Stille finden

Mashup von Juliane Duda zum Buch Stille finden

Stille finden

THEODOR FONTANE BESUCHT ZUM LETZTEN MAL SEINEN ALTEN VATER

Ich weiß, es ist der Traum eines Traums,
Eines Tages zu erwachen und
Zu wissen, was man zu schreiben hat:
Unabänderlich, so oder so,
Oder beim Erwachen zu denken: Vielleicht
Ist Borges doch ein Reaktionär.
Es kann aber auch
Ganz unerwartet geschehen,
Sich an etwas zu erinnern,
Das man vor Jahren gelesen.
Die Genesis einer Idee
Ist jedenfalls schwer zu beschreiben,
Auch der Moment,
In dem man sich wiederfindet
Zwischen den Zeilen eines Philosophen
Mit einer längst empfundenen Wahrheit,
Von der man nur noch nichts wußte,
Daß sie schon aufgeschrieben sei.
Wozu Diese Präliminarien?
Ich weiß, diese redundanten Gebilde,
Die ich noch Gedicht nenne,
Erfüllen nicht die Gesetze der Gattung, denn eh ich
Zum Thema komme, hab ich
Schon so viel Papier verbraucht,
Wie weiland Fontane,
Als er das Charakterbild seines Vaters
Abrunden wollte. Doch sein Satz:
Denn wie er ganz zuletzt war, so
War er eigentlich immer, geht mir
Nicht aus dem Sinn. Und heute,
Als ich erwachte, wußte ich,
Daß ich nun das Gedicht schreiben würde,
Wie Fontane zum letzten Mal
Seinen alten Vater besucht.
Ja, es sind Stichwörter,
Mit denen wir leben:
Den Ort Neu-Tornow
Kann ich auf meinen Karten nicht finden,
Geschweige denn
Die Schiffmühle oder die Sandberge. Aber es bleibt,
Daß seit dem Jahre 1867
Die Tatsachen immateriell geworden sind und
Das Grab von Fontanes Vater
Vielleicht kaum noch zu finden sein dürfte…
Und es bleibt auch,
Was heute schon fast wie ein Gedicht klingt:
Kein geflügeltes Wort,
Des damals so populären
Schiller, sondern eine nebenhin
Gemachte Bemerkung
Über das Geld: Ja,
Das verdammte Geld, aber
Es gibt auch gutes Geld,
Sagte Fontanes Vater, und ich mache mir jetzt
Mitunter so meine Gedanken darüber… Fontane,
Der es eigentlich besser gewußt hat,
Wiegelte ab: Ach, Papa,
Rede doch nicht davon, du weißt ja,
Es ist uns ganz egal…
Unwillkürlich
Werden auch so
Dahingesagte Sätze
Zu echten Metaphern: Ja, sagte der Vater,
Laß uns umkehren,
Wir haben dann den Wind im Rücken,
Und da spricht es sich besser…
Ich sehe die beiden
Auf einem Feldweg in einer
Mir nicht sehr vertrauten
Landschaft, die ich mir gut
Vorstellen kann
In der Gegend um Bad Freienwalde.
Bin ich da jemals gewesen?
Offen gesagt, ich weiß es nicht mehr, überhaupt
Fällt es mir nicht einmal im Traum ein,
Fontanes Wanderungen nachzuvollziehen, ebensowenig
Habe ich jemals daran gedacht,
Benns letztes Wohnhaus zu suchen,
Das Weinhaus Wolf oder
Andere gedenktafelverdächtige Häuser.
Doch merkwürdigerweise
Bleiben, so lang das Papier
Es aushält, immer
Diese berührenden Reminiszenzen,
Intermezzi genannt,
In weit ausholenden Auto-
Biografien, Rückblenden
In ein so fernes
Und uns doch vertrautes
Jahrhundert. Denn man bemerkt,
Wie sich das Leben
Gleicht und wie sich
Das Unvergleichbare
Doch wiederholt, freilich
In andrer Gestalt: Les Adieux,
Ich weiß nicht, in welcher Tonart
Und ob in Wien oder Heiligenstadt,
Jedenfalls nichts Märkisches, aber doch gut zu denken
In einer Zeit, die gar nicht
So gefühlvoll war, wie wir
Uns das vorstellen: Einmal im Jahr nur
Pflegte Fontane seinen alten Vater zu besuchen,
Einmal im Jahr: bis Eberswalde per Bahn,
Dann im offenen Wagen
Bis Freienwalde, das letzte Stück
Aber zu Fuß, bis er den Alten
Schon winken sah auf der Brücke. Das,
Liebe Leser,
Ist eigentlich alles,
Und es erteilt keine Lehre, es sei denn,
Man nehme die Abfassung eines Textes wie diesen
Als einen Versuch, sich selbst zu erkennen
Im Widerschein der Vergangenheit, aber das,
Ich gebe es zu,
Ist bereits
Reine Spekulation.

Heinz Czechowski

 

 

 

Nachstehende Zeilen

Eine dreiviertel Autostunde aus der Stadt wartet Ankunft auf mich, wenn sich nach dem Dorf ein Weg zwischen den hügligen Feldern in den Wald schwingt. Am Ende der Fahrt ist am Tor unter den Kiefern manchmal etwas zu hören, das nicht zu hören ist. Stille. Ein paar Sekunden. Nicht, dass sie Lärm verdrängt. Es ist ruhig hier. Stille ist etwas anderes als Ruhe. Nichts geschieht mehr. Die Welt hält inne im Vergehen. Meine Stille. Welche Leichtigkeit für einen Augenblick. Stille ist flüchtig, wie es Träume sind. Ich öffne das Tor.
Die Gedichte, die ich liebe, lassen zu Wort kommen, was wenig Worte hat. Sie geben ihm eine Sprache. Sie bereichern unser Sehen um ihr Schauen. Gewahren wir in der „Havelnacht“:

Die vergrünten Sterne schweben
Triefend unterm Ruder vor.
Und der Wind wiegt unser Leben,
wie er Weide wiegt und Rohr
.?

In solche Dinge führen Gedichte. Brandenburg ermöglicht mit seinen Landschaften und seiner Geschichte der Poesie viel. Es bietet im Schwinden der Stille noch immer ein Maß, das ihr erlaubt, ihren eigenwilligen Gedanken nachzugehen. Die Gegengabe ist Brandenburgs auffallender Schatz an Dichtern und Gedichten. Dabei hat die Poesie Mühe gehabt, sich in den märkischen Verhältnissen zurechtzufinden. Die Anfange waren unbeholfen und stolprig, und es ist staunenswert, was daraus entstanden ist.
In der Ferne gab es Weimar mit seinen Heroen und hier das Städtchen Werneuchen mit dem dichtenden Pastor Friedrich Wilhelm August Schmidt, der, wie ein braver Seelsorger, sich auch als Dichter der Geringgeschätzten und Missachteten annahm. Schmidt von Werneuchen lobte in treuherzigen Versen die sandige Mark. Das war gegen das allgemeine Bild und wohl auch die allgemeine Erfahrung. Selbst der Brandenburger Heinrich von Kleist hatte im Sommer 1800 nichts anderes aus der Uckermark zu berichten gewusst als:

Das ist nichts, als Korn auf Sand, oder Fichten auf Sand, die Dörfer sind elend, die Städte wie mit dem Besen auf ein Häufchen zusammengekehrt.

In einer Rezension von Schmidts Gedichten in der angesehenen Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung war in dieser fernen Zeit von vornherein als unersprießlich für das Gedicht erklärt worden, „wenn man Sandgruppen so angenehm findet wie fruchtbare Auen, eben so gern Unken rufen als Nachtigallen singen hört“. Andere waren vorsichtiger als Schmidt. Schmidt dichtete Gottes freie Natur an. Sie dagegen zollten einer gesitteten märkischen Natur in Parks und Gärten Reverenz. In dieser schicklichen Form hatte sie einen ihrer frühesten poetischen Auftritte. 1788 widmete ihr Leopold von Reichenbach, Landrat und Gutsbesitzer im Barnim, Verse in seinem Gartenlehrgedicht „Der schöne Garten“. Natürlich war nicht einfach der Garten gemeint. Gemeint waren die zu den sozialen Inseln des Adels im anspruchslosen Bauernland gehörenden gärtnerischen Oasen und wie man sich darauf besser einrichten könne. „Die edle Gartenwohnung sey / In schöner Gärten heitrer Mitte. / Rund um sey alles schön und frey, / Sonst gleicht ein Haus der Köhlerhütte“, dichtete Reichenbach. Unser Blick auf die Natur ist aus den Gärten und Parks herausgetreten in die Landschaft. Es dauerte lange, ehe die Schöne gepriesen wurde. Wenn Brandenburg Ruhm zukam, dann schien er hartnäckig im Preußisch-Patriotischen zu liegen. Selbst Fontane zögerte, ehe er über Feldherrenruhm und friderizianischen Schlachtenlärm hinaus dichtete.
Im Dichterland Brandenburg haben die Dichter nach dem beschwerlichen Beginnen dafür gesorgt, dass die Mark in all ihrem schlichten Reichtum ins Gedicht kam. Das Ergebnis ist vergleichsweise jung. Eine der ersten modernen poetischen Preisungen ist des Dichters Klabund „Ode an Zeesen“ aus dem Jahre 1926. Der zurückgelegte Weg kennt Schmerzen, Brüche, Beschämendes, Tragödien. Die jüdische Dichterin Gertrud Kolmar aus Falkensee wurde 1943 in Auschwitz ermordet. Die NS-Oberen suchten Brandenburg in ein Mutterland ihrer aberwitzigen „Blut-und-Boden-Dichtung“ umzuschaffen. Mitte der Dreißigerjahre standen Peter Huchel, Günter Eich und Eberhard Meckel auf einer gemeinsamen Wanderfahrt vor den Arnimschen Gräbern in Wiepersdorf und verabredeten, jeder möge ihnen ein Gedicht widmen. Huchel und Eich erfüllten die Verabredung. Der Dichter Eberhard Meckel blieb unter der Last der Zeit stumm.
Peter Huchel, in dem die Mark wohl ihre schönste Sprache spricht, musste die Heimat 1971 aufgeben, als er sich gezwungen sah, die DDR zu verlassen. Die Lyrik Henryk Bereskas trat erst nach ihrem Ende an die Öffentlichkeit. Das Haus der Dichter am Schwielowsee in Petzow, in dem sie in den Jahren zwischen 1954 und 1990 arbeiteten, lebten und sich über den Ort mit der Welt ins Benehmen setzten, verwandelte sich in einen an dieses Herkommen erinnerungsfreien Privatsitz. Oh verräterische Sprache. Der Großort deutscher Literaturgeschichte, der in der Sprache der Dichter sprach und den der Schriftsteller Heinz Knobloch einmal mit vielen Gedenktafeln an den Außenmauern geziert sah, soll nun in den Floskeln der Lifestyle-Magazine sein Genüge finden. Doch dies ist keine Literaturgeschichte, es sind Erinnerungspunkte und dies ist auch kein brandenburgischer Lyrikkanon, sondern eine Komposition, unsere Komposition, aus Stimmen, die hier ihren Ursprung haben. Wirkung braucht Herkunft. Und so sind diese Gedichte mit Boden unter den Füßen auch nicht an den Ort gebunden. Sie sprechen in ihrer Sprache von Dingen, die überall Bedeutung haben. Jeder kann sie erleben, wo auch immer er zu Hause ist. Obwohl da ein leichter Stolz ist: Schaut, das können wir. Das Land ist voller Poesien. Bedient euch. In einer übereventisierten und sich zugrunde vermarktenden Welt sprechen sie eine verschwindende Sprache.

Ich gehe durch das Tor. Die Mark ist nicht das Zauberland Orplid. Ihre Weite und Freiheit weckt die mannigfaltigsten Begehrlichkeiten und lässt sie darin schmerzhaft vergehen, wozu jede Epoche auf Beteiligung sinnt. Aber noch gibt es ein Kapital, wie es anderswo selten ist, und zu ihm gehört die Möglichkeit, Stille zu finden. Es ist ein sehr persönliches Bemühen, wie es die Erfahrungen mit der Stille sind. Nur das kann als gewiss gelten: Die Suche lohnt.

Werner Liersch, Oktober 2013, Nachwort

 

Der reichen, geschichtsträchtigen Landschaft Brandenburgs

haben Dichterinnen und Dichter von Anna Louisa Karsch bis Theodor Fontane, von Gertrud Kolmar bis Peter Huchel und Sarah Kirsch ihre Poesie angesehen und einige ihrer schönsten Gedichte gewidmet. Allerdings brauchte es einige Zeit, bis das Land in der Lyrik gepriesen wurde. Wenn Brandenburg Ruhm zukam, dann schien er hartnäckig im Preußisch-Patriotischen zu liegen. Selbst Fontane zögerte, ehe er über Feldherrenruhm und friderizianischen Schlachtenlärm hinaus dichtete. Werner Liersch, der in Berlin und im märkischen Kolberg lebt und mit den literarischen Traditionen der Mark aufs Beste vertraut ist, nimmt die Leser mit auf eine Reise der besonderen Art und begleitet sie zu einem lyrischen Zwiegespräch. Landschaft wird hier poetisch beschrieben, ohne ein Idyll zu zaubern. Mit Gedichten von Anna Louisa Karsch, Friedrich II., Adelbert von Chamisso, Theodor Fontane, Klabund, Gertrud Kolmar, Bertolt Brecht, Johannes R. Becher, Gottfried Benn, Peter Huchel, Inge Müller, Günter Eich, Henryk Bereska, Karl Mickel, Peter Hacks, Eva Strittmatter, Sarah Kirsch, Kito Lorenc, Heinz Kahlau, Helga M. Novak, Jürgen Rennert, Brigitte Struzyk, Richard Pietraß, Lutz Rathenow, Lutz Seiler und anderen.

Verlag für Berlin-Brandenburg, Ankündigung

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

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