß der Sterbende letztendlich den Tod nicht flieht, sondern sich ihm ergibt und in diesem Sich-Ergeben ihn begreift und anerkennt, das ist der Unterricht. Und das ist auch die Lehre.
Aber Hilde Domin fragt ja hier nach dem Leben. Denn wir noch Ungestorbenen werden doch in der Sterbestunde der andern gewogen, und über uns wird befunden –

die sicheren Waagen
auf die wir gelegt sind
wenn wir verlassen werden.
Diese Waagen ohne die nichts
sein Gewicht hat.

Das Gedicht gibt zu verstehen, daß es die Toten sind, welche die Lebenden mahnen, daß sie sterblich sind und daß sie ihr Leben nicht vergeuden sollen. Und so wird der Tod, der schwarz gekleidete König, der uns sonst ängstigt und schreckt, zum unersetzlichen Lehrer, denn er begründet unser unabwendbar auf Vergänglichkeit gestelltes Weltverhältnis.
Ein Menschenalter später, und wir sind es, die hingenommen werden. Wer je bei einem Sterbenden gewacht hat, dem wird dies auch in seiner eigenen Abschiedsstunde helfen. Man nimmt sich vor, die Prüfung gleichfalls zu bestehen und die Lehre auch weiterzugeben.

Sebastian Kleinschmidt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.10.2006

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