Stefan Wieczorek: Zu Erich Arendts Gedicht „Orphische Bucht“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Erich Arendts Gedicht „Orphische Bucht“ aus Erich Arendt: Aus fünf Jahrzehnten. –

 

 

 

 

ERICH ARENDT

ORPHISCHE BUCHT
Für Peter Huchel

Meergerandet, groß
um den Felsen, stet
und stet, das weiße Auge
blickt. Die fühlbare Ferne.
Die Haut. – Möglich
alles: Im
Schnittpunkt, weither, der Sekunde
eine Welle von Eisen.
Knirscht.

Wurzelstumm
dein Tag, rede, Berg,
Eulenflucht aus der Zeit
an deiner Stirn.
aaaaaaaaaaaaaaDie sah
im Neigen der Felsen
meergetrieben
das Haupt.
Singen.

Berg, seit
der Zerrissene schrie,
du zähltest
die Todesenge,
aaaaaaaaaaaaaaFurcht.

Auch dein Schritt, ins
Leere gemalt, Freund,
versinkt,
aaaaaaaaund das Licht
steht, ein Dorn,
unter dem Lid mir. –
aaaaaaaSprach einer
den Morgenröten, fallenden
Rinden, hier? – Es
schweigt nur, Helle
durchschweigt
das Meergehöhlte.

So wirf
aaaaaaadein Netz,
blutrot, durchs Licht, das
der Schrei grauen Salzes
speist: Auf Welle
und Stein offen die
Maske des Worts:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaamorgen die
schreckende Stille.1

 

3.4 „Die fühlbare Ferne“: Orphische Bucht

Zum 60. Geburtstag Peter Huchels widmet Erich Arendt diesem das Gedicht „Orphische Bucht“.2 Bereits in Abschnitt 3.1.1 wurde ein Widmungsgedicht, dort eines („Südliche Insel“) von Huchel für Walter Jens, analysiert. Dabei war der Charakter als Widmungsgedicht nur ein Aspekt von mehreren Herangehensweisen. Gezeigt werden konnte allerdings, daß sich über die Widmung Elemente der Textgenese erarbeiten lassen. Im Falle von „Orphische Bucht“ soll eine derartig prädisponierte Lesart im Mittelpunkt stehen. Diese Methode der Texterschließung hat natürlich insofern Werkstattcharakter, als daß die bloße Tatsache einer Widmung noch nichts über deren Intensität, das heißt deren Bedeutung für ein Textverstehen, besagt. Widmungen können nachträglich entstehen, Ausdruck einer persönlichen Wertschätzung sein, aber auch Produkt der intensiven Auseinandersetzung mit dem literarischen Werk des anderen, mitunter sogar eine Aufforderung zum Dialog oder eine Antwort auf ein anderes Widmungsgedicht, auf der Suche nach einem ansprechbaren Du:

Das Gedicht will zu einem Anderen, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu.3

Bei „Orphische Bucht“ ist zu klären, inwieweit Arendt das Gedicht Huchel zueignet, zu-eigen macht.
Arendt schreibt in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre vereinzelt Widmungsgedichte. Aus der Exilzeit sind einige Texte bekannt, denen eine Zueignung vorangestellt ist, diese besteht jedoch meist nur aus Initialen, so daß sie, als persönliche Konnotation, außerhalb der Einheit des Gedichts stehen. Durch den Paratext der Widmung wird das Gedicht, das ja als autonomes Kunstwerk Bestand haben soll, an die Lebensgeschichte des Autors gebunden; daß solche Chiffren allerdings zwangsläufig eine ostentative Verweigerung aller Öffentlichkeit einschließen,4 ist damit nicht gesagt. Für den Rezipienten bedeutend – jenseits des Paratextes – wird die Widmung zunehmend dann, wenn sich der Text aufgrund seiner hermetischen Struktur herkömmlich kommunikativem Verstehen entzieht, und die Widmung einen neuen Zugang zum Text ermöglicht. So erhält „Hafenviertel II“ von Arendt eine zusätzliche (angelegte) politische Brisanz durch die Widmung „für Gérard“ / Artur London (vgl. Abschnitt 2.2.4), andererseits wird Huchels Gedicht „Winterpsalm“, das Hans Mayer zugeschrieben ist, zur politischen Provokation/Solidaritätsbekundung, nachdem Mayer seinen Lehrstuhl in Leipzig verlassen muß.
Wahrscheinlich aufgrund der Konkurrenzsituation von Widmung und Text widmet Arendt in den sechziger Jahren Gedichte auch wieder mit Initialen. Später geht er zu Vornamen über und stellt die Widmung dem Text nach.
Im Gedichband Agäis findet sich neben „Orphische Bucht“ nur ein weiteres Gedicht mit einer Widmung, ein „Lied“ für „K.H.A.“.5 Man darf also annehmen, daß die Tatsache der Widmung und auch deren Ausschreibung mit Bedacht geschehen ist.

In ihrer Untersuchung „The Orphic Voice“ führt Elisabeth Sewell den Zusammenhang von Poesie, Natur und (Lebens-)Geschichte beziehungsweise Existenz, wie er im Orpheus-Mythos angelegt ist, folgendermaßen aus:

POETRY is a form of power. It fell to early thougt to make that power visible and human, and the story of Orpheus is that vision and that mortality […] This story seems to say that poetry has power not merely over words and hence over thoughts, but also in some way over natural objects and their behavior, be they animate or inanimate; and to some extent, in conjunction with love, power over life and death as humans known and suffer them; that this power is almost indestructible and may turn, even in its own disaster, to something akin to prophecy.6

Um nachvollziehen zu können, wie Elisabeth Sewell zu dieser Interpretation kommt, die den Stoff des Gedichts ganz nah an die Themenstellung dieser Arbeit heranrückt, ist es sinnvoll, den Orpheus-Mythos zu skizzieren. Dann wird es auch möglich zu bestimmen, welche Aspekte des Mythos Arendt im Gedicht aktiviert: Orpheus, thrakischer Sänger, beherrscht seine Kunst, die er möglicherweise von Apollon selbst lernte, so gut, „daß sein Spiel und sein Gesang wilde Tiere bezaubert[e] und Steine und Bäume ihm folgen“ läßt.7 Er schließt sich den Argonauten an und rettet sie unter anderem mit seinem Gesang vor den Sirenen. Er heiratet Eurydike, eine Nymphe. Sie stirbt bald nach ihrer Hochzeit an einem Schlangenbiß. Orpheus steigt in den Hades hinab und erweicht mit seinem Gesang und Spiel Persephone, die ihm die Erlaubnis gibt, Eurydike mit zurückzunehmen. Orpheus blickt sich auf dem Weg aus der Unterwelt aber gegen sein gegebenes Versprechen um, und Eurydike ist für immer verloren. Er kehrt nach Thrakien zurück und findet auf grausige Weise den Tod: Er wird von den Kikonierinnen in Stücke gerissen. Die Musen sammeln die Körperteile auf und begraben sie. Nur der Kopf wird ins Meer gespült. Laut Sewell treibt der Kopf singend ins Meer und kommt erst in einer Höhle zu Ruhe, „where it prophesied day and night till Apollo himself bade it be silent.8
Arendts Gedicht ist keine lyrische Aufbereitung (Präsentation) des mythologischen Stoffes, im Sinne etwa eines Erzählgedichts. Unzureichend wäre es sicherlich auch, die Auseinandersetzung mit den Mythen nur als Versuch zu lesen, etwas „zwischen den Zeilen schreiben“9 zu wollen. Zwar bietet sich der Mythos als Folie zur Kommentierung aktueller Ereignisse im Gedicht an, ob dies aber der primäre Anreiz für die intensive Antiken-Rezeption in der DDR und vor allem in der älteren Dichtergeneration ist, scheint mir fraglich. Der Mythos hat für Arendt „die Funktion gewonnen, die in der Leidensgeschichte steckengebliebene Geschichte der menschlichen Gattung zu chiffrieren – und zu entziffern“.10 Seine Transformationen des griechischen Mythos unterscheidet sich meines Erachtens von seinen Dichterkollegen auch dadurch, daß der Mythos kein Archiv an Archetypen darstellt, sondern landschafts- und menschenformend ist.
Die Stimme des Gedichts spricht im Angesicht von Orpheus’ Tod. Ähnlich wie schon „Hiddensee“ spricht sie im fragilen Moment der Jetztzeit, in Erwartung eines Wendepunkts. Angesprochen wird die zeugnisgebende Natur, der Berg, den der Orpheus-Gesang, so der Mythos, einst versetzen konnte: „rede“. Und tatsächlich bezeugt die Natur das blutige Schicksal, „[…] sah / im Neigen der Felsen / meergetrieben / das Haupt. / Singen.“ Der Tod des Sängers macht auch der Natur ihr Sein zum Tode bewußt:

Berg, seit
der Zerrissene schrie,
du zähltest
die Todesenge,
Furcht.

Aktiviert werden also nur ganz spezifische Aspekte, nämlich die Macht der Poesie gegenüber der Natur und der Untergang des Orpheus.11
Das Gedicht spricht hier auch von sich selbst, von seinen Möglichkeiten. Denn im Gegensatz zu Sewells Interpretation des Mythos symbolisiert der Tod des Orpheus in Arendts Gedicht das Ende der Macht der Dichtung über die Natur. Der – buchstäbliche – Einklang ist zerstört, „[w]urzelstumm“ ist für die Poesie die Natur geworden, „Eulenflucht aus der Zeit“ an der Stirn. In diese Zeitlosigkeit kann der Sänger nicht folgen.
„Sprach einer / den Morgenröten, fallenden / Rinden, hier?“ – die Zwiesprache von Natur und Dichter ist beendet, angesichts des status quo ist die Tatsache, daß es sie jemals gab, schon fragwürdig geworden. Wer ist aber dieser „einer“? Im Zusammenhang mit dem Mythos ist zweifelsohne Orpheus gemeint, wenn wir von einem poetologischen Gedicht ausgehen aber auch eine poetologische Position, ein bestimmtes Verständnis vom Dichten. Auffällig sind „Morgenröten“ und „Rinden“ in der Charakterisierung. Warum dieses pars pro toto? – Gemeint ist auch der, dem das Gedicht gewidmet ist, beziehungsweise die poetologischen Prämissen seiner Gedichte. Der orphischen Dichtung, liegt, ähnlich wie bei Huchel, ein „Offenbarungs-Konzept“ zugrunde: „Schlüsselträgerin, schließ uns auf der Dinge Geheimnis“, so heißt es in der Nachdichtung der Orphischen Hymnen von Herder, die Huchel in Sinn und Form aufnahm.12 Auf den Charakter der Natur als Zeichensystem bei Huchel wurde bereits in Abschnitt 3.3 eingegangen. In Huchels Gedichten ist die Einheit von Poesie und Natur zwar nicht mehr intakt, die Motivation der Dichtung ist es aber, Lesarten der Naturzeichen zu entwickeln oder doch zumindest die nicht aufzuhebende innere Bewegung durch das Angesprochensein vom Weltbuch ABC festzuhalten:

Wo bist du, damals sinkender Tag?
Septemberhügel, auf dem ich lag
Im jähen blätterstürzenden Wind,
Doch ganz von der Ruhe der Bäume umschlungen –
Kraniche waren noch Huldigungen
Der Herbstnacht an das spähende Kind.
O ferne Stunde, dich will ich loben.
[…]
Die Erde fühlend mit jeder Pore,
Hörte ich Disteln und Steine singen.
Der Hügel schwebte. Und manchmal schoß
Den Himmel hinunter ein brennender Pfeil.
13
(Erstveröffentlichung 1953)

Unter der blanken Hacke des Monds
werde ich sterben,
ohne das Alphabet der Blitze
gelernt zu haben.

Im Wasserzeichen der Nacht
die Kindheit der Mythen,
nicht zu entziffern
.14
(Erstveröffentlichung 1972)

Zurück zu „Morgenröten“ und „Rinden“: Insbesondere das Motiv der (fallenden) Rinde macht nämlich einen wesentlichen Anteil an den Naturmetaphern Huchels aus. Im Zyklus „Der Rückzug“ findet sich in der sechsten Strophe sogar die Kombination beider Bilder (jedoch nicht exakt).15 Dieses Gedicht stammt allerdings schon aus dem Band Gedichte von 1948. Für Huchel aktuell wird das Motiv dann aber wieder in Gedichten, die er im Herbst 1962 veröffentlicht und die sowohl im engen Zusammenhang zu seiner biographischen Erfahrung (Ausschluß von Sinn und Form) stehen, als wohl auch zu den bekanntesten Texten von ihm überhaupt gehören. In „Der Garten des Theophrast“ lautet es:

Gedenke derer,
Die einst Gespräche wie Bäume gepflanzt.
[…] hier ging Theophrast,
mit Eichenlohe zu düngen den Boden,
Die wunde Rinde zu binden mit Bast
.16

Huchel greift das Motiv der Rinde gleich im folgenden Gedicht „Traum im Tellereisen“ nochmals auf:

Wind blättert
Ein Stück Rinde auf.
Eröffnet ist
Das Testament gestürzter Tannen,
Geschrieben
In regengrauer Geduld
Unauslöschlich
Ihr letztes Vermächtnis –
Das Schweigen
.17

Huchel selbst kommentiert das letzte Gedicht als „politisches Gedicht, es könnte genauso stehen: ,Gefangen bist du, Seele, gefangen bist du, Mensch‘.“18 Von hier aus ließe sich auch für „Orphische Bucht“ eine, nicht unschlüssige, politische Lesart ableiten, nämlich die Orpheus-Gestalt als Sinnbild für den als Dichter und Redakteur das Wort ergreifenden Peter Huchel, der durch die (Staats-)Macht zum Verstummen gebracht wird. Ich möchte aber die poetologische Lesart weiter verfolgen, da meines Erachtens diese der Anstrengung des Gedichts gerechter wird. Sie kann erst die Schlüsselstellung des Gedichts für den Band Ägäis und das damit einsetzende Spätwerk überhaupt aufzeigen.
Nach dem 23. Vers wechselt die Perspektive des Gedichts. Wird in der vorhergehenden zweiten und dritte Strophe der Tod des Orpheus in der Leiderfahrung der Natur memoriert, so wird in den letzten beiden Strophen die Konsequenz aus diesem Tod gezogen. Interessanterweise als Ansprache an einen „Freund“. Unterbrochen wird diese Bilanz durch das zitierte Erinnerungsfragment. Ton Naaijkens hat bereits darauf hingewiesen, daß die Sprechweisen im Gedicht alle auf die Grenze zwischen Sprechen und Schweigen anspielen.19 Die letzte Strophe kann als Metapher für das Dichten gelesen werden, wobei dann die Maske auf die griechische Tragödie verweist:

So wirf
aaaaaaadein Netz,
blutrot, durchs Licht, das
der Schrei grauen Salzes
speist: Auf Welle
und Stein offen die
Maske des Worts:
morgen die schreckende Stille
.20

Bereits in „Südliche Insel“ und „Hiddensee“ war der Fischer Hoffnungs- und Schöpfermotiv. Arendt überschreibt ein ganzes Konvolut seiner Gedichte Aus fünf Jahrzehnten mit „Und wirf die feurigen Netze“.21 In „Schwimmend vor Delischer Küste“ wird das Netz schließlich mit dem Singenden/Dichtenden gleichgesetzt:

Treibender Fels ich, im
starrenden Umkreis, gram-
offen die Leere des
Himmels, alternd.

Netz, das einfängt
die Tage Vergeblichkeit,
treibend, zählend,
zuweilen Gesang
.22

Beim Motiv der Fischer/Netze stehen sich Arendt und Huchel nahe. So wie Arendt das Motiv in Verbindung mit dem toten Orpheus bringt, beendet Huchel die „Elegie“ auf Homer mit dem Netz, das ihn, todkrank erwartet:

[…]
Wo am Gestade
Die Knaben warten
Mit leeren Netzen
Und Läusen im Haar
.
23

Das Fischen, poetologisch gelesen, der schöpferische Vorgang wird zu Erinnerungsspur. Bei Huchel:

Sie fuhren hinaus.
Schlafgraues Netz,
Noch einmal zog es durch ihr Leben
Und durch die Stille hoher Wasser.
Es riß das algenbefranste Tau
.24
(„Chiesa del Soccorso“)

Poetologische Konsequenzen
Drei Aspekte kennzeichnen in „Orphische Bucht“ das Netzauswerfen nach dem Gesang: Das Licht, in dem das Netz ausgeworfen wird, speist sich aus Salz, der Tränenessenz, blutrot zeugt das Netz vom Mord, erwartet wird die „schreckende Stille“. Arendt wiederholt hier drei Aspekte, die er in der vorhergehenden Strophe ausgeführt hat: Für das arendtsche Gedicht ergeben sich mehrere Konsequenzen aus der Auslöschung des Orpheus-Modells der Dichtung. Der Mittelteil von „Orphische Bucht“ gibt Auskunft, was unter dem skizzierten „So wirf / dein Netz“ zu verstehen ist. Dichtung realisiert sich nun in drei Prämissen:25

(1) Im schmerzhaften, leiderfüllten Licht: „und das Licht / steht, ein Dorn, unter dem Lid mir“.

(2) Im Angesicht der Vergänglichkeit: „Auch dein Schritt, ins / Leere gemalt, Freund, / versinkt“.

(3) Im absolut werdenden Thema der Dichtung, nämlich im Schweigen: „[…] Es / schweigt nur, Helle / durchschweigt / das Meergehöhlte“.

Die Poetologie, die diese drei Aspekte markieren, ließe sich wie folgt umreißen:

(1) Zukünftige Naturrezeption im Gedicht erfolgt in diesem Lichte des Leidens und der zerstörten Zwiesprache, „und das Licht / steht, ein Dorn, unter dem Lid mir“.

Dies ist kein Licht im Sinne einer romantischen Beleuchtung, und es ist auch nicht mehr die Lichtmetapher der Aufklärung, die den Gegenstand erhellt. Nichts bleibt von dem „leisen Licht“ aus „Hiddensee“ oder vom „Licht der fröhlichen Sonne“,26 wie es Orpheus Betrachtung der Natur ermöglichte:

Erstgeborenes, du, das aus dem Eie der Nacht sich
Hoch in den Äther schwang, und droben auf goldenen Flügeln
Regend erfreuet: o du, das Götter und Menschen erweckte:
Licht! o du mächtiges, zartes, du vielbesungenes, und dennoch
Unaussprechlich; geheim, und allenthalben im Glanze
Strahlend. Du nahmst die Nacht von unserm geschlossenen Auge
[…]27

Um anzudeuten, daß es sich hierbei tatsächlich um eine Zäsur im Schaffen Arendts handelt, möchte ich einige Beispiele aus Gedichten der späten sechziger/frühen siebziger Jahre heranziehen. Landschaft als Gegenstand der Dichtung ist nur noch in ihrer Kontur erkennbar, kaum noch im Detail. Das Auge dient nicht mehr der Wahrnehmung der Natur sondern wird ein fühlendes Sinnesorgan

das hautdünne Licht,
schmerzt hart
unters Lid,
am Schläfenbein
silhouettene
Stille
28
(„Kraterzerissen“)

Die Natur ist der Ort, wo der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen wird. Nicht, indem er sich in die Natur versenkt, sondern indem diese sich zurückzieht bis auf wenige Elemente wie Meer, Fels, Stein, Sand:

Freund,
Stein
und Flut bist du
selber. Auge
der Wandlung.
Auge
.29
(„Erwachend“)

Das Auge erforscht nicht mehr die Außenwelt; dazu ist es zu geschädigt, durch „Blendung“30 („Der Morgen“) und „Blickstarre“31 („Steingitterzeichen“) – letztlich:

Stein alles –
mein Blick.
(„Niobe“)

In diesem Sinne, nämlich der Negation des Blicks, führen die „Erfahrungen des Auges zu einer unmittelbaren, oft neuen Erfahrung der Sprache“.32 Nicht das Auge erforscht mehr die Landschaft, sondern die Sprache erforscht ihre eigensten Möglichkeiten.
Diese nun stärker werdende Tendenz hin zum hermetischen Gedicht zeitigt sich in dem anderen angesprochenen Text neben den Anklängen an die huchelsche Sprachwelt. Auf diese zweiten Textwelt wird im Gedicht nicht nur angespielt wird, sondern sie ist als Zitat integriert. Die Landschaft, der Berg wird mit einem Attribut versehen, das aus der celanschen Dichtung übernommen wurde: „Eulenflucht aus der Zeit / an deiner Stirn“. „Eulenflucht“ ist celansches Sprachmaterial aus der „Engführung“.33 Wolfgang Emmerich hat schon auf den großen Einfluß des Bandes Sprachgitter auf Arendt hingewiesen.34 Abgesehen von einer solch wörtlichen Aneignung lassen sich in „Orphische Bucht“ noch weitere Spuren intensiver Rezeption Celans andeuten. Das Motiv der Stirn, das Arendt in Verbindung mit „Eulenflucht“ bringt, hat Celan ebenfalls für ein Landschaftsgedicht benutzt und zwar ebenfalls in Verbindung mit einer Extemporalität:

Ölgrün, meerdurchstäubt die
unbetretbare Stunde. Gegen
die Mitte zu, grau,
ein Steinsattel, drauf,
gebeult und verkohlt,
die Tierstirn mit
der strahligen Blesse
.35
(„Entwurf einer Landschaft“)

Auch die Netz-Metapher läßt sich, wenn auch keineswegs zwingend, im Kontext der celanschen Metaphern lesen.

So wirf
dein Netz
[…]: Auf Welle
und Stein offen die
Maske des Worts
[…]

Wenn sich die Verse nach dem Doppelpunkt auf das Netz beziehen, dieses also zur Maske des Worts wird, liegt der Vergleich mit dem Sprachgitter36 nahe. Das Gedicht verwirklicht so einen Teil des poetologischen Programms der Neuorientierung, das es hervorbringt, in der Hervorbringung selbst. Dies gilt auch für die folgenden Aspekte.

(2) „Auch dein Schritt, ins / Leere gemalt, Freund, / versinkt“ – in diesen Versen wird eine deutliche Parallele zwischen Orpheus und dem angesprochenen Du gezogen. Doch die Vergänglichkeit ist eine spezifische: Nicht allein die existentielle, unvermeidliche Sterblichkeit wird hier thematisiert, sondern das gewaltsame Auslöschen, „blutrot“. Die „Maske des Worts“ ist derart gefärbt. Der Tod in Arendts Gedichten ist selten ein existentielles Ereignis, sondern meist geschichtlich, gewalttätig.
Der Vers gibt aber auch Auskunft über den Produktionsvorgang:

Die Weise, in der sich das Subjekt hier pluralisiert und auflöst, sich in sein Produzieren verliert, bringt ein Sprechen mit, das die Anwesenheit eines zugrundeliegenden Subjekts offenläßt: das Subjekt hat sich insofern vom Text gelöst, als es im Text verschwunden ist […] Offenbar ist das Subjekt ein Schatten, der unerkennbar im Hintergrund bleibt […]37

Ergänzen möchte ich: ein Schatten unter anderen Schatten, denn dadurch, daß das Subjekt unweigerlich vergeht, ist es dem schon Vergangenen gleich; das Sprechen des Gedichts wird polyphon: „Mit den Schatten saß ich / an Eisentischen.“38 („Hafen Empedokles“) Schattenreiche sind Totenreiche.

(3) „[…] Es / schweigt nur, Helle / durchschweigt / das Meergehöhlte“ – Schweigen ist nicht bloß Abwesenheit von Sprache und Laut, sondern aktive Äußerung. Es ist Reaktion auf den und Repräsentation des Untergangs des Orpheus, als Dichtergestalt aber wohl auch als humane Chiffre überhaupt. Das Schweigen in Worte zu fassen, dieses Paradox wird zur Aufgabe der modernen Dichtung:

Stehen
Auge in Aug, die
Schläfen umkreist,
im Hellen, singen
singen das Schweigen
uns zu
.39
(„Mahl“)

Dichtung im 20. Jahrhundert muß sich dem „horror vacui“ stellen.
Schweigen und Stille in Arendts Lyrik sind aber auch eine Reaktion auf Naturerfahrung. Ähnlich wie schon die Kunsterfahrung konstituiert sie sich aber nicht inhaltlich, beschreibend im Gedicht sondern in der Sprachverfassung des Gedichts:

Das Auseinandergehen der Worte in dem Gedichtband Ägäis entspricht dem Vordringen des Ozeans in der realen Ägäis. Es wird eine Sprachbewegung sichtbar, die die alltägliche Syntax zu zerstören versucht und einzelne Worte absondert. Zum ersten Mal fangen Zeilen an zu brechen, zu schwimmen, zum ersten Mal laufen die Worte quer über die Seite […] Die ägäische Erfahrung hat offenbar eine Sprechweise mit sich gebracht, die buchstäblich, vorsichtig und genau ist, da sie vor einer direkten Aussage zurückschreckt, innehält vor dem so stark anwachsenden Schweigen. Sie ist konkret fasziniert von der intensiven Stille der Felsen und der Wellen.40

Die Pause zwischen den Worten, die ja das Ende des Sprechens bedeuten kann, verlängert sich auch graphisch. Jede Leerstelle zwischen den Worten ist ein Zögern, das auch ein endgültiges sein kann. Gleichermaßen hält vielleicht jedes Wort auf das eigene Verstummen zu, ist die Pause, das Schweigen das Eingeständnis der eingeschriebenen Unzulänglichkeit der Worte ringsum. So liegt in jedem Augenblick des Schweigens des Gedichts das Moment der Skepsis gegen die Möglichkeiten des Gedichts und ein Moment der Achtung zugleich.
Arendt hat in einem seiner Gedichte eine treffende Metapher für das Naturbild seiner Gedichte ab Agäis gefunden: „Glanzzerschriene Stille.“41 („Der Morgen“)
Huchel bedankt sich bei Arendt in einem Brief am 28.4.1963 „für das schöne Gedicht, das Du mir zugeeignet hast.“42 Er selbst möchte Arendt ein „Buch, nach Auswahl“ schenken, da Arendt ja auch selbst 60. Geburtstag feierte.
Ein Widmungsgedicht für Arendt publiziert Huchel zeit seines Lebens nicht. Die Gründe dafür dürften vielfältig sein: Monica Huchel bekundete, daß Huchel unter den wenigen Widmungsgedichten, die er geschrieben hat, später quasi „gelitten“ habe, da er nun auch „auf diese Mode eingeschwenkt sei“.43 Erinnert sei auch an Huchels Ärger darüber, daß Arendt einmal einen Vers/Metapher von ihm integriert haben soll:

Er (Huchel, S. W.] erzählte mir, wie Arendt einmal eine Wendung von ihm übernommen, sie auf seine Intervention dann gestrichen habe: „Seitdem zeige ich niemandem mehr ungedruckte Texte.“44

Hinzu kommt die größere poetische Distanz, die wie gezeigt ab den frühen sechziger Jahren gemeinsame Tendenzen und Herkünfte verschüttete. („Orphische Bucht“ stellt aber keineswegs eine Aufkündigung des Dialogs dar; wie es Arendt eigen ist, integriert er in jede seiner poetischen Progressionen die vorhergehende Entwicklungsstufe: In Memento und Bild stellt Arendt dem Gedicht „Kein Korn kein Rauch“ einen Vers aus „An taube Ohren der Geschlechter“ von Huchel voran.)45
Huchel vermeidet in seinem kurzen Dank jede poetische Konfrontation. Schon im Falle von Günter Eichs selbstkritischem und gegenüber der Naturlyrik skeptischem Widmungsgedicht „Nicht geführte Gespräche“ hat Huchel anscheinend die poetologische Ebene nicht wahrgenommen beziehungsweise nicht kommentieren wollen.46
Die Prämissen, die Arendt in „Orphische Bucht“ formuliert, wurden von Huchel nicht geteilt. Er blieb bei dem Gespräch mit der Natur, auch wenn die Antwort ausbleibt, oder gerade deswegen: Natur ist mehr denn je ein Konzept, um die eigene Existenz und die geschichtliche Situation des Menschen auszuloten. Fixpunkt dieser Reflexion ist das Subjekt, das sich bei Arendt auflöst, in Schatten, in Stimmen:

Hier und über diesen Raum schreibt man keine Naturlyrik: die Klarheit der Landschaft liegt ja nicht nur in den Konturen der Natur, sondern im Gesicht der Menschen, ist eingemeißelt in die Gegenstände menschlicher Arbeit, in Kreativität selbst.47

Stefan Wieczorek, aus Stefan Wieczorek: Erich Arendt und Peter Huchel. Kleine Duographie sowie vergleichende Lektüre der lyrischen Werke, Tectum Verlag, 2001

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