Silke Scheuermann: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Spiegel“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Spiegel“ aus dem Band Rainer Maria Rilke: Die Sonette an Orpheus. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Spiegel

Spiegel: noch nie hat man wissend beschrieben,
was ihr in euerem Wesen seid.
Ihr, wie mit lauter Löchern von Sieben
erfüllten Zwischenräume der Zeit.

Ihr, noch des leeren Saales Verschwender –,
wenn es dämmert, wie Wälder weit…
Und der Lüster geht wie ein Sechzehn-Ender
durch eure Unbetretbarkeit.

Manchmal seid ihr voll Malerei.
Einige scheinen in euch gegangen –,
andere schicktet ihr scheu vorbei.

Aber die Schönste wird bleiben –, bis
drüben in ihre enthaltenen Wangen
eindrang der klare gelöste Narziß.

 

Das Orakel des Blicks

Als große, „blanke“ Flächen kommen Spiegel häufig in Rainer Maria Rilkes Gedichten vor; sie sind Mittel der Erkenntnis, der Erweiterung, des Übergangs und der Erneuerung. Das gilt auch für dieses dritte Sonett aus dem zweiten Teil der Sonette an Orpheus, die Rilke im Februar 1922 während seiner rasenden Schaffensphase im längst zum Pilgerort gewordenen Walliser Turm Muzot verfaßte.
Eingängig wie ein Schlager-Ohrwurm beginnt der Text: „Spiegel: noch nie hat man euch wissend beschrieben“, und im Wörtchen „wissend“ steckt schon der auf das Ganze abzielende späte Romantiker, der Seher, der mit großer Geste wegwischt, was vorher war, und der zum Schutze seiner persona für manche Entwicklung seiner Zeit, etwa die Psychoanalyse, nicht wie viele Kollegen als Proband zur Verfügung stand.
Es werden verschiedene Eigenschaften von Spiegeln aufgezählt. Sie seien, heißt es, die „wie mit lauter Löchern von Sieben / erfüllten Zwischenräume der Zeit“, „des leeren Saales Verschwender“, „wie Wälder weit“, „voll Malerei“. Die letzte Zeile der zweiten Strophe kennzeichnet sie als unbetretbar, dann widerspricht sich der Autor genüßlich, wenn er, wieder direkt an die magischen Gegenstände gerichtet, sagt:

Einige scheinen in euch gegangen.

In der Logik des Gedichts, die weitgehend eine Logik des Klangs und der Form ist, nimmt im Kopf des Lesers ein absoluter Spiegel Gestalt an, ein Gegenstand, der anscheinend so bedeutend ist wie das Leben und die Kunst an sich, gerade weil er den zahlreichen Wie-Vergleichen mit Haushalt, Metaphysik und Natur standhält. Nur durch dieses sprachliche Öffnen und Drehen des Spiegels wird seine Macht deutlich, als „Doppelgänger des Raums“ – diese Bezeichnung findet sich in einem Entwurf für das direkt vor diesem stehende Sonett – gleichsam Prüfstein zu sein für die Welt. Und wo wird glaubhaft, daß am Ende das Bild des Narziß steht, der von der Beschäftigung mit sich selbst abläßt und sich mit der „Schönsten“ vereinigt, indem er den Spiegel als Übergangstür benutzt.
Es ist ein rätselhaft-zauberisch anmutendes Eindringen, da man erfährt, daß „die Schönste“ an ihrem Platz in einem Raum „drüben“, also hinter dem Spiegel bleiben wird – mit „enthaltenen“ Wangen. Im Jenseits, im neu erschlossenen Raum – der theoretisch ja auch mit Angst besetzt sein könnte, als Hades, als Todesfeld – wirkt die Schönheit der Frau weiter: als hätten sich zwei Mythen einander anverwandelt, als wäre Orpheus, der Sänger, aufgegangen im Bild des Narziß und könnte die schöne, tote Eurydike nun zwar nicht heimführen, aber in jenem geheimnisvollen Innenraum des Spiegels bewahren. Auf diese Weise gelesen, endete das Sonett in einem betörenden Bild für – Erinnerung.
Virginia Woolf hat zehn Jahre später in ihrem „Brief an einen jungen Dichter“ geschrieben, es sei die Aufgabe des Dichters, Beziehungen zwischen den Dingen herzustellen, die auf den ersten Blick unvereinbar aussähen, aber doch über eine heimliche Zusammengehörigkeit verfügten. Dies gilt für dieses Rilke-Sonett, wenn so unterschiedliche Dinge wie Wald, Siebe, Lüster, Malerei und Narziß auf einer halben Textseite zusammenfinden, wo sich erst vor dem Spiegel Räume eröffnen und man an schillernde Ballsäle, zeitlose Tanznächte und rauschhaftes Leben denkt, bis man vom Dichter auf die Leere vor dem Spiegel gestoßen wird, wenn einige scheu vorbeigegangen sind, andere eindrangen. Auch dies läßt sich wieder auf die Leser beziehen: Gehen sie scheu am Gedicht vorbei? Dringen sie ein? Sind sie, und in diesem Fall wäre das sogar gut, so narzißtisch, sich in dem Gedicht selbst zu sehen? Lassen sie das Rätsel zu, das dieses Gedicht bis zuletzt darstellt?
Rilkes Brieffreundin und begeisterte Anhängerin Marina Zwetajewa hat Lesern nicht umsonst geraten:

Doch versucht euch an dem ganzen Rilke.

Rilkes „Spiegel” tauchen, wie auch die Figur des „Narziß“ und vor allem die „Engel“, immer wieder auf und werden durch die Bücher hindurch zu vertrauten Erscheinungen: Wie Bekannte, deren Geheimnis man nie restlos ergründen kann, die trotz wiederholter Begegnungen über die Jahre hinweg darin nichts eingebüßt haben, sondern selbstverständlich geworden sind in ihrem vertrauensvollen Glauben an die Heilsamkeit aller Übergänge, vom Leben in den Tod. Man erinnert sich bei der Lektüre an Andersens Märchen „Die Schneekönigin“, in dem ein teuflischer Spiegel in winzige Stücke zerspringt und die Scherben den Menschen in die Augen geraten, so daß die Getroffenen „alles verkehrt“ sehen, nicht mehr das Gute, sondern nur noch das wahrnehmen können, „was bei einer Sache verkehrt ist“: Dieser Teufelsspiegel hat vielen schon im Kindesalter Angst gemacht.

Silke Scheuermann, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg).: Frankfurter Anthologie. Zweiunddreißigster Band, Insel Verlag, 2008

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