Tadeusz Różewicz: Poet’s Corner 16

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Tadeusz Różewicz: Poet’s Corner 16

Różewicz-Poet’s Corner 16

X X X

am anfang
ist das wort
die große schaffensfreude

nach der schlußzeile des gedichts
beginnt
die unendlichkeit

höre hinein

für begnadetete
verwandelt sie sich in Gott

doch vor dem dichter
öffnet sich der abgrund

nach jahren
wird er ausgegraben
gesäubert
vom dreck staub erdreich

stein vom himmel
vom feuer befreiter
meteor

 

 

 

Nachbemerkung

Die polnischen Dichter des 20. Jahrhunderts kamen meist aus der Peripherie und strebten in die großen Städte. Die Exildichter nach dem Zweiten Weltkrieg lebten in Paris, London, Neapel, New York, Buenos Aires. Tadeusz Różewicz aufgewachsen in der zentralpolnischen Kleinstadt Radomsko, durchlief seine „Universitäten“ als Partisan im „Wald“ bei der AK, der Heimatarmee, und studierte nach 1945 in Krakau Kunstgeschichte. Danach hätte er sich an der Universität, einer Redaktion oder am Theater eine Pfründe sichern können, um als freier Autor über die Runden zu kommen. Er zog aber in den oberschlesischen Kohlenpott, nach Gleiwitz, und verbrachte hier fast 20 Jahre seines Lebens.
Als ich 1967 von Kattowitz aus, meinem Geburtsort, durch die wüste, rußbedeckte Industrielandschaft zu Różewicz fuhr, war ich neugierig auf den Einsiedler von Gleiwitz, der die großen Städte ausließ, wo seine Kollegen in Verbänden, Redaktionsstuben und Cafés sich im Widerstand und im geistreichen Palaver übten, und die Isolation wählte. Seine Lyrik las ich als Student in Ostberlin, neben Bobrowskis Prosa ein tiefes Schockerlebnis. Die karge, genaue Beschreibung der Welt nach Auschwitz in ihrer radikalen Abkehr von der hergebrachten Ästhetik verstörte den durch Rilke und George geprägten Geschmack. Einige Gedichte aus seinen ersten Bändchen habe ich seinerzeit übersetzt, aber es sollten über zwei Jahrzehnte vergehn, bis sein erster Gedichtband in dem DDR-Verlag Volk und Welt 1969 erschien (übersetzt von Karl Dedecius und Günter Kunert). Różewicz wohnte in einem Bürgerhaus unweit vom lauten Zentrum von Gleiwitz. Ich kannte ihn von Fotos: kraftvoller, gedrungener Körper, nachdenkliches Gesicht, er sprach langsam, kein überflüssiges Wort, konzentriert. Wir besprachen seine Stücke, die der Verlag Volk und Welt vorbereitete. Die Redakteurin Jutta Janke war couragiert; derlei Stücke hatte es auf DDR-Bühnen bis dahin nicht gegeben, sie verstießen gegen alle möglichen ideologischen Tabus. Studenten der Leipziger Universität, die 1965 Die Zeugen oder unsere kleine Stabilisierung aufführten, holten sich Brüschen – das Stück ward schnell abgesetzt, die Studenten bekamen Ärger. Różewiczs Theater brachte man mit Ionesco, Beckett und Genet in Verbindung. Den Autor amüsierte das, er schreibt:

Die Kritik zählte meine Stücke zum absurden Theater, dabei waren das nicht nur in Polen, sondern in ganz Osteuropa die einzigen realistischen Stücke. Realistische, nicht soz-realistische!

Ähnlich verhielt es sich mit seiner Lyrik. Noch in den fünfziger Jahren vermißte man darin das Positive, erhob den Vorwurf des Formalismus und Nihilismus. Allerdings machte man in Polen den feinen Unterschied: In Literaturzeitschriften durften manche Verse nicht gedruckt werden, in einem Gedichtband ja. Bei meinem Gleiwitzer Besuch wurde mir der Ernst des Dichters bewußt. Die Distanz zur sprudelnden Kulturszene war gewollt. Sie war der Preis, den der Dichter für ein konsequentes Werk entrichtete. Kein gargantueskes Amüsement, keine „Pfade der Gesundheit“, die seine trinkfesten Kollegen unter fröhlichen Sprüchen von Kneipe zu Kneipe führten. Hier war einer, der wußte, daß nicht beides zugleich zu haben war: ein großes Werk und ein lustvolles Leben. Also Verzicht. Also das von Nietzsche empfohlene „Sitzfleisch“.
Der Vierundzwanzigjährige, der „zur Schlachtbank geführt, davonkommt“, suchte einst nach einem Lehrer und Meister, der ihm „noch einmal Dinge und Begriffe benennen und das Licht von der Finsternis trennen möge“. Er hatte das Empfinden, Gesichter, Gehör und Sprache verloren zu haben. In der Gleiwitzer Eremitage reifte Różewicz zu einem großen Dichter heran. Der bedeutende Lyriker Stanisław Grochowiak meinte kurz vor seinem frühen Tode:

Nach dem Kriege ist über Polen ein Komet der Poesie niedergegangen. Kopf des Kometen ist Róewicz, der Rest ist Schweif.

Mein Gleiwitzer Besuch sollte folgenreich bleiben. 1974 erschien der Dramenband mit acht Stücken im Ostberliner Verlag Volk und Welt, in den nächsten Jahren, von ferner Provinz ausgehend, von Rudolstadt und Nordhausen, wurden seine Stücke von Rolf Winkelgrund in Potsdam und Ostberlin inszeniert. Mitte der achtziger Jahre war Różewicz der meistgespielte Autor auf Berliner Bühnen. Der Dichter, der 1968 nach Wrocław, war häufiger Gast in Ostberlin. Lesungen seiner Gedichte waren Höhepunkte des Berliner Kulturlebens. Der Dichter fand ein fasziniertes Publikum, das sein Werk von Beginn an als Herausforderung empfand. Unruhe ist der Titel seines ersten Gedichtbändchens, Unruhe und Suche nach dem Standort des Menschen in dieser Zeit, das sind die Leitmotive seiner Dichtung.
Die vorliegende Auswahl enthält vorwiegend Gedichte aus dem letzten Jahrzehnt. Viele kreisen um das Thema Leben, Tod und Poesie. Aber der Dichter, der sich als Bürger aus den politischen Wirren seiner Zeit bewußt heraushält, weil er das, was er zu sagen hat, in seinem Werk mitteilt, hört nicht auf, die Gefahren zu benennen (im Poem „Deserteure“, in dem Gedicht „Bleisoldat“). Auf die Gefahren der Umweltzerstörung wies Różewicz hin, bevor sich die Grünen formierten. In einem der letzten Gedichte, „Schwarze Flecken sind weiß“, warnt er davor, die Menschen der Phantasie und des Lebensinstinkts zu berauben:

der tod nistet sich ein
im salat im schnittlauch
im grün
der farbe der hoffnung

und er spricht von lächelnden Diplomaten, die „weissagen aus den eingeweiden gefallener soldaten / die zukunft der weit und der menschengattung“.

Der Dichter bleibt sich auch in seinem Spätwerk der Verantwortung der Dichtung bewußt.

Henryk Bereska, März 1993, Nachwort

 

 

Poet’s Corner in jede Manteltasche! Michael Krüger: Gegen die Muskelprotze

Hans Joachim Funke: Poeten zwischen Tradition und Moderne. Eine neue Lyrikreihe aus der Unabhängigen Verlagsbuchhandlung Ackerstraße.

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

 

Henryk Bereska Ich kam, sah und ging. Eine Reportage von Magdalena Handerek.

 

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Doris Liebermann: Tadeusz Różewicz – die Stimme der polnischen Nachkriegsgeneration
Deutschlandfunk, 9.10.2021

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLfG +
Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
Brigitte Friedrich Autorenfotos + deutsche FOTOTHEK
Nachrufe auf Tadeusz Różewicz: Der Tagesspiegel ✝ NZZ ✝ DR Kultur ✝
SZ ✝ Frankfurter Neue Presse ✝ junge Welt ✝ CULTurMAC

 

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Tadeusz Różewicz

 

Tadeusz Różewicz bei einer Lesung am 10.10.2007 in Wrocław.

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