Sylvia Geist: Vor dem Wetter

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Sylvia Geist: Vor dem Wetter

Geist-Vor dem Wetter

MONTAGS IST KAVAFIS’ WOHNUNG GESCHLOSSEN,

was tun, auf der Treppe hocken, Trauben essen,
kleine blasse Dinger, deren Kerne man mitschluckt.

Von Kavafis behielt ich nur einen Satz, rätselhaft
wie ein veralterter Scherz, doch denke ich daran,

als stünde ich in der Wohnung, hinterm Vorhang,
wo die Ode lebt, die Herzmotte, und hörte

das Treppenhaus, eben noch allein am Ruhetag,
jetzt aus der Montagsstille. Im Hof ist ein Gesträuch,

um das sich scheinbar keiner kümmert, es lehnt an
den Seiten ringsum unter seinen blassen Sternen.

 

 

 

Es sind die kleinen Dinge,

die Sylvia Geist aufs Papier wuchtet und die zum Abbild der großen, ganz allgemeinen Erfahrungen werden: vom Erleben der eigenen Schwere erzählt sie da, von der Hitze vor dem Wetter und dem, was ist, während „alles später oder woanders“ passiert.
Ihre Gedichte halten Auf- und Umbrüche fest, alltägliche Situationen wie das Warten an der Supermarktkasse, denen jede Vertrautheit abhanden kommt, Unvertrautes, etwa das Exponat in einem Museum, das dem Betrachter plötzlich auf den Leib rückt.
Gemein ist ihnen der sehr genaue Blick und die Erfahrung von Veränderung, der Gegenstände und Menschen gleichermaßen unterworfen sind. Was Gegenwärtiges und Vergangenes, Nahes und Entferntes verbindet, ist das emotionale Moment, das in den Gegensätzen steckt – Vertrautheit und Verlust, Zärtlichkeit und Zorn, Liebe und Entfremdung.
Es ist das Schreiben über die Bewegung, das diese Texte antreibt, das Schreiben über Reisen, von denen man keine Postkarten schickt, weil das Zuhause fehlt. „Genau weiß niemand hier, woran gemauert wird“ – aber womit, davon erzählt Sylvia Geist in beeindruckend intimer Intensität.

Luftschacht Verlag, Klappentext, 2009

 

Klarheit schaffen

Der Großvater hat immer gesagt:

Von den ganzen Romanen glaub’ ich kein Wort.

Schillers Balladen aber rezitierte er, während seine Enkelin ihm gebannt zuhörte, ausnehmend gern – und da glaubte er alles. Es ist also letztlich nicht verwunderlich, dass aus der Enkelin eine Lyrikerin geworden ist.

Sylvia Geist, 1963 in Berlin geboren, wollte ursprünglich Chemikerin werden. Doch während des Studiums überkamen sie Zweifel, ob das Fach ihren schöpferischen Ambitionen gerecht werden würde. „Ich hätte doch nur in einem Labor Ratten mit Tranquilizern geimpft“, sagte sie einmal. Sie sattelte um auf Germanistik und Kunstgeschichte.
1997 erschien, in der hannoverschen Edition Postskriptum, der erste Gedichtband der Autorin, Morgen Blaues Tier. Inzwischen ist ihr sechstes Buch auf dem Markt. Es heißt Vor dem Wetter, versammelt 55 Gedichte und zwei Zyklen und ist in dem kleinen Wiener Luftschacht Verlag erschienen, der 2008 auch Sylvia Geists vorheriges Buch Der Pfau herausgebracht hat. Im Pfau findet man keine Gedichte. Es ist eine Novelle. Aber selbst Sylvia Geists Großvater hätte bestimmt jedes Wort darin geglaubt.

EPIDEMISCHE STATIK

Wenigstens hundert Chöre, jede Woche mehr
Festzüge, was die Ruhe des einen beschwört, stört

die des Nachbarn. Katafalke unablässiger Erde
stürzen das Gelände in die Enge, bald,

lautet die Hoffnung der Stadt, müssen die
älteren aufstehen für die jüngeren Toten

Dieses Gedicht über den krankheitsbedingten Stillstand beziehungsweise seine Aufhebung hat Sylvia Geist nach einer Rundfunkmeldung aus dem Jahr 2004 geschrieben, derzufolge auf einem Friedhof im südafrikanischen Soweto die Toten aus der horizontalen in die vertikale Lage umgebettet werden sollten, um mehr Platz zu schaffen. Es ist eines der kürzeren Gedichte in Vor dem Wetter. Aber es zeigt in mehrfacher Hinsicht, wie sich Sylvia Geists Schreiben entwickelt hat.
Das erste, was auffällt, ist eine gewisse Strenge. Nahezu in allen Gedichten weisen die Strophen innerhalb des Textes dieselbe Verszahl auf – hier sind es jeweils zwei, woanders mal sieben, mal sechs. Nur in wenigen Gedichten weicht Sylvia Geist von diesem Prinzip ab, aber auch dann findet man eine bestimmte Ordnung (etwa: vier Verse in der ersten Strophe, dann drei, dann zwei und wieder vier Verse). Das wirkt aber nicht nur streng, sondern auch durchdacht und sortiert. Sie hat dergleichen früher schon gemacht, es jedoch nicht so konsequent als Stilmittel eingesetzt. Was sie eigentlich damit tut, ist: Sie schafft Klarheit. Schon im Schriftbild.
Diese Klarheit bricht die Autorin dann sofort wieder, indem sie die Sätze über das Strophenende hinauszieht. Das führt zu kleinen Atemholern, Brüchen, Irritationen beim Lesen, setzt Betonungen. Aber wie so oft bei Brüchen bedeutet es nicht, dass die Klarheit beeinträchtigt würde. Im Gegenteil. Der Kontrast verstärkt die Wirkung.
Sylvia Geists Texte enthalten durchaus Rätsel. Manches darin versteht man vielleicht nie. Aber die Wortwahl ist jeweils so zwingend, dass den Leser nirgendwo das Gefühl beschleicht, hier hätte es auch ein anderer Begriff getan, ein anderer Zeilensprung. Es ist, als hätte Sylvia Geist die Wörter und ihre Anordnung mit einer Art mathematischer Genauigkeit ausgewählt und platziert.
Als Beispiel dafür mag der wunderbare Text gelten, der dem neuen Gedichtband den Titel gab:

VOR DEM WETTER

Die Türen halten den Schlaf auf
den Fluren, den Fluss

hört man ins Gewinde der Treppen
weichen und wie hinter der Wand

einer sich die Hitze von den Lippen wäscht.
Bei Tisch, die Messer fein ins Fleisch

irgend einer Spezialität gewickelt,
von der Schönheit anderer Orte prahlen.

Wirklich bleibt der Himmel hier ein Fleck
zwischen den Bergrücken, und vom Vortag

der Vogel, an die Schläfe geprallt,
eine Warnung. Jemand sang den Refrain:

Komm, komm, wir lassen uns erschießen,
als hätte er alles gesehen.

Wo diese Präzision herkommt, begreift man, wenn man weiß, dass Sylvia Geist sich zwar damals im Studium von der Chemie abgewandt hat, dass aber die Chemie dann über die Literatur wieder zu ihr gekommen ist. Seit Jahren befasst die Schriftstellerin sich beispielsweise mit einem Projekt, das sie „Periodischer Gesang“ genannt hat und das eine Auseinandersetzung mit den chemischen Elementen auf der Ebene der Sprache ist.
Jedes Element bekommt ein Gedicht, jedes Gedicht orientiert sich an der Anzahl der Elektronen und daran, wie sie um den Atomkern herum angeordnet sind. Jedes Wort steht für ein Elektron, jeder Vers für ein Energie-Orbital, in dem sich die Elektronen bewegen.

Kaum erschienen
erkaltet das neue schnell
daran bindet uns nichts

zu rasch
verdirbt sein blasses blut

heißt es etwa in dem Gedicht „Neon“ über das seltene Edelgas, das in der Natur keine Verbindungen eingeht.
Die Arbeit an diesem Zyklus ist noch nicht beendet, und in Sylvia Geists neuem Gedichtband finden sich auch gar keine Texte über chemische Elemente. Aber die Kombination des konzentrierten Blicks der Naturwissenschaftlerin, der sich mit dem träumerischen Blick der Lyrikerin paart, führt zu einer Sprache, die vollkommen eigenständig ist.
Sylvia Geist ist eine engagierte, in vielen Bereichen arbeitende Autorin. Sie schreibt nicht nur, sie übersetzt auch, sie hat Sammlungen mit Texten osteuropäischer Dichter herausgegeben, sie organisiert Workshops und Literaturveranstaltungen, macht Collagen und und und. (Nebenbei ist sie auch bereits mehrfach ausgezeichnet worden: Lyrikpreis Meran, Stipendien, Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung.) Es war also nur eine Frage der Zeit, wann sie sich auch einmal, dem ungläubigen Ausspruch des Großvaters zum Trotz, anderen literarischen Formen als dem Gedicht zuwenden würde.

(…)

Bert Strebe, die horen, Heft 237, 1. Quartal 2010

 

 

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