Stevan Tontić: Handschrift aus Sarajevo

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Stevan Tontić: Handschrift aus Sarajevo

Tontić-Handschrift aus Sarajevo

SOMMER 88, KONSONANTEN
für Emir Kusturica

Die scharfen, erregten, durchbebten
Konsonanten s, r, b
schlüpfen von Mund zu Mund,
gehn um wie ein Gespenst in Jugoslawien,
winseln, schwören und zischeln
stammeln in gerechtem Zorn,
fegen über Berg und Tal,
sensen durchs Flachland,
rufen einander im Finstern
flüstern im Herzen der Geisel, des Einsamen,
umkreisen die Klöster,
betrommeln Gottes Ohr,
gipfeln den Blutdruck
und stürzen in Panik

Einige schieben Riegel vor,
andere jubeln,
manche rufen mich ans Telefon:
Wen? Wann? Was?
Barbaren ante portas!

Die durch die Spione spähen,
schrein, als ob sie Fluten sähen.

Einem geht das Herze über;
dem anderen macht Angst zu schaffen –
die Straßen wehn von Gold und Silber
vergehn in Flut aus Schlamm und Blei
von Völkern und Völkerschaften.

 

 

 

Mit Gedichten leben

Vom Platz der Dichterbüsten in Sarajevo verschwand immer wieder auf geheimnisvolle Weise ein Kopf – es war der Kopf des Märchenschreibers Branko Ćopić.

So beginnt Stevan Tontić ein Prosagedicht über die gekidnappte Dichterbüste, die gelegentlich auf dem Polizeirevier übernachtete:

guten Geistern in der Höhe abwesend zulächelnd.

Tontićs Texte treten dem deutschen Leser bitter lächelnd entgegen. Zynismus läßt der erlebte Schrecken allerdings nicht zu. Wer nach so einem Bürgerkrieg weiterleben will, braucht alle Kraft und einige Gründe dafür. Stevan Tontić befindet sich in einem fortwährenden Selbstgespräch zu diesen Fragen. Der Leser ist ein Teil seines Selbst, häufig auch ein Wesen, das er als „Gott“ ansprechen möchte – manchmal ist es nur der scheinbar teilnahmslose Beobachter, der die Umstände plaudernd erklärt. Und sie mit feiner, kaum wahrnehmbarer Ironie verhüllt, um die Konturen deutlicher hervortreten zu lassen. Zum Beispiel die Geschichte über die schweigenden Telefone in S., die für streng kontrollierte Gespräche aktiviert werden sollen. Natürlich will dann keiner mehr telefonieren…
Stevan Tontić studierte einmal Philosophie und Soziologie und arbeitete als serbischer Lyriker und Verlagsleiter in Sarajevo, als alles losging. Also in Bosnien. Als Lyriker veröffentlichte er zahlreiche Bände, wird häufig übersetzt – auch die Gedichte dieses Bandes liegen schon in polnisch, ungarisch, russisch und französisch vor. Er übersetzt regelmäßig aus dem Deutschen.
In dieser Eigenschaft lernte ich ihn zuerst kennen, die Unterschiede zwischen ost- und westdeutscher Literatur waren für ihn nicht so wichtig. Im Mittelpunkt steht der Text. Er gehörte zu meinen ersten Übersetzern überhaupt und störte sich nicht an meiner Verhaftung wegen des ersten Buches. In Jugoslawien schien vieles möglich.
Seine ins Deutsche übersetzten Gedichte wirken spielerisch, intelligent und erinnern ein wenig an Vasko Popa, den verstorbenen Altmeister moderner serbischer Dichtung, aber vielleicht oute ich mit so einem Satz nur mein begrenztes Sprachvermögen Mit dem Krieg werden Tontićs Verse ernster und streben weiterhin Vollendung oder wenigstens Brillanz an.
Wir sahen uns in den achtziger Jahren in einem Café in der Friedrichsstraße. Stevan war in Westberlin zu Besuch und mußte bis Mitternacht durch das Nadelöhr der DDR (die Grenzkontrolle) zurück in die nahferne Halbstadt. Wir palaverten eine mögliche Einladung für mich nach Jugoslawien aus. Wir sprachen über Spannungen nach Titos Tod. Ich las immerhin eine jugoslawische Zeitung in deutscher Sprache. Die Konflikte zwischen den Völkern deutete auch dieses Blatt nur an. Für Stevan galt die Devise: Dichter aller Sprachen, vereinigt Euch! Die Poeten aus Slowenien, Kroatien, Serbien, Bosnien und Mazedonien kannten und achteten einander. Was sollte da jemals anders sein?
Wenn wir heute darüber sprechen, vermag der bis zuletzt für Versöhnung und gegen den Krieg agierende Dichter viele Gründe und politische Fehler zu nennen. Wie bauen sich Spannungen Schritt für Schritt auf? Wie schlittert eine Gesellschaft unmerklich in einen Bürgerkrieg? Wie schüren dies machtgeile Politiker? Es gibt Antworten. Und es gibt eine alles erschütternde Ratlosigkeit, weil keine der Antworten den Wahnsinn erklärt. Auch die Dichter beschimpften und beschossen einander. Manche politisch-fanatische Scheingröße sieht sich als mißverstandener Lyriker.
Stevan Tontić weiß, in welcher Gesellschaft er schreibt. Drei Armeen wollten ihn als Kampfmaschine benutzen (Serben, bosnische Armee, muslimische Milizen). Er zögerte lange, bis er nach Deutschland floh. Treue zu seiner Stadt, zu seinen Freunden verhinderte den Abschied. Doch wenn sich die Alternativen darauf beschränken, im richtigen Moment zu sterben, dann wird es Zeit zu gehen. Und nun lebt und schreibt er in Deutschland. Verlegt immerhin schon wieder in regierungskritischen Verlagen Serbiens und will auch wieder aus dem Deutschen übersetzen.

Ich habe oft Kinder und alte Frauen bewundert. Als wir während der Angriffe im Keller sitzen mußten. Manchmal trösteten Kinder ihre weinenden Eltern.

Stevan Tontić erzählt sparsam vom Leben im Krieg. Nichts ist vorbei, verraten seine Gedichte. Und versuchen doch, den Ort zu verlassen, an dem die Zeit als Alptraum erstarrt war. Sarajevo, eine Kulisse, die nach einem neuen Stück sucht. Die Erinnerungen dürfen nicht zum Gefängnis werden, das Labyrinth als Alternative. Irgendwo ist immer ein Ausweg. Denn Stevan ist ein so friedlicher und liebevoller Mensch, daß er höchstens einer Fliege etwas antun kann. Einer sehr lästigen.
Wie ging das mit der Büste von Branko Ćopić weiter?

Wenn aber Ćopić umgestürzt dalag, auf dem Sockel oder im Staub daneben, fühlte ich mich ein wenig besser: ich wischte ihm den Krampf des Entsetzens (zusammen mit Spuren von Taubendreck) von der rissigen Stirn.

Ja, so ist er, der Stevan Tontić. Und die wieder aufgestellte Büste erinnert ihn daran, den eigenen Kopf in Sicherheit zu bringen – „unter das Dach eines guten Bekannten, sollte der noch am Leben sein.“

Lutz Rathenow, Nachwort

 

Die Gedichtsammlung

Handschrift aus Sarajevo wurde hauptsächlich während des Krieges in der belagerten Stadt geschrieben. Angegriffen in der Presse als „Verräter“, der nicht mitmachen wollte – um sich selbst, seine Freunde und seine Poesie nicht zu verraten – mußte der Dichter nach einem Jahr der Hölle aus der Stadt fliehen. Seit 1993 im Berliner Exil, wo er von Lesungen und ihm gelegentlich zuerkannten Stipendien lebt, getrennt von seiner Familie, die ihr Flüchtlingsleben in Belgrad führt.

Landpresse, Ankündigung

 

„Manchmal trösteten Kinder ihre weinenden Eltern“

Stevan Tontić lebt seit fünf Jahren in Deutschland. Von allen vor dem Krieg geflüchteten Dichtern aus Bosnien, scheint er etwas besonderes zu sein. Wie sagte es der aus Kroatien in die Frankfurter Allee (Berlin) übersiedelte Dichter Marian Nakitsch:

Bei dem Tontić kann etwas nicht stimmen, über den erzählen alle nur Gutes.

Damit trifft er einen Kern des Werkes eines Dichters, der sich im Grunde als ein Autor des unvergangenen Jugoslawien betrachtet. Und als jemand, der Böses mit Engagement für Besseres vergelten will. In den Gedichten und im Leben.

Vom Platz der Dichterbüsten in Sarajevo verschwand immer wieder auf geheimnisvolle Weise ein Kopf – es war der Kopf des Märchenschreibers Branko Copic.

So beginnt Tontić’ Prosagedicht über die gekidnappte Büste, die gelegentlich auf dem Polizeirevier übernachtet:

guten Geistern in der Höhe abwesend zulächelnd.

Tontić’ Texte treten dem deutschen Leser bitterlächelnd entgegen. Zynismus läßt der erlebte Schrecken nicht zu. Die Gedichte sind fortwährendes Selbstgespräch zu dem unfaßbaren, was dort passiert ist. Der Leser als ein Teil seiner Selbst. Oder ein Wesen, das Tontić als „Gott“ ansprechen möchte. Manchmal wird er zum scheinbar teilnahmslosen Beobachter, der die Umstände plaudernd erklärt. Und sie mit feiner Ironie verhüllt, um die Konturen deutlicher hervortreten zu lassen. Zum Beispiel die Geschichte über die schweigende Telefone in S., die für streng kontrollierte Gespräche aktiviert werden sollen. Natürlich telefoniert dann keiner mehr.
Stevan Tontić studierte einmal Philosophie und Soziologie und arbeitete als serbischer Lyriker und einflußreicher Verlagsleiter in Sarajewo. Als Lyriker veröffentlichte er viel. Auch dieses Buch liegt schon in französischer, ungarischer, polnischer und russischer Übersetzung vor. Tontic übersetzt regelmäßig aus dem Deutschen. In dieser Eigenschaft lernte ich ihn kennen, die Unterschiede zwischen ost- und westdeutscher Literatur waren ihm nicht so wichtig. Im Mittelpunkt steht der Text. Er gehörte zu meinen ersten Übersetzern überhaupt und störte sich nicht an meiner Verhaftung in der DDR wegen des ersten Buches. In Jugoslawien schien vieles möglich. Für einen DDR-Bürger war es 1980 schon der Inbegriff eines freien Landes. Eines, in das ich nicht kam. Seine eigenen ins Deutsche übertragenen Gedichte wirkten spielerisch und intelligent. Sie erinnerten ein wenig an Vasko Popa, den verstorbenen Altmeister moderner serbischer Dichtung. Mit dem Krieg werden Tontić’ Verse ernster und streben weiterhin Vollendung oder wenigstens Brillanz an.

Etwas über die Verteidiger. Zuerst plünderten sie ihre Stadt, dann nahmen sie sich vor, sie zu verteidigen

Wir sahen uns in den achtziger Jahren mehrmals in einem Café in der Friedrichstraße. Stevan war in Westberlin zu Besuch und mußte bis Mitternacht durch die Grenze – das Nadelöhr der DDR – zurück in die nahferne Halbstadt. Wir palaverten über eine mögliche Einladung nach Jugoslawien. Wir sprachen über die Spannung nach Titos Tod. Ich las immerhin eine jugoslawische Zeitung in deutscher Sprache. Internationale Politik, ein Parteiorgan aus Belgrad. Bestellen über den Zeitungsvertrieb konnte man sie nicht. Aber jeder, der darum bat, bekam sie kostenlos zugeschickt. Die meisten Hefte ließ der DDR-Zoll passieren. Die Konflikte zwischen den Völkern deutete freilich dieses eben doch sehr offiziöse Blatt nur an.
Für Stevan galt damals wie heute die Devise: Dichter aller Sprachen, vereinigt Euch! Die Poeten aus Slowenien, Kroatien, Serbien, Bosnien und Mazedonien kannten und achteten einander. Was sollte da jemals anders sein?
Wenn wir heute darüber sprechen, vermag der bis zuletzt für Versöhnung und gegen den Krieg agierende Bürger-Dichter viele Gründe und politische Fehler zu nennen. Wie bauen sich Spannungen Schritt für Schritt auf? Wie schlittert eine Gesellschaft unmerklich in den Bürgerkrieg? Wie schüren dies machtgeile Politiker? Es gibt Antworten. Und es gibt eine alles erschütternde Ratlosigkeit, weil keine der Antworten den Wahnsinn erklärt. Auch die Dichter beschimpften und beschossen einander. Manche politische Größe sieht sich als mißverstandenen Lyriker. Drei Armeen wollten Tontić als Kampfmaschine haben (die Serben, die bosnische Armee, muslimische Milizen).

ELEGIE FÜR EINE KATZE UND IHRE KÄTZCHEN

Der Asphalt glänzt, der Platz, von Kinderhirn
benetzt, selbst einer Katze ist der Hinterleib zerfetzt.

Die Leute lugen, die Sonne klimmt, hat keine Zeit.
Mein Gott, die Jungen liegen aufs Pflaster hingestreut.

Die Kätzchen zittern, die Luft ist noch wie Eis,
nackt und bloß im All, im Raum von Blutgier heiß.

Er zögerte lange, bis er nach Deutschland floh: Treue zu seiner Stadt, zu seinen Freunden. Wenn sich die Alternativen darauf beschränken, im richtigen Moment zu sterben, wird es Zeit zu gehen. Und nun lebt und schreibt er fast genau fünf Jahre in Deutschland. Verlegt immerhin schon wieder in regierungskritischen Verlagen Serbiens und will aus dem Deutschen übersetzen und bald zum ersten Mal wieder in Belgrad lesen.

Ich habe oft Kinder und alte Frauen bewundert. Als wir während der Angriffe im Keller saßen. Manchmal trösteten Kinder ihre weinenden Eltern.

Stevan Tontić erzählt sparsam vom Leben im Krieg. Nichts ist vorbei, verraten seine Gedichte. Und versuchen doch den Ort zu verlassen, an dem die Zeit zum Alptraum erstarrt war. Sarajevo, eine Kulisse, die nach einem neuen Stück sucht. Nicht mit Tontic als Darsteller, das hielte er nicht aus. Nicht nur, weil in seinem ehemaligen Haus andere Leute wohnen. Die Erinnerungen dürfen nicht zum Gefängnis werden, das Labyrinth als Lebensalternative. Irgendwo ist immer ein Ausweg. Denn Stevan ist ein friedlicher und liebevoller Mensch, der höchstens einer Fliege etwas antun kann. Einer sehr lästigen.
So erlebten ihn auch die Zuhörer in Jena, auf einem von Jürgen Fuchs organisierten Symposium. Neben Tontic ein kroatischer Autor, der von den Sprachdiktaten der Machthaber dort erzählte. Er verstand sich prächtig mit Stevan Tontic, der seine Poetik in einem Satz zusammenfaßte: Schreiben, um nicht wahnsinnig zu werden. Es gibt wenig Lyrik, der man das nach ihrer Lektüre sofort glaubt. Seine gehört dazu. Und brauchte noch mehr Resonanz in ihrem neuen Gastland. Und ihr Autor braucht Einladungen und Arbeitsmöglichkeiten. Und die deutschen Leser seine Bücher, die trotzdem oder deshalb ihre komischen Seiten haben.
Wie ging das mit der Büste von Branko Copic weiter?

Wenn aber Copic umgestürzt dalag, auf dem Sockel oder im Staub daneben, fühlte ich mich ein wenig besser: ich wischte ihm den Krampf des Entsetzens (zusammen mit Spuren von Taubendreck) von der riesigen Stirn.

So schreibt Tontić und könnte sich nicht besser porträtieren. Und die wieder aufgestellte Büste erinnert ihn daran, den eigenen Kopf in Sicherheit zu bringen „unter das Dach eines guten Bekannten, sollte der noch am Leben sein.“

Lutz Rathenow, Ostragehege, Heft 13, 1998

 

’s Krieg

(…)

Bevor Stevan Tontić sich dieser tödlichen Musik entzog, erlebte auch er den Krieg in Sarajevo: zerstörte Straßen, zerschmetterte Schädel, Knochen, verstörte Kinder, Tiere, Stimmen und Seelen. Die Handschrift aus Sarajevo mit rund dreißig dokumentarischen Gedichten hatte Tontić vor seiner Flucht aus der Stadt herausgeschafft. Es sind – manchmal unerträglich realistische – lyrische Berichte. Da ist vom Bangen und vom Mangel die Rede, von einem freiheitsliebenden Hund und einer verletzten Katze, die nicht eingeschläfert werden soll, solange ringsum das Töten herrscht. Das Reiskorn wird von den Unterernährten als ein glückbringender Kristall gefeiert, andererseits hungert ein junger Mann absichtlich, aus Furcht vor der Mobilisierung:

ein Kilo Soldat trägt ein Kilo Eisen.

In die kritischen Töne über die neuen bosnischen Machtstrukturen mischt sich bei Tontić immer wieder die Wehmut über den plötzlichen Verlust der Heimat:

Ohne sich von der Schwelle gerührt,
ohne sich vom Rocksaum der Frau einen Zoll entfernt zu haben,
wachte ich in einem neuen Staat auf.

Anfangs glaubte er „an die letzten Reste von Verstand“, aber eines Tages entdeckt er: Die Veilchen in der Wohnung waren gewelkt, die Schlange schlief auf den Manuskripten, der Rabe krächzte über dem Küchentisch, der Mörder machte sich an das Nachbarmädchen heran. Hier war kein Bleiben mehr.

Heute teilt Stevan Tontić das Schicksal vieler Heimatloser. In dem Gedicht „Das Grab“ beschreibt er seinen Standort:

Im Niemandsland,
in klingender Leere.
Frei von der Heimat,
frei von der Geschichte
… In der klaren Sternenflamme. Im All.

Mirjana Wittmann, Die Zeit, 23.12.1994

 

„Ohne Hoffnung kann man nicht atmen“. Interview von Ali al-Nasani mit Stevan Tontić im Jahr 2000

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum
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Lutz Rathenow in der Sendung Gedächtnis der Nation.

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Stevan Tontić

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