TEXT+KRITIK: Franz Mon – Heft 60

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch TEXT+KRITIK: Franz Mon – Heft 60

Text+Kritik: Franz Mon – Heft 60

SPRACHKRITIK UND SPRACHEROTIK IN DER EXPERIMENTELLEN LITERATUR

– Die Poetik Franz Mons im Umfeld einer möglichen Wahrnehmung. –
für Dieter Schnebel

I. Die verhaltene Gestik
In einer Buchbesprechung über das Gesamtwerk Konrad Bayers äußerte sich ein namhafter Kritiker, ein Kenner der Szene, auch zur heutigen Situation der experimentellen Literatur. Der kollektive Impuls, der die Experimentellen auszeichnete, sei verschwunden; übriggeblieben seien Individuen, die Gemeinsamkeit schließlich lebe nur noch auf dem Papier fort.

Wenn Autoren, deren Namen für ,konkrete poesie‘ oder ,phonetische dichtung‘ stehen, aus Anlaß eines Festivals zusammentreffen, erinnern ihre Auftritte ein wenig an die von Kriegsveteranen: da blitzen zwar noch die Orden, aber der ehemalige Kampfgeist hat sich verflüchtigt.

Auf den ersten Blick scheint diese Diagnose zu stimmen: was konkrete Poesie genannt wurde, ist in den letzten Jahren immer mehr in den Hintergrund getreten; die einst so heftige Diskussion um neue Formen ist verstummt. Die aktuelle Literatur, die Aufsehen erregt, lebt vom Stoff, von der Selbsterfahrung, von der Möglichkeit zur Identifikation. Die Frage, ob ein Buch wichtig oder notwendig sei, entscheidet nicht die Form, die Sprache, sondern der Inhalt, die Fragestellung. Hatte noch die Literatur der 60er Jahre versucht, dem Leser die Identifikation mit den Stoffen schwer zu machen, bedeutete Realismus damals noch die „Abkehr von jeder festgelegten Bequemlichkeit des Erzählens“, die Bewegung, der ständige Wechsel der Wahrnehmung und Perspektiven, so ist seit Karin Strucks Klassenliebe ein Großteil der Literatur auf das Niveau des Identifikationsangebotes zurückgefallen. Auch das Bedürfnis nach Texten, die Sicherheit bieten statt zu verunsichern, die Fragen beantworten statt zu stellen, ist – wie die Auflagezahlen zeigen – gestiegen. Warum sollten da die Treffen von Autoren, die ,schwierige‘, sprachreflektorische Texte schreiben, nicht Auftritten von Kriegsveteranen ähneln? Der Anlaß, sich besserer Zeiten zu erinnern, ist gegeben. Beim genaueren Hinsehen jedoch beginnt der Vergleich mit den Kriegsveteranen auf beiden Beinen zu hinken. Er unterstellt nämlich, daß die experimentelle Literatur je zu höheren Ehren, zu Orden in Form von spektakulären Literaturpreisen gelangt sei, daß ihre skeptischen Vertreter je mit den Säbeln der historischen Avantgarde gerasselt haben. Das Bild von den müde gewordenen Kriegern führt auf Irrwege. Die experimentelle Literatur in die Gefolgschaft der Avantgarde zu stellen oder sie an deren Ansprüchen zu messen, hieße, sie außerhalb ihres Selbstverständnisses und der ihr gegebenen Möglichkeiten und Voraussetzungen wahrnehmen. „Wer weiterhin sich naiv avantgardistisch gebärdet, ficht gegen Windmühlen“.
Keinem war das so bewußt wie den Autoren der experimentellen Literatur. Weder haben sich Franz Mon und Helmut Heißenbüttel als Kämpfer im Sinne der frühen Avantgardeströmungen wie des Dadaismus und Surrealismus verstanden, noch artikulierten sich die Zeitschriften, die in den 50er Jahren die ersten experimentellen Texte veröffentlichten, als Organe einer in der Tradition der Avantgarde stehenden Polemik. „Mir und meinen Freunden“, schreibt der Maler Karl Otto Götz im Rückblick auf seine zusammen mit Franz Mon gestaltete Zeitschrift meta, „war es nicht darum zu tun, ,Bürgerschreck‘ zu spielen. Wir wollten versuchen, mit einem Minimum an materiellem Aufwand einen kleinen Ausschnitt aus der Werkstatt der jüngeren Generation zu zeigen, und zwar von jenen Leuten, die bei uns trotz der Nazi-Jahre heimlich weiter experimentiert hatten; und von den Freunden aus dem Ausland wollten wir jene jüngeren bringen, welche, sachlich gesehen (nicht etwa erfolgsmäßig), ,vorne lagen‘. Wir wollten Dokumente bringen, keinerlei Polemik“. Alfred Andersch, der Herausgeber von Texte und Zeichen, distanzierte sich ausdrücklich von dem Etikett ,Avantgarde‘:

Wir versichern jedoch unseren Lesern, daß Texte und Zeichen keine avantgardistische Zeitschrift ist, und zwar einfach deshalb, weil die Redaktion nicht ahnt, was das Wort ,avantgardistisch‘ im Jahre 1956 zu bedeuten hat. Bis wir es wissen – und das wird voraussichtlich in zwanzig bis dreißig Jahren der Fall sein –, bitten wir unsere Freunde und Feinde in der Presse, es sich mit der Einordnung unserer Zeitschrift in irgendeine Schublade doch nicht so leicht zu machen.

Kein Programm, keine Richtung, das war auch die Devise der Studentenzeitschrift nota, in der Texte von Mon veröffentlicht wurden:

wir haben kein programm bevor wir die ersten nummern gelesen haben können wir nicht sagen was wir wollen um zu erfahren was wir wollen wollen wir diese zeitschrift herausgeben… diese zeitschrift vertritt keine richtung / mit richtungen beschäftigen sich die kursbücher… bilder und gedichte önnen die welt nicht verändern und die menschen nicht veredeln / veredeln ist sache von biologen und industriellen / bilder und gedichte sind nicht notwendig / diese zeitschrift wird sich mit ihnen beschäftigen.

Eine polemische Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Literatur, wie sie für die historische Avantgarde konstitutiv war, um sich als Bewegung nach außen hin zu formieren, findet in der experimentellen Literatur nicht mehr statt. Der für die Avantgarde charakteristische Alleinvertretungsanspruch ist einer nüchteren Selbsteinschätzung gewichen. Aufgabe und Ziel experimentellen Schreibens werden mit äußerster Vorsicht, meist im Potentialis formuliert:

Wir  g l a u b e n , in dem, was sich zeigt,  d e n  M u t  z u  d e r  B e h a u p t u n g  f i n d e n  z u  k ö n n e n, daß in der modernen Kunst – nicht nur in der Malerei – sich ein Äußerungsvermögen ausbildet, das dieser Situation gewachsen sein  k ö n n t e. – –  V i e l l e i c h t  sind die phonetischen Sprachwerke  A u s g l e i c h s b e w e g u n g e n  gegen eine rationale Austrocknung der Gebrauchssprache, wobei Sprachdimensionen zu Wort kommen, die längst verschliffen oder verloren schienen. Sie  k ö n n t e n  auch der  V e r s u c h  sein, Sprache in einer grassierenden Sprachlosigkeit in Gang zu halten.

II. Sprachreflektorische Dichtung, eine Literatur nach Karl Kraus
Ein altes Wort mit einem neuen Sinn erfüllen, den Brauch und Alter ihm genommen haben, das heißt eigentlich nicht erneuern, sondern verjüngern. Man bereichert die Sprachen, indem man sie durchforscht. Man muß sie behandeln wie Felder: um sie fruchtbar zu machen, wenn sie nicht mehr neu sind, muß man das Erdreich in seiner Tiefe umwühlen.

Joubert

„Die verhaltenere Gestik“, die aus den Äußerungen Mons zu seinen Texten spricht, ist der experimentellen Literatur keineswegs nur äußerlich. Sie drückt vielmehr aus, daß die Einschätzung der Sprache bei diesen Schriftstellern nicht mehr auf dem Vertrauen in die ihr einst innewohnenden Möglichkeiten beruht. Müßig, darüber nachzusinnen, wie sich die mit avantgardistischen Mitteln arbeitende Kunst zur Lebenspraxis verhalte. Die experimentelle Literatur  n e g i er t e  nicht die „avantgardistische Intention einer Rückführung der Kunst in die Lebenspraxis“, wie Bürger meinten, sondern für sie war eine derart hochgeschraubte Erwartung an die Aufgabe von Kunst und Literatur gar nicht diskutabel. Sowohl das Wissen von der Unwiederholbarkeit der Avantgarde als auch die realistische Beurteilung der Möglichkeiten bzw. Unmöglichkeiten einer nach außen gewandten Kunst haben die „experimentellen Fragestellungen“ (Mon) außerhalb der Lebenspraxis bestimmt. Die instrumentelle Funktion, die die Sprache im Dadaismus selbst noch im destruierenden Akt hatte, indem sie  g e g e n  die etablierte Literatur und gegen die Institution Kunst gewandt war, mußte der experimentellen Literatur verdächtig erscheinen. Lebte die Avantgarde in ihren Aktionen vom Publikum – noch die zahlreichen Erinnerungen der Dadaisten zeigen die Abhängigkeit von der aktionistisch gewonnenen Provokation –, so mußte die Literatur nach dem Kriege, wollte sie ernstgenommen werden und sich selbst ernstnehmen, auf ebendieses Auftreten verzichten.

Wirklich zeitgenössische Literatur hatte und hat, das sehend, ihr Programm zu  r e d u z i e r e n. Sie muß darauf verzichten, die gesamtgesellschaftliche Totalität abbildend erfassen zu wollen, sie muß den Primat der Handlung nebst Einzelschicksalen aufgeben. Das heißt auch – was Material wie Techniken angeht – Reduktion auf das Letzte, was den Autoren noch bleibt, die Sprache.

Aber welche Sprache war den Experimentellen geblieben? Die historische Avantgarde  l ä u t e r t e  die Sprache, die experimentelle Literatur fand eine  g e l ä u t e r t e  Sprache vor; eine Sprache, deren Hauptmerkmal es war zu funktionieren, Zubringerdienste zu leisten.

Es gehört zu den eigentlichen Schaudern der Nazizeit, daß alles, was geschah, festgehaIten, katalogisiert, aufgezeichnet und niedergeschrieben wurde; daß man den Worten Dinge auszudrücken aufgab, die eigentlich von keinem Menschenmund ausgesprochen und auf keinem Stück Papier festgehalten werden sollten.

Ein Autor wie Böll umreißt die Situation nachträglich so:

Es war erst mal die Sprache als Material, fast in physikalischem Sinne ein Experimentierstoff, und Sie dürfen nicht vergessen, daß wir doch zwölf Jahre lang mit einer völlig verlogenen, hochpathetisierten Sprache konfrontiert waren. Zeitungen, Rundfunk, sogar in Gespräche, in den Jargon ging das ein, und unsere Sprache, also sagen wir ruhig, die deutsche Sprache auf diese Weise wiederzufinden, war per se ein Experiment. Und ich habe diese Experimentalattitüde bis heute nicht verloren.

Wenn man die frühen Kurzgeschichten Bölls liest, fällt es schwer, aus den Texten diese Problematik nachzuvollziehen. Vertraute Böll dennoch „unserer schönen Muttersprache“, so fanden die Autoren, die wirklich mit der Sprache experimentierten, nie zu ,ihrer‘ Sprache. Kritik und Zweifel hatten ihnen die eigene Sprache genommen und das, was sie schrieben, zur  s p r a c h r e f l e k t o r i s c h e n  Dichtung werden lassen. Bis in die 60er Jahre, in denen die wichtigsten theoretischen Arbeiten Mons entstanden, ging das Problembewußtsein, eine beschädigte Sprache vor sich zu haben.

Es ist eine geschlagene Sprache, bedenkt man, woran sie beteiligt war und ist. Aber welche Wahl haben wir. Allmählich zur Besinnung kommen. Eine Kerbe einschlagen, gleich an welcher Stelle, damit wenigstens ein Punkt wiederzuerkennen ist. Feststellen, nachspielen, wiederholen und feststellen, fallenlassen, markieren, abtasten, nachzeichnen, vorwegnehmen. Sprache, diese angefochtene, zermürbte Sprache als ,Material‘ nehmen, wobei auch ihre Erinnerung und die Spuren ihres Geschickes mitzählen, um vielleicht im skeptischen Umgang mit ihr der Möglichkeiten inne zu werden, die noch immer und vielleicht gerade auf Grund ihrer erschreckenden Geschichte bestehen.

Sprache selbst wird problematisch. Sie erscheint nicht länger als Mittel oder als Waffe oder als eine Art Signalanlage; die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Sprechens selbst tritt in den Mittelpunkt. Warum? Weil die verbindlichen Vorprägungen des Sprechens, vom einfachen Satz bis zu den literarischen Gattungen, ihre Verbindlichkeit, das heißt die Fähigkeit, stellvertretend zu stehen, verloren haben.

Literatur nach Auschwitz –, auf die Frage Adornos, wie nach dem Nationalsozialismus noch ein Gedicht zu schreiben sei, hat die experimentelle Literatur mit der radikalen Infragestellung der Umgangssprache geantwortet, jener Sprache also, mit der, wie Karl Kraus sagte, „nur so umgegangen wird“. Literatur nach Auschwitz – das heißt Verantwortung vor der Sprache, hatte der Versuch zu sein, der Sprache das zurückzuerstatten, was der „blutlebendigste Erfolg der Redensart“ ihr genommen hatte. Es galt, Sprache aufs Neue  e r f a h r b a r  zu machen, ihre Plastizität und Vielgesichtigkeit zu zeigen, Sprache als eine bewegliche Materie erscheinen zu lassen, in der die kleinste Veränderung die größten Folgen hat.

Für uns sind die Wörter in unerhört viel höherem Maße als für das Lexikon plastisch und labil. Sie haben dabei eine früher unbekannte Selbständigkeit gewonnen, weil sie nur mehr mit einem Aspekt auf ihre Gegenstände bezogen sind, mit hundert anderen aber auf mögliche Gegenstände blicken, die ihnen zugeordnet sein könnten, und weil sie die Analogien schon in sich spiegeln, zu denen sie dienen können oder denen sie gedient haben. Wörter sind für uns längst nicht mehr bloße Zeichen, die eine Mitteilung zu transportieren haben; es sind Kondensate, die sich jedem menschlichen Individuum neu und vermutlich anders auffüllen.

Statt beschrieben zu werden, wird die Welt in der Sprache entdeckt; dann nämlich, wenn an einer Stelle die Gleichgültigkeit des immer nur Zubringerdienste leistenden Materials aufgebrochen wird, wenn die sprachliche Floskel ihrer „fatalen Notwendigkeit“ (Mon) enthoben wird und den ihr innewohnenden Reichtum zu entfalten beginnt, indem sie alte Beziehungen abbricht, neue eingeht.

Es wäre dem Menschen geholfen, könnte man ihm, wenn schon nicht das Auge für die fremde Schrift, wenigstens das Ohr für die eigene Sprache öffnen und ihn wieder die Bedeutungen erleben lassen, die er ohne es zu wissen täglich zum Munde führt. Ihn die Verlebendigung der Redensarten lehren, die Auffrischung der Floskeln des täglichen Umgangs, die Agnoszierung des Nichtssagenden, das einmal etwas gesagt hat.

Was Karl Kraus in seiner „Sprachlehre“ an Gedanken über die Sprache, jener Hervorbringerin des Gedankens, äußerte, liest sich wie ein Vorwort zu Mons „Texten über Texte“. Freilich darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, daß Kraus, der sich einen „im alten Hause der Sprache wohnenden Epigonen“ nannte, neue Formen, wie sie Dadaismus und Expressionismus in die Literatur einbrachten, aufs Schärfste ablehnte und in den neuen Wortgebilden eine Sprache sah, – die den Krebs hatte. Eine  s p r a c h r e f l e k t o r i s c h e  Dichtung aber, als die experimentelle Literatur zu verstehen ist, ist ohne Kraus, dessen Werke zu Beginn der 50er Jahre, in denen Mon zu schreiben beginnt, wieder erscheinen, nicht denkbar. Die experimentelle Literatur tritt sein Erbe an, indem auch sie das Verhältnis von Wort und Wesen, von Ausdruck und Wirklichkeit überprüft. Nicht in dem Glauben, daß Dichtung die Übereinstimmung von Wort und Wesen je wieder erreichen wird, aber mit der Überzeugung, daß die Zerstörung der Redegewohnheiten zeigen kann, wie groß die Kluft zwischen Wort und Wesen in der gedankenlos gebrauchten Sprache ist, wie groß die Gefahr ist, daß die sprichwörtlichen Prägungen selbst die Realität zu beherrschen und zu prägen beginnen. Mon spricht von einer „von Sprachstereotypen wetterfest imprägnierten Wirklichkeit. Realität wird in die verkürzte sprachliche Fassung übersetzt und dadurch der Anschein erweckt, der Realität ausgesetzt und ihr gewachsen zu sein. An diesem Besänftigungsprozeß ist gerade die Literatur beteiligt, die auf ihren harten Realismus stolz ist“. Nur die Collage als ein wesentlicher Bestandteil des experimentellen Textes ist fähig, diese ,sekundäre Realität‘ zu durchlöchern. Sie löst die zu Realitätsfragmenten gewordenen Sprachgebilde aus ihrer Vertraulichkeit und gibt den Blick auf die ,Zwischenräume‘ frei.

Mit dem gegebenen Material, mit den Brocken aus der nur zu bekannten Realität bringt sie durch ihre Methode eine ,andere‘ Wirklichkeit hervor, die nicht nur die Innereien der fatal bekannten Welt hervorkehrt, vielmehr zugleich Muster und Spielformen einer neuen, unvernutzten, vielleicht nur momentan, vielleicht nur in diesem künstlerisch-künstlichen Medium erreichbare Welt entwirft. Die Collage enthält nicht nur Kritik, sie dreht das Kritisierte zugleich um zu einer Gestalt, die wieder wahrnehmbar und griffig ist.

Der Name Karl Kraus fällt in Mons Essay „Collagetexte und Sprachcollagen“ mehrmals. Mon führt den Impuls, „mit der neuen, schockierenden Technik das illusionistische Sprachgewebe zu durchstoßen und die splitternde Realität erfahren zu lassen“, auf Kraus, genauer gesagt: auf dessen Letzte Tage der Menschheit zurück. Eine „Literatur nach Karl Kraus“ habe immer mit dem „Collageeffekt“ zu rechnen. Gemeint ist damit sowohl die Struktur der Sprache selbst als auch das Verfahren des Schriftstellers, dessen Aufgabe es ist, den collagehaften Charakter der Realität „aufzustöbern und drastisch zu machen“. Kraus wird somit zum Begründer eines realitätsgerechten und sprachkritischen Schreibens. Nun eignen aber die Beispiele, die Mon in seinem Aufsatz über Collagetexte gibt, eher der Montage als der Collage. Es ist die Montage, die der Offenlegung der Realität dient, die Nahtstellen schafft, um die Kluft zwischen Sprachschablone und Realität möglichst drastisch zu verdeutlichen. Während das Material der Montage einen dokumentarischen Charakter trägt und nach außen gerichtet ist, hört die Collage in die Sprache  h i n e i n, indem sie von der Spannung zwischen Sprachphysis und Bedeutung lebt. Die Collage stellt den Text her (textum = das Gewobene), der sich durch seine prozessuale Fassung auszeichnet: er hinterläßt im Leser den Eindruck einer Kohärenz seiner heterogenen Teile, die keinem an die Sprache herangetragenen Konstruktionsprinzip folgt. Die Montage ist in erster Linie ein realistisches sprachkritisches Verfahren, die Collage dagegen ein sprachschöpferisches, in dem die Konstruktion aus der Destruktion hervorgeht. Beide Verfahren gründen im Werk von Karl Kraus; das sprachkritische in den Letzten Tagen der Menschheit, das sprachschöpferische in seiner „Sprachlehre“, der er 1921 ein Heft der Fackel widmete. Die „Sprachlehre“ war keine Lehre über die Sprache, sondern ein Lernen aus der Sprache, keine Schule der Grammatik, sondern eine Anleitung zum Denken. Kraus’ Bestreben war es – und darin besteht das Sprachschöpferische als Schöpfung der Sprache selbst –, „Worte, die schon allen möglichen Verrichtungen und Beziehungen gedient haben“, so zu setzen, daß der Gedanke, der in ihnen wohnte und den der Gebrauch vertrieben hatte, wieder sichtbar, wieder erlebbar werde: nicht den Gedanken in Worte zu kleiden, sondern den Worten die Gedanken zu entlocken. „Die äußere Verständigung ist das Hindernis, das sie zu überwinden hat“. Ein Hindernis aber, das genommen werden muß, weil der Schriftsteller nicht so tun kann, als habe es den Gebrauch nicht gegeben. Die ,konkrete Poesie‘ Gomringers nahm das Hindernis nicht, sondern lief an ihm vorbei. Sie wollte den Inhalt des Wortes beleben und tötete ihn doch nur ab, indem sie das Wort aus seinem syntaktischen und semantischen Umfeld gewaltsam löste und – ungeachtet der ,Krallen‘, die das Wort besitzt – einem naiven Begriffsnaturalismus huldigte. Gomringers Konstellationen bringen die Bedeutung eines Substantivs durch die graphische Anordnung der Zeichen mit seinem Bild zur Deckung; ihre Wirkung erschöpft sich in diesem Effekt. Anders die Sprachgebilde der experimentellen Literatur. Das artikellose Substantiv besitzt keine materialen Qualitäten. Denn das Wort „ist nie das was es gilt, sondern was es im Gedicht wird, nicht wie es aussieht, sondern wo es steht“. (Kraus) Wie für Kraus das Wort nur im Satz-Gefüge zu seiner wahren Entfaltung kommt, so ist für den experimentellen Schriftsteller das ,Unerwartete‘ nur aus dem Zusammentreffen von Wortbereichen denkbar, ist das Wort auf seine Nachbarschaft angewiesen. Der experimentelle Text treibt den „jähen Sinn“ eines Wortes aus dem Prozeß der Materialdurchdringung hervor.

Der poetische Materialbegriff umfaßt nicht nur das wahrnehmbare, tönende oder sichtbare Zeichensubstrat, er umfaßt  a l l e  an der Sprache beteiligten Schichten vom phonetischen Stoff über die artikulatorische, verbale, syntaktische bis zur semantischen Struktur… Die experimentelle Fragestellung gilt sowohl den Schichten (Parametern), aus denen Sprachgebilde bestehen – z.B. Melodie, Tonhöhe, Tonstärke, Tempo eines Sprechverlaufs –, wie den kleinsten möglichen Elementen, wie den kompositorischen Großformen bzw. den Kompositionsprinzipien, mit denen Texte, welchen Umfangs auch immer, gebildet werden können.

Kraus’ Gedanke der „Körperhaftigkeit des Wortes“ ist von diesem Materialbegriff nicht weit entfernt.

Die Körperhaftigkeit des Wortes, an dem man gemeinhin nur die eine Dimension der Aussage gewahrt und erlebt, ist immer in jener Unscheinbarkeit gegeben, die einem Blick, der über den Sinn nicht hinauslangt, alle tiefere Beschaffenheit vorenthält und somit die Geschaffenheit selbst.

Das Wort ,Material‘ ist Kraus keineswegs fremd gewesen –, er hat diesen für die experimentelle Literatur seit Schwitters zentralen Begriff sehr präzis im Sinne von ,materia‘ (,Mutterstoff‘, das Vorhandene) verwendet. Aber was ist für den sprachbewußten Schriftsteller das Vorhandene? Doch das durch den Alltagsgebrauch geformte, verformte Wort.

Auch kann die Verwendung unreinen Materials einem künstlerischen Zweck frommen. Ich vermeide Lokalismen nicht, wenn sie einer satirischen Absicht dienen. Der Witz, der mit gegebenen Vorstellungen arbeitet und eine geläufige Terminologie voraussetzt, zieht die Sprachgeläufigkeit der Sprachrichtigkeit vor, und nichts ist ihm ferner als der Ehrgeiz puristischen Strebens.

Der Sprache, heißt es an anderer Stelle (wieder gegen die Sprachpuristen gerichtet), kann nichts gleichgültiger sein als das Material, aus dem sie schafft.

Ein Literaturprofessor meinte, daß meine Aphorismen nur die mechanische Umdrehung von Redensarten seien. Das ist ganz zutreffend. Nur hat er den Gedanken nicht erfaßt, der die Mechanik treibt: daß bei der mechanischen Umdrehung der Redensarten mehr herauskommt als bei der mechanischen Wiederholung.

Dem sprachschöpferischen Autor, der aus der Sprache schafft, ist das unreine Material somit kein Hindernis, es ist im Gegenteil Ausgangspunkt dafür, um das Wort so zu setzen, „als ob es just ins Leben getreten wäre“ (Kraus). Das geschieht beispielsweise in der Umkehrung oder im Wörtlichnehmen von Redensarten: aus den Spuren seines Gebrauchs heraus entfaltet das Wort eine Bildfülle, die ihm eine nie dagewesene Konkretion und Frische verleiht. Die Enthemmung einer eingetrockneten Bildwelt. das Beweglichmachen erstarrter Bilder ist eines der konstitutivsten Elemente der experimentellen Poesie. Sie gründet auf einer „Erfahrens- und Darstellungsweise, die ihr Faszinosum gerade in den Fetzen der alten entdeckt“.

III. Restitution des volldimensionierten Subjekts: Abenteuer des Wortes

Wie öffnet es die Lider,
die sonst geschlossen waren.
Hier gibt es nur Gefahren.
Ich kenn’ das Wort nicht wieder.
Kraus

Worte, Worte – Sustantive! Sie brauchen nur die Schwingen zu öffnen und Jahrtausende entfallen ihrem Flug.
Benn

Der sprachkritische Autor ist zugIeich ein Spracherotiker. Auch hier erblicken wir in Kraus den Vorfahren. Der Sprachkritiker sieht in der Phrase das Objekt seiner Kritik, um sich in der Sprachschöpfung ganz dem Subjekt Sprache auszuliefern. „Ich beherrsche nur die Sprache der andern. Die meinige macht mit mir, was sie will.“ Der Spracherotiker ergreift nicht das Wort, sondern wird von ihm ergriffen. Wie in der Liebe bedingt die Aktivität des einen die Initiative des andern; die des Autors die der Sprache, die der Sprache die des Autors: das Wort schlägt die Augen auf, wenn der Autor es ansieht und das Wort blickt zurück. Denen, die die Sprache nur benutzten, blieb das Wort verschlossen. Nun aber, erlöst von einer Realität, „die nur funktionalisierte Teilnehmer kennt“, offenbart es seine ganze Geschichte. „körper mit einer physiognomie, in der – obwohl doch nichts von außen hat mitspielen können – nicht zu vermutende spuren, lesarten eingeritzt sind“. So gewinnt das Wort wieder Gestalt, es wird Körper, es besitzt auf einmal taktile Qualitäten, es hat Haut, die auf Berührungen reagiert, Haare, die sich sträuben.
Das spracherotische Moment in den experimentellen Texten, die eigentlich treibende motivierende Kraft, ist von der Sekundärliteratur so gut wie gar nicht wahrgenommen worden. Ebensowenig ist auf das Groteske in den Texten Mons hingewiesen worden, das seine Genesis eben jener Spracherotik verdankt. Denn wenn die Wörter jenseits ihrer zweckgerichteten Funktionen Verbindungen, Hochzeiten eingehen, so ändert sich damit auch das Verhältnis der Signifikate zueinander. Es wird seltsam, unerhört, phantastisch. Das neu entstandene Wortgefüge weist auf eine Realität, in der die Gesetze der zwingenden Logik außer Kraft gesetzt sind, die die Grenzen der Normalität nicht mehr kennt. Das Groteske ist das Ergebnis sinnlicher Sprachbeziehungen, in denen nur die Anziehungskraft des Materials, der Körper, gilt. Die Verbindung der Sprachkörper miteinander ist materialiter, ist sinnlich notwendig; beschaut man sie von außen, wirkt sie grotesk und stellt die Realität in ihrer Normalität in Frage.
Nichts liegt diesen Texten ferner als die Eingliederung in eine auf Selbsterhaltung bedachte Gesellschaft. Die Zustimmer haben die experimentelle Literatur eher zu Grabe getragen, als daß sie ihre Wirkung belebt hätten. Für Siegfried J. Schmidt firmieren die Texte Mons unter einer zweiten Phase ,konkreter Dichtung‘, die durch „konzeptionell-konkrete Sprachbehandlungspraktiken charakterisiert sein soll.

Konkrete Dichtung ist die Dichtungsform einer aufgeklärten und an ihrer Selbstaufklärung interessierten Gesellschaft. Eine rationale Dichtung in die Zukunft: – Die sogenannte experimentelle Literatur setzt Leser voraus, die bereit sind, sich auch mit Ungewohntem kritisch auseinanderzusetzen; die Literatur nicht als etwas betrachten, was so bleiben muß, wie es immer war. Produktive, spontane Leser, die Veränderungen als notwendig und interessant betrachten und bereit sind, ohne gelernte Vorurteile neue Möglichkeiten zu durchdenken. Mutige Leser, die sich auf ungesichertes Gebiet wagen und auf die Rockzipfel der Autoritäten verzichten können. Neugierige Leser, die bereit sind, neue Entwürfe zu finden und aufzugreifen.

Das hört sich wie ein Kulturprogramm jener Partei an, die die alten Zöpfe abschneiden wollte. Schmidt, der als der fortschrittliche Anwalt experimenteller Literatur gelten will, entwirft ein ähnlich positivistisch orientiertes Weltbild von einer technisch-rationalistischen Gesellschaft, das schon Gomringer vorschwebte, wenn er von der „synthetisch rationalistischen weltanschauung von morgen“ sprach, durch die sich der ,konkrete‘ Dichter auszeichne. Die theoretischen Texte Mons aber geben darüber Auskunft, daß die experimentelle Literatur nie eine Literatur für, sondern eine Literatur gegen etwas sein wollte. ,Gegen‘ freilich nicht im Sinne einer politischen Opposition –, eher im Sinne eines Sich-Verschließens gegenüber jener Funktionalität, die von der Literatur erwartet, als Forderung an sie herangetragen wird. Die Arbeit an der Sprache bedeutet dem experimentellen Autor in einem „Jahrhundert schauerlichster Industrien“ (Mon) die letzte Möglichkeit zu Spontaneität und Subjektivität –, Fähigkeiten, die die industrielle Gesellschaft dem Menschen zu nehmen beginnt. Wenn die Kunst auch nicht die Kraft besitzt, die ,zivilisatorische Entfremdung‘ aufzuheben, so vermag sie doch der „zivilisatorischen Physiognomie das unerwartete und doch begründete Gesicht der Freiheit, des Spiels“ zu zeigen und die „Existenzform des volldimensionierten Subjekts am Leben zu halten“. In der Erfahrung der Sprache erneuern Autor und Leser die Erfahrung ihrer Freiheit.

Indem er an einer Stelle die Gleichgültigkeit durchbricht und der gewählten Materie ihre Sprache zurückgibt, wird seine eigene Situation individualisiert und wenigstens für einen Augenblick dem allgemeinen Funktionsgeflecht enthoben…

Kein Zweifel –, dem experimentellen Schriftsteller wird die Sprache zum Abenteuer, durch das er sich und seine Umwelt ,findet‘. Er verhält sich in der Sprache mimetisch zur Natur. Lippen, Zunge, Zähne  t a n z e n  im Artikulieren, „vollbringen Gebärden, die erst angesichts jener Bedeutungsaura zu funkeln vermögen und sich doch so reichhaltig anfühlen, als brauchten sie nichts als ihre Sekunde“. Die experimentellen Texte sind „Vollzüge, Medien, mit und in denen wir da sind. Kristallgitter, Membrane, Organe, die uns wahrzunehmen und dazusein helfen unter schwieriger und komplizierter gewordenen Bedingungen. Sie sind zugleich Spielräume, in denen wir am Modell wiederholen oder vorwegnehmen, was überhaupt mit uns geschieht“. Die Materialität der Wörter reißt den Autor mit, er  f o l g t  ihnen, ist zugleich eine passive Instanz in diesem höchst beweglichen Prozeß. „O markverzehrende Wonne der Spracherlebnisse! Die Gefahr des Wortes ist die Lust des Gedankens. Was bog dort um die Ecke? Noch nicht ersehen und schon geliebt! Ich stürze mich in dieses Abenteuer“. Als Erlebnis, als Abenteuer hatte Kraus die Arbeit an der Sprache gesehen.

Im Hin- und Wiederfluten
der holden Sprachfiguren
folgt er verbotnen Spuren
posthumer Liebesgluten

Der mit der Sprache experimentierende Schriftsteller – so anachronistisch wie Kraus zu seiner Zeit, die sich nie über ihn zu erheben vergaß, weil er es ,nur‘ mit der Sprache zu tun gehabt habe – geht nicht minder solch verbotener Wege. (Zu Recht hebt Heißenbüttel im Vorwort zu dem TEXT + KRITIK-Jahrbuch Offene Literatur hervor, daß der von Mon herausgegebene Sammelband movens von der kritischen Öffentlichkeit nicht gewürdigt worden ist, sondern eher zu Verleumdungen geführt hat.) Verbotener Wege, weil sie obendrein unüberschaubar, labyrinthisch sind. Er weiß ja nicht, wohin ihn der Weg der Sprache führt. „Der Prozeß“, schreibt Mon, „bringt sein Thema zu Tage, wenn er durch ist“. – „Die Stücke keimen und wachsen und bilden winzige Zusammenhänge. Der Bauplan, in dem das geschieht, ist noch nicht starr; er entwickelt sich vielmehr in der Berührung mit dem Material, er nimmt dessen Eigensinn in Kauf und muß elastisch genug sein, sich noch beim Prozeß des Schreibens verändern zu können“, schreibt Ror Wolf in seinem Essay „Meine Voraussetzungen“. Unterwegs bleibt er an Wurzeln (Sprachwurzeln), an Haken, Verästelungen hängen:

Nichts scheint selbstverständlicher als meine Rede, und doch stürze ich in die dunkle Grube eines Wortes, das ich schon immer zu kennen glaubte. Wer aber nun tatsächlich meine Bücher lesen will, sollte sich hineinlocken lassen in das Geflecht von Vorgängen und Erscheinungen; er soll sich den Weg hauen durch ein Dickicht von Sätzen; er soll in Fallen stürzen und sich aufspießen an Worten; er soll mit den Bewegungen der Sprache die Ritzen und Buckel der Realität nachfahren, die mikrobisch und monströs, bizarr und banal, konkret und phantastisch zugleich ist.

Was Ror Wolf dem Leser aufträgt, galt zuvor für den Autor selbst, beim Schreiben des Textes. Er fand zwar das Material, wählte es aus, aber es drängte sich ihm vor seinen Augen zusammen und er folgte diesem Drängen. Denn wenn diese Literatur die Eigentümlichkeiten der Sprache und Sprechens selbst reflektiert, ist der Autor kein genuin schaffender mehr sondern ein Leser, einer, der in der Sprache liest.
In krassem Gegensatz zu dieser erotischen Sprachauffassung, die sich in einer entsprechend mimetischen Naturmetaphorik ausdrückt, stehen die Äußerungen der ,Konkreten‘ und ihrer Interpreten. Wenig verwunderlich ist es, daß die positivistisch orientierte Sekundärliteratur mit Mons Versuchen einer zeitgenössischen Poetik nichts anzufangen weiß. Dietrich Kessler findet Mons Formulierungen „bisweilen unerträglich prätentiös und überspitzt“ und setzt in der Manier des schulmeisternden Germanisten den Rotstift an:

Mon aber fällt zurück in eine pseudotiefsinnig schöngeistige Schreibweise: „flüchtigste speise, die Luft“, „glück des ausdrucks“, usw. Das sind wohl für einen sprachbewußten Arbeiter grobe Schnitzer in der Adäquatheit des Ausdrucks, deren es unzählige gibt, bis hinein in die Syntax.

In solchen Passagen zeigt sich der Unterschied zwischen Konkreter Poesie und experimenteller Literatur einmal mehr: was letzterer als pseudotiefsinnige schöngeistige Schreibweise vorgeworfen wird – nichts anderes aber als jene Spracherotik –, läßt sich nicht einfügen in eins Bild einer „synthetisch rationalistischen Weltanschauung von morgen“. Nicht minder hat die geläufige Vorstellung vom Sprachspiel die experimentelle Literatur in Mißkredit gebracht: daß doch das Sprachspiel nicht mehr als eine beliebige Spielerei sei. Heinrich Vormweg hat, sich auf Wittgenstein berufend, darauf hingewiesen, daß das Sprachspiel in der experimentellen Literatur nichts mit Beliebigkeit und Belanglosigkeit zu tun hat. Eine Sprache vorstellen, heißt es in Wittgensteins „Philosophischen Untersuchungen“, bedeutet, sich eine Lebensform vorstellen. Dies gilt auch für das Sprachspiel, von dem Wittgenstein in seinen Untersuchungen ausgeht. Während Mon die Sprache als letzte Zuflucht des „volldimensionierten Subjekts“ sieht, gesteht Bense die der ,konkreten Poesie‘ vorgeworfene Langeweile ein.

man wirft der experimentellen poesie gern trockenheit, langweiligkeit vor. aber natürlich wird man zugestehen, daß das, was aus der rationalen und abstrakten phantasie stammt, viel weniger auf dem hintergrund einer lebenswirklichkeit der gefühle als vielmehr auf dem spirituellen hintergrund einer theorie entstand, in geringerem maße affiziert und bewegt als vital und emotional determinierte abläufe. dennoch entspricht die reduzierung des poetischen, die sich in der experimentellen poesie abzeichnet, durchaus jener reduzierunq der vitalen menschlichen existenz, die in jeder technischen zivilisation zwangsläufig eingeleitet wird.

Was Bense über die Substanz der konkreten Texte aussagt, bestätigt die geläufige Vorstellung vom Sprachspiel. In Gomringers Konstellationen oder in Claus Bremers „Tabellengedichten“ tritt der Autor als der sichere Jongleur auf. Er operiert mit Wörtern, er läßt sie wie Marionetten nach seinem Willen tanzen. Die Konstellation, eine ,merkbare Formel‘, stellt eine Ordnung und zugleich einen „spielraum mit festen größen“ dar. Sie ist statisch und kennt keine Motorik, keinen Bewegungsablauf –, ein Produkt des Kalküls. Anders die experimentellen Texte Mons. Was sie an Spielerischem einbringen, wird von Autor und Leser gleichermaßen  e r f a h r e n; sie nähern sich dem, was Gadamer als das Wesentliche des Spiels bezeichnet hat:

a l l e s  S p i e l e n  i s t  e i n  G e s p i e l t  w e r d e n. Der Reiz des Spieles, die Faszination, die es ausübt, besteht eben darin, daß das Spiel über den Spielenden Herr wird… Das eigentliche Subjekt des Spieles (das machen gerade solche Erfahrungen evident, in denen es nur einen einzelnen Spielenden gibt) ist nicht der Spieler, sondern das Spiel selbst. Das Spiel ist es, was den Spieler im Banne hält, was ihn ins Spiel verstrickt, im Spiele hält.

Wenn der experimentelle Text jene Bewegung der Sprache ist, in die wir, „kaum geboren, hineinstolpern und – gestoßen werden, wenn wir nicht wollen, und – rennen, kaum daß uns einer gestoßen hat“; dann ist der Autor gleichermaßen in dieses Spiel der Wörter verstrickt. Dann spielen die Wörter mit  i h m, dann operiert nicht er mit Worten, sondern sie mit ihm. Dann kehrt sich das tradierte Verhältnis des Sprechenden zur Sprache um. Dann warten die Wörter nur darauf, daß der Autor sie in die richtige Fassung bringt, in die Fassung, die in ihnen latent schlummert.

Die Tathandlung des Künstlers ist das Minimale, zwischen dem Problem zu vermitteln, dem er sich gegenüber sieht und das selber bereits vorgezeichnet ist, und der Lösung, die ebenso potentiell in dem Material steckt. Hat man das Werkzeug einen verlängerten Arm genannt, so könnte man den Künstler verlängertes Werkzeug nennen, eines des Übergangs von der Potentialität zur Aktualität.

IV. Der Aufstand des Materials
In mir empört sich die Sprache selbst, Trägerin des empörendsten Lebensinhalts, wider diesen selbst. Sie höhnt von selbst, kreischt und schüttelt sich vor Ekel. Leben und Sprache liegen einander in den Haaren, bis sie in Fransen gehen, und das Ende ist ein unartikuliertes Ineinander, der wahre Stil dieser Zeit.
Kraus

Die Wörter haben aufgehört zu spielen. Die Wörter lieben sich.
Breton

Ein Satz kann nie zur Ruhe kommen. Nun sitzt das Wort, denke ich, und wird sich nicht mehr rühren. Da hebt das nächste seinen Kopf und lacht mich an. Ein drittes stößt ein viertes. Die ganze Bank schabt mir Rübchen. Ich laufe hinaus; wenn ich wiederkomme, ist alles wieder ruhig; und wenn ich unter sie trete, geht der Lärm los.

Kunst und Literatur, die das Kunstwerk als Produkt des Materials begreifen, haben in diesen Sätzen Kraus’ ihren Ausgangspunkt. Eigengesetzlichkeit, Logik, Eigenleben des Materials bilden die Voraussetzungen für eine Ästhetik experimenteller Literatur. Nicht geringer ist die Bedeutung des Materials für die Neue Musik, die sich als experimentelle Musik versteht.

Komponieren aber heißt freisetzen, was da herauswill; dem, was da untergründig west, Ausgang verschaffen, zumindest es ans Licht bringen; also das Material nebst seinen Anhängseln zur Entfaltung, ja zur Selbstdarstellung gelangen zu lassen. Das implizierte etwa: akustische Prozesse in Gang bringen, um ihre latenten Möglichkeiten zu erschließen, in Klangmaterialien herumzustochern und dem Hervorkommenden seinen Lauf zu lassen, auf daß die  G e s c h i c h t e  n e b e n  d e n  M a t e r i a l i e n  hervorbreche.

Parallel vollzogen experimentelle Literatur und Neue Musik dieselben Prozesse: in der Besinnung auf die Eigentümlichkeiten des Materials. Wie die experimentelle Literatur sich vom ,Wort an sich‘ emanzipierte und gesellschaftlich geprägte Sprache, Phrasen, Idiome, Versatzstücke bewußt in den Gestaltungsprozeß einbezog, so löste sich die Neue Musik vom reinen Klang der Instrumente und brachte die Geräusche des Alltags, das ,unreine‘ Material (Klirren von Glas, Zersägen von Holz, Wassergeräusche) zur Entfaltung. Der Neuen Musik ist alles akustisch und darüber hinaus – man denke an Cages water music oder an Schnebels visible Musik – das optisch wahrnehmbare Material. Material ist „jedwedes Klingende, nachdem die Tabuierung der schmutzigen Klänge ihre Kraft verloren hat“. Komponiert werden nun aber – wie Schnebel hervorhebt – nicht lediglich die Materialien im Sinne von Bausteinen sondern auch das Immaterielle, die Verhältnisse der Materialien zueinander, also Freundschaft und Feindschaft der Klänge.

Scharen etwa harter und spitzer Materialien verhalten sich zu weichen ,gallertartigen‘ Gebilden, dringen in sie ein und durchbohren sie. Man disponiert kaum mehr Verhältnisse von einzelnen Tönen und Geräuschen, wohl aber solche von Scharen und Massen, Zuständen und Prozessen der Materialien.

Was Schnebel über das Verhältnis der Geräusche und Klänge zueinander zum Ausdruck bringt, ist dem, dessen Material die Sprache ist, kaum weniger vertraut. Mon spricht von der „winzigen Dramatik zwischen den Partikeln, zwischen den Partikelgruppen und zwischen den Gruppen und den Einzelelementen“; den ,immateriellen‘ Beziehungen der Materialien in der Neuen Musik entsprechen die Bedeutungshöfe, von denen die Wörter umgeben sind. Kraus nannte die Sprache einen Irrgarten, einen „Zwist, bei dem ein Wort das andere gibt“. Die Wörter sind für den Spracherotiker lebendig; in ihren Verbindungen spielen sich Formen menschlichen Zusammenlebens, Dramen und Hochzeiten, ab. Auch für den Komponisten, der den Verlauf der Musik weitgehend dem Material überläßt, sind die Klänge in hohem Maße beredt, lebendig.

In der Tat verhalten sich die zu Verhältnissen komponierten Klänge und Geräusche oft quasi menschlich: sie handeln, und es kommt zu Angriffen, Erwiderungen, auch zu Versöhnung. Indem die Komponisten derartige Verhältnisse disponierten, übten sie sich darin, Potenzen, in Bewegung geratenes und Prozesse zusammenzubringen.

Allein die Neue Musik konnte den Gedanken einer lebendigen Materie, die gegen eine erstarrte Welt rebelliert, in die Praxis umsetzen, in die Praxis der Aufführung, in der das Material zur Aktion gebracht wird.

Nun lassen, sich solche Verhältnisse auch direkter komponieren, nämlich nicht erst als Verhältnisse von Tönen und Geräuschen, sondern gleich als Verhältnisse derer, die sie hervorbringen. Im allgemeinen werden Töne und Geräusche von Menschen erzeugt, mittelbar indem sie Instrumente bedienen, oder unmittelbar durch ihre Stimme. Statt bloß die Klänge, die die Ausführenden produzieren, in Verhältnisse zueinander zu bringen, disponiert man auch Verhältnisse der Ausführenden zueinander. Das verlangt von diesen in hohem Maß Identifikation mit der Musik, die sie machen. Eventuell müssen sie Feindschaft gegeneinander spielen oder eitel Harmonie.

Auf faszinierende Weise wird so das alte Knechtschaftsverhältnis, in dem sich das Material befand, umgekehrt: das lebendige Material setzt die Menschen in Szene. Immer hatten diese das müde, strapazierte Material abermals strapaziert, die Worte und Klänge dazu  b e n u t z t  um ihre armseligen Lieb- und Feindschaften auszutragen –, nun benutzt das Material den Menschen, stellt ihn in seine Dienste, auf daß er gestisch nachahme, was im Material klingt. Der experimentierende Künstler befreit somit das Material; er läßt sich – ohnehin von der demokratischen Öffentlichkeit zum Esoteriker abgestempelt – in keine anderen Dienste stellen als in die, die ihm das Material auferlegt.
Erinnern wir uns an Kraus: der sich einen Diener des Wortes nannte, war zugleich dessen Anwalt und damit auch der Rächer des Wortes. Die Idee einer solchen Rächerschaft ist die letzte Konsequenz im Denken des Spracherotikers, des Materialarbeiters. Er nimmt die Sprache ernst im Gegensatz zu dem, der nur mit der Sprache spielt. Die Wörter, die aufgehört haben zu spielen, sind jene, die begonnen haben sich zu lieben. Sie haben sich vom Menschen emanzipiert, sie lieben sich um ihrer selbst willen, sie lieben ihre materiale, sinnliche Beschaffenheit, ihre Körper. Und der Autor läßt sie gewähren:

Denn Worte haben eine bestimmte magnetische Masse, die gegenseitig nach Regeln anziehend wirkt; sie sind gleichsam ,sexuell‘, sie zeugen miteinander, sie treiben Unzucht miteinander, sie üben Magie, die über mich hinweggeht, sie besitzen Augen, Facettenaugen wie Käfer und schauen sich unaufhörlich und aus allen Winkeln an. Ich bin Kuppler und Zuhälter von Worten und biete das Bett; ich fühle, wie lang eine Zeile zu sein hat und wie die Strophe ausgehen muß… ich setze vielmehr Worte in Szene und sie treiben ihre eigene Choreographie.

Das Eigenleben der Worte, das H.C. Artmann seinen Texten zuschreibt, hat Franz Mon in herzzero in hohem Maße verwirklicht. Mit dem Untertitel „Dialogische Übungen“ wurde ein Auszug aus herzzero 1962 in der Frankfurter Studentenzeitung Diskus veröffentlicht. Doch hier sprechen nicht die Menschen, sondern die Wörter miteinander. Der sinnliche Eindruck ist total: die ständige Verschiebung der Perspektiven, der Wechsel der Bilder und die Wahl des Vokabulars verstärken diesen Eindruck von außen her, verleihen dem Text eine thematische Stabilität. Der Stoff ist in steter Bewegung und mit ihm sind es die Wörter. Sie erscheinen hier tatsächlich als jenes „kleine Getier, das zwischen den Ritzen Wirrende“, von dem Mon in seinen Bemerkungen zu dem Text „grundriß“ sprach. Der Liebesakt der Wörter besteht in der Angleichung des Verschiedenen, ohne daß das einzelne Wort sein unterscheidendes Merkmal, das ihm seine Identität verlieh, ganz verlieren würde. Es schwebt vielmehr zwischen seiner Identität und der Ähnlichkeit, die es zu einem anderen hat. Im folgenden Beispiel werden Personen aufgerufen, deren Anwesenheit jeweils mit einem ja bestätigt wird:

und okular der alte
ja
und schnützchen
ja
und mailein
ja
und lobst
ja
und die vegel
ja
und nero
jow
und nibbel
jei
und nies
jii

Der Vokal der Antwortpartikel gleicht sich dem der Namen an. Die Angleichung ist keine willkürliche Wortneuschöpfung sondern Resultat eines Vorgangs. Das Wort bringt seine ursprüngliche Beschaffenheit als Ausgangspunkt mit, der Leser kann die Entstehung seiner neuen Gestalt verfolgen. Überdies gleichen sich auch die Namen an, haben das Bedürfnis, ihrem benachbarten ,Kolleqen‘ ähnlich zu werden. Name und Vorname verlieren ihre sie unterscheidenden Merkmale: „zacke sämerchen – basta schebel – poppe lack“. In solchen Namensbildungen verschwinden die kognitiven Elemente ganz, Sprache wird zu einer primär sinnlich wahrnehmbaren Materie, die sich ihrer Mimesis an die Natur erinnert: sie besitzt nun Wörter, die man in den Mund nehmen kann, Wörter, wie es bei Mon heißt: zum Kauen. Roland Barthes sprach vom „Paradies der Wörter“.

Eine Art Franziskanertum ruft alle Wörter auf, sich einzufinden, herbeizueilen, wieder Platz zu machen: ein marmorierter, buntschilldernder Text, wir werden von der Sprache verwöhnt wie kleine Kinder, denen niemals etwas abgeschlagen, vorgeworfen oder, schlimmer noch, „erlaubt“ wird. Das ist ein wahres Jubilieren, der Augenblick, wo die verbale Lust durch ihr Übermaß einem den Atem raubt und in Wollust umschlägt.

Barthes’ Bestimmung des paradiesischen Textes läßt sich als Kommentar zu Mons Texten denken; möglicherweise gibt es gar keinen besseren. Eine Interpretation aber, die den Hauptakzent auf dem Hedonistischen belassen würde, würde den Anspruch, der in der Verbindung von Spracheros und Sprachkritik verborgen ist, zurücknehmen. Das Bild, das aus Mons Texten spricht, ist nicht das einer im besten Ein- vernehmen mit dem Menschen lebenden Sprache. Es ist vielmehr das des einzelnen, dem die Sprache gegenübersteht.

stelle dir vor: alle wörter, die du in deinem leben nur ein einziges mal benutzt hast, stünden um dich herum, eine hand am ohr, den mund offen, als lauschten sie angestrengt, und du zweifelst nicht, sie lauern darauf, von dir nochmal und ein drittes mal gebraucht zu werden. du liest in ihren physiognomien, daß ihre geduld strapazierfähig, aber einmal doch zu ende ist. du ahnst, was sie vorhaben, und bist auch bereit, auf ihren wunsch einzugehen, doch beim besten willen du kommst nicht darauf wie sie heißen.
stelle dir vor: alle wörter, die du jemals ausgesprochen hast, würden, mit deiner stimme und in der selben von dir abgewandten lautstärke, noch einmal, ein einziges mal alle gleichzeitig ertönen, was sich – stelle ich mir vor – wie eine steiIwand aus berstenden hühnern anhören müßte.

Ein Bild, das – wie viele Bilder in Mons Texten – eher kafkaesk als friedlich wirkt. Der einzelne sieht sich einer überdimensionalen Macht gegenüber, die still ist, die aber nur auf seine Handlungen lauert um aktiv zu werden. Das Geräusch, das die Vielzahl der Wörter ausstoßen wird, wird ohrenbetäubend sein; es wird nicht gefallen, es wird erschrecken, es wird dem Aufstand des Materials Ausdruck verleihen.

Hans Christian Kosler

 

 

 

Inhalt

– Franz Mon: Geburtstag
– Hans Christian Kosler: Sprachkritik und Spracherotik in der experimentellen Literatur. Die Poetik Franz Mons im Umfeld einer möglichen Wahrnehmung
– Gisela Dischner: Über die Unverständlichkeit. Zur Krise der Repräsentanz
– Franz Mon: Situationen
– Helmut Heißenbüttel: herzzero oder die Fortbewegung von Textmengen
– Franz Mon: Mortuarium für zwei Alphabete
– Helmut Heißenbüttel: 13 Thesen über ästhetische Grenzüberschreitung
– Franz Mon: Hörspiele werden gemacht
– Klaus Schöning: hörst du das gras wies wächst. Anmerkungen und Zitate zu Franz Mons Hörstücken
– Franz Mon: Bibliographie Franz Mon 1951–1978

 

Zeitschriftenlese

Es gehört wohl zu den stärksten Passionen junger, selbstbewusster Zeitschriftenmacher, die jeweils amtierenden Literaturpäpste zu grimmigen Bannflüchen zu reizen. Auch im Falle von Heinz Ludwig Arnold, dem Erfinder der Zeitschrift Text + Kritik, kam es zu Verwerfungen, als der junge Germanistikstudent im November 1962 den großen Friedrich Sieburg, seines Zeichens Chefkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, um ein existenzsicherndes Inserat für seine neue Zeitschrift anging. „Sie scheinen nachgerade an einem hoffnungslos gewordenen Qualitätsbegriff festhalten zu wollen“, so komplimentierte Sieburg artig den jungen Editor, um anschließend die Peitsche zu zücken: „Sie nennen für die erste Nummer drei Namen, die mir alle drei gleich widerwärtig sind, nämlich Günter Grass, Hans-Henny Jahnn und Heinrich Böll. Das ist … eine trübe Gesellschaft, dem deutschen Waschküchentalent entstiegen und gegen alles gerade Gewachsene feindselig gesinnt.“ Zwei Jahrzehnte später, so behauptet die Legende, war es Sieburgs Nachfolger Marcel Reich-Ranicki, der mit derben Beschimpfungen der „Schweine-Bande“ um „Arnold-Dittberner-Kinder“ nicht geizte.
Der so Attackierte ließ sich nicht einschüchtern. Der damals 22-jährige Arnold setzte in seinen ersten beiden Heften unverdrossen auf seine Hausgötter Grass und Jahnn – und es gelang ihm scheinbar mühelos das, was bei Rainer Maria Gerhardt, dem heute vergessenen Literaturgenie der Nachkriegszeit, noch in astronomisch hohen Schulden und einem tragischen Freitod geendet hatte. Unter dem ursprünglich von Arnold gewünschten Zeitschriftentitel fragmente hatte Gerhardt schon 1951/52 in seinem großartigen literarischen Journal dem restaurativen Nachkriegsdeutschland die Leviten gelesen, war aber an notorischem Geldmangel und ästhetischer Kompromisslosigkeit schon früh gescheitert.
Heinz Ludwig Arnold und seine frühen Mitstreiter Gerd Hemmerich, Lothar Baier und Joachim Schweikart hatten mit Text + Kritik mehr Glück. Das Konzept, sich in kritischen Aufsätzen immer nur einem wichtigen Gegenwartautor zu widmen, schien zunächst nur auf ein germanistisches Fachpublikum zu zielen. Nachdem er aber auf listige Weise beim Chefmanager von HAPAG-Lloyd eine Spende von 1000 DM rekrutiert hatte, begann Arnold mit seinem neuen Literaturblatt von Göttingen aus die literarische Welt zu erobern. Das Debütheft über Günter Grass, ein 32 Seiten-Heftchen, ist noch heute, in stark erweiterter und aktualisierter Fassung, zu haben. Für den Eröffnungsbeitrag, eine „Verteidigung der Blechtrommel“, hatte Arnold den Brüsseler Germanisten Henri Plard gewinnen können, den er während seiner literarischen Lehrjahre als Sekretär Ernst Jüngers kennen gelernt hatte. Auf sein literarisches Adjutantentum bei Ernst Jünger, das von 1961 bis 1963 währte, blickte Arnold später mit einigem Ingrimm zurück, zuletzt in seinem Text + Kritik-Heft zu Jünger, das die schärfste Kritik am Anarchen aus Wilflingen enthält, die jemals aus literaturwissenschaftlicher Perspektive geübt wurde.
Die Lust an der literaturkritischen Auseinandersetzung zeichnet ja nicht nur das Jünger-Heft, sondern viele andere Projekte der edition text + kritik aus, die 1969 im juristischen Fachverlag Richard Boorberg ein festes verlegerisches Fundament gefunden hatte und dort ab 1975 als selbständiger Verlag agieren konnte. Text + Kritik war nie ein Forum für urteilsschwache Germanisten, die jede interpretative Wendung mit einem Überangebot an Fußnoten absichern, sondern ist bis heute die bevorzugte Schaubühne für philologische Feuerköpfe, die cum ira et studio für oder gegen einen Autor und sein Werk eintreten. So muss jeder Autor, dem die Ehre zukommt, in einem Text + Kritik-Heft analysiert und seziert zu werden, mit kritischen Dekonstruktionen des eigenen Werks rechnen.
Mittlerweile hat die öffentliche Aufmerksamkeit nachgelassen, aber die angriffslustige Essayistik ist auch nach insgesamt 157 Heften das Markenzeichen von Text + Kritik geblieben. In Neuauflagen und Aktualisierungen wurden veraltete Urteile revidiert, beim Wechsel der Denkschulen und Interpretationsmethoden aber auch so mancher Purzelbaum geschlagen. In der 5. Auflage des Ingeborg Bachmann-Heft exponierte sich z.B. eine schrille feministische Literaturwissenschaft, der Sonderband Nr. 100 über „Literaturkritik“ publizierte massive Attacken auf Marcel Reich-Ranicki. Einem euphorischen Sonderheft über „die andere Sprache“ der „Prenzlauer-Berg-Connection“ folgte mit der Nummer 120 alsbald die Selbstkorrektur im desillusionierten Blick auf den Zusammenhang von „Literatur und Staatssicherheitsdienst“. Die subtilsten, stilistisch funkelndsten Schriftsteller-Entzauberungen haben in den letzten Jahren Hermann Korte und Hugo Dittberner verfasst. Über Sarah Kirsch, in der Nummer 101, findet man z.B. die wunderbare Sentenz, die Dichterin schreibe „Gedichte, die durch forcierte intellektuelle Unterbeanspruchung langweilen“. Diesen Königsweg literaturkritischer Unruhestiftung will Text + Kritik nicht mehr verlassen.

Michael Braun, Saarländischer Rundfunk, April 2003

 

Fakten und Vermutungen zu TEXT+KRITIK

 

Am 20.11.2012 war in der Reihe Klassiker der Gegenwartslyrik eine Legende der Avantgarde zu Gast in der Literaturwerkstatt Berlin: Franz Mon. Mit Michael Lentz sprach er über sein Werk.

 

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Karl Krolow: Orpheus ohne Leier
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.5.1986

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Jörg Drews: „Der Sprache schlaue Fallen stellen“
Stuttgarter Zeitung, 6.5.1996

Harald Hartung: Staunen über die vielen Wörter
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.5.1996

Karl Riha: MON ist sein NOM
Frankfurter Rundschau, 6.5.1996

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Sandra Kegel: Der Entfesselungskünstler
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.5.2016

Michael Lentz: Im Käfig der Freiheit
Süddeutsche Zeitung, 5.5.2016

JF: Wort-Feinkost zum 90. von Franz Mon
Buchmarkt, 25.5.2016

Zum 95. Geburtstag des Autors:

Claus-Jürgen Göpfert: Das Haus aus Sprache, an dem er lange baut
Frankfurter Rundschau, 3.5.2021

Christoph Schütte: Das Gras wies wächst
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.6.2021

Fakten und Vermutungen zum Autor + Archiv + Kalliope + KLG
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Franz Mon beim Festival PROPOSTA 2004 in Barcelona.

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