TEXT+KRITIK: Bertolt Brecht II

Mashup von Juliane Duda zum Buch TEXT+KRITIK: Bertolt Brecht II

Text+Kritik-Bertolt Brecht II

GLÜCK UND GESCHICHTE

– Anmerkungen zur Lyrik Bertolt Brechts. –

1
„Das Leben ist am größten: / Es steht nicht mehr bereit“ heißt es im Schlußkapitel der Hauspostille, und im gleichen Gedicht: „Das Leben wenig ist“ – beides, Glanz und Kümmerlichkeit des Lebens, gilt gleich. Anzuraten ist: 

Schlürft es in vollen Zügen!
Es wird euch nicht genügen
Wenn ihr es lassen müßt!

(Hauspostille, „Gedichte“ S. 168–263)

Die Botschaft des ewigen Lebens wird gerade in der Form verneint, in der sie üblicherweise vorgetragen wird: als Erbauungslied für die Gemeinde. Die Verheißung ist pervertiert:

Ihr sterbt mit allen Tieren
Und es kommt nichts nachher.

Arm ist der Mensch dran unter entgöttertem Himmel mit wenigem Leben, vergänglich: Erdbeben werden kommen und Katastrophen, B. B. weiß es. Es lohnt keine großen Worte. Mit sarkastisch-melancholischem Understatement, in distanziert-selbstironischem Ton der arme B. B. genannt, stellt er sich dar: 

In den Asphaltstädten bin ich daheim. Von allem Anfang
Versehen mit jedem Sterbsakrament:
Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein.

Daheim: das ist nicht die schützende Idylle im Winkel, sondern der Ort, der selbst vom Beginn im Untergangswind steht:

Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind!

Auch um sie lohnt es nicht, wenn nur die Virginia nicht ausgeht:

Fröhlich machet das Haus den Esser: er leert es.

Baal, Zentralfigur des ersten Stückes von Brecht und Lyriker wie dieser selbst, ist prototypisch für das brecht’sche Weltgefühl der Jugendjahre. Überall in der Hauspostille regiert seine destruktive Lebenslust. Er leert das Haus, ein Sichausleber und Andereausleber,1 a-moralisch, unbekümmert um den betrogenen Freund, das Schicksal der verflossenen Geliebten, asozial, nur um die eigenen Ekstasen besorgt. Er will „mit den Pflanzen schlafen“, genießt den Wind, das Wasser, die Bäume, sterbend noch kostet er das Rauschen des Regens aus. Baal ist das absolut gesetzte Glücksverlangen des Individuums, rücksichtslos in einem wörtlichen Sinne. Gesellschaft ist für ihn nur ein Reservoir von Befriedigungsmöglichkeiten; Baal ist absolut, Baal steht dem Kosmos gegenüber. Im Juli, heißt es in der Hauspostille, „habe ich ein Verhältnis mit dem Himmel, ich nenne ihn Azurl, herrlich, violett, er liebt mich. Es ist Männerliebe.“ Es ist der gleiche Himmel, der im „Großen Dankchoral“ gepriesen wird:

Aber auch lobet den Himmel
Lobet von Herzen das schlechte Gedächtnis des Himmels!
Und daß er nicht
Weiß euren Nam’ noch Gesicht
Niemand weiß, daß ihr noch da seid.

Nicht allein um Polemik gegen diesseitsflüchtige Frömmigkeit geht es dem Gegenchoral als sarkastischer Travestie auf Neanders „Lobet den Herren“, nicht allein um Entlarvung althergebrachter Demut. Dem Dankenden ist es ernst:

Schauet hinan:
Es kommt nicht auf euch an
Und ihr könnt unbesorgt sterben.

Bindungslosigkeit und Vergänglichkeit werden zu einer neuen und besonderen Ekstase, einer Art negativen Religion. Der Lyriker Baal erfährt sie vor allem beim Anblick des Himmels, den er wieder und wieder beschreibt – als „groß und still und fahl, als jung, nackt, aprikosenfahl, violett, gelb, schwarz, grün und schwanger, schön, wunderbar“ oder einfach wolkenlos. Die Zahl der Beschreibungsversuche indiziert deren Scheitern. Der Himmel bleibt ungeheuer wundersam und unerklärlich. Er hat Dauer über Baals Weg vom „Mutterschoß“ zum „Erdenschoß“ hinaus. Die „phenomenal dimension of the sky does not detract from its transcendence; rather it emphasizes, in the contrast with the indestructibility and ubiquity of the sky, the vital significance of the sky’s intangibility and permanence and, in doing so, affirms how essential it is that men live with the unknown and the unknowable.“2
Auch dies – neben der panerotischen Entgrenztheit – meint das „Verhältnis mit dem Himmel“. Es ist ein Sakrileg, gerade weil diese für das Verfahren der Hauspostille typische Formulierung die zwischen Physis und Metaphysis changierende Bedeutung des Wortes Himmel nicht auf das rein Phänomenale reduziert, sondern ihn ganz in eine säkulare, sinnliche und individuelle Beziehung integriert. Häretisch erfährt Baal an der Ewigkeit des Himmels die Vergänglichkeit der eigenen Existenz: Er, dem Gott gleichgültiger ist als der tägliche Wein, hat „Religion im Leibe“.3
Und Baal selbst ist ein Stück Religion; nicht zufällig heißt er nach der estsemitischen Fruchtbarkeitsgottheit. Das Schicksal jenes lebenstollen, eß- und sauftüchtigen Dichter-Vagabunden der Szenen im Stück wird erhoben ins Mythisch-Allgemeine: „Vom großen Baal“ spricht der Einleitungschoral und zeigt seinen Weg vom „Mutterschoß“ zum „Erdenschoß“ unter überdauerndem Himmel als mythische Kreisbewegung.
Der Mann Baal ist die Inkarnation des Lyrischen der frühen Gedichte Brechts, er wird zum zeitlosen Prototyp der Villons, Rimbauds und Wedekinds, die Brecht so bewunderte, aus aller Konkretion durch Geschichte gelöst, zur gestalthaften Artikulation der Einsicht, daß es unmöglich sei, „das Glücksverlangen der Menschen ganz zu töten“.4 Mit einem Gott verglich ihn Brecht noch 1954 bei Durchsicht seiner ersten Stücke, einem Gott, dem er eine Oper widmen wollte, dem Gott des Glücks.
Zeitlosigkeit, Wiederholung und Stillstand, die ewig-universale Gebärde des großen Baal, bilden ein wesentliches Moment der frühen Lyrik Brechts. Für die Abenteurer und Seeräuber seiner Balladen gibt es keine Zukunft, keine verändernde Entwicklung. Die „Erdbeben, die kommen werden“, interessieren nicht, wohl aber das „Klettern in Bäumen“: Himmel, Wind, Wasser und Pflanzen sind das Inventar dieser Gedichte. Unmittelbarkeit sinnlicher Erfahrung wird erstrebt als panerotische Naturvereinigung, spontaner Akt. Unwillkürlich ist der Vorgang des Dichtens selbst:

Und eines Tages hatte ich richtig
ein Drama geschrieben.
Ich hatte kaum etwas gemerkt, es ist mir
einfach abgegangen
5

Das ist Attacke gegen traditionelle Bilder vom lyrischen Dichter, ebenso wie deren Bestätigung. Die Vorstellung von der Eingebung, des bewußtlosen Sich-Überlassens als „Ineinsfließen von Welt und Ich, Zeit und Raum zu wechselseitiger Durchdringung“6 wird gleichsam nur ins Aggressive gewendet. Unmittelbarkeit der Stimmung, Sinnlichkeit und Naturvereinigung sind nicht länger daseinsfromm, Verlangen nach individuellem Glück wird böse, asozial. Provokativ ist das ursprüngliche Motto zum Baal-Stück:

Cacatum est. Punkt. Non pictum.

Ein-Gebung von oben ist derb säkularisiert zum Ab-Gang auf dem Abort. Aber das Moment unwillkürlichen Produzierens bleibt. Der Lyriker Baal befreit sich eruptiv von seinem Gedicht. „Ekart! Ekart! Ich hab’s, Wach auf!“ ruft Baal wie ein Schlafwandler, als er mit dem „Lied vom ertrunkenen Mädchen“ gleichsam niedergekommen ist. Nicht um Selbstvergessenheit geht es im Gedicht, um den Verzicht auf Identität, sondern um die Formulierung von Individualität. Entworfen wird die poetische Existenz eines auf seiner Einzigkeit bestehenden Individuums. Was bin ich? fragt Baal in der ersten Fassung des Stückes, und Ekart antwortet treffend:

Ein maitoller Bursche mit unsterblichen Gedärmen. Ein Kloß, der einst am Himmel Fettflecken hinterläßt.7

Lyrik aber, in der die poetische Existenz zur Sprache kommen soll, ist nur ein Teil. „Bist du in Schnaps ersoffen oder in der Lyrik?“ fragt Ekart, denn beides liegt auf einer Ebene. Das Lyrische aber umfaßt mehr, es ist die poetische Existenz selbst8. „Sein Denken und sein Sein schien identisch“ schrieb Brecht Ende der Zwanziger Jahre über Baal,9 und das Gleiche gilt auch für das Handeln und Dichten des Baal-Dichters.
Dies wird deutlich schon in der ersten Szene des Stückes, in der das Angebot auf eine Unterstützung durch den Mäzen Mech und einer Reise zu den abessinischen Gebirgen wenig Anziehung auf Baal ausüben. Er will nicht hochdotierter Schreiber sein, sondern seine Gedichte auch vorlesen – den Fuhrleuten. Erst beides zusammen bringt seine Dichtung zur Performanz. Zurückgezogen in die Dachkammer nur dichtend, erleidet er vier Tage lang „Niederlagen“, bis er geht, sich von der Straße die nächstbeste Frau zu holen. Die Koinzidenz von Dichten und Handeln Brecht an Wedekind beeindruckte. Ihn rühmte er 1918 in den Augsburger Neuesten Nachrichten mit dem Satz:

Sein größtes Werk war seine Persönlichkeit.

Ähnliches könnte auch von Baal gesagt sein. In ihm kommt ein chaotisches, anarchisches Verlangen nach Glück zum Ausdruck, das sich gegen die bürgerliche Gesellschaft wendet, sobald sie seinen Genuß oder seine persönliche Befriedigung verhindert oder einschränkt. Wenn er, so muß Mjurk, der Besitzer des Nachtcafés Zur Wolke in der Nacht erfahren, Durst hat und keinen Schnaps bekommt, bricht Baal Kontrakte. Zwar steht der junge Brecht „in Opposition zur bürgerlichen Gesellschaft“, aber eher in einem vital-anarchistischen als sozial-revolutionären Sinne, „als Einzelgänger noch ohne bestimmtes Programm“.10 Ihm geht es nicht um die Veränderung der Gesellschaft, sondern den Genuß von Leib und Natur, um sinnliches Glück.
Gegen Zwänge und Konventionen der Gesellschaft setzt Baal provokativ als einzig Wichtiges seine individuellen panerotischen Ekstasen, das „Einswerdenwollen“ mit der Natur.11 

Jedoch setzt ein solches Wollen Bewußtsein voraus und damit Distanz ihr gegenüber, zu der doch gerade Distanz aufgehoben sein soll. Baal, der mit den „Pflanzen schlafen will“, weiß doch auch, daß dies unmöglich bleibt, solange sein Bewußtsein notwendig der Natur gegenübersteht. Zur „Ekstase“ tritt die „Szenerie“, die sie ermöglichen soll, etwa wenn Baal um des „starken Anblicks“ willen Stiere aus sieben Dörfern zusammentreiben läßt. Wird aber Natur wie hier zum Material bewußter Arrangements und Veranstaltung, so ist sie verfügbares Objekt, das zwar Ekstase geben kann, aber nicht Verschmelzung. Die fünfte Strophe des Chorals spricht dies aus:

Und das große Weib Welt, das sich lachend gibt
Dem, der sich zermalmen läßt von ihren Knien
Gab ihm einige Ekstase, die er liebt
Aber Baal starb nicht: er sah nur hin.

Baal, der Bindungslose, bleibt letztlich im distanzierten Verhältnis des Beobachters zur Welt. Dem entspricht ein „objektivistisch-beschreibender“ sachlicher Ton der Lyrik. Die Brechtschen Gedichte zerfließen nicht konturlos in Stimmung und Bildlichkeit, in ihnen bleibt ein Szeneriebewußtsein wach, „das samt einer ihm immanenten Distanz“ in einen uneinlösbaren Widerspruch tritt zur „Ekstase als Einswerdenwollen mit der Natur. Erst mit dem Erlöschen des Szeneriebewußtseins“, das Baal bildhaft vorwegnimmt in den Gedichten vom ertrunkenen Mädchen und Tod im Walde, „,als Aas in Flüsse mit vielem Aas‘ oder als begraben ,in des Baumes untersten Geäste‘ ist das Einswerden mit der Natur vollzogen. Daß der Vitalist im Tod und in Toten sein Ziel verwirklicht sieht, ist paradox. Solange er lebt, reproduziert Baal die Szenerie, indem er sie überwinden will. Sein Bewußtsein, das das Einswerden mit der Natur preist, verhindert dieses zugleich. Das Einswerden ist darum eine Utopie, und da die Absicht zugleich auch die Verhinderung bedeutet, ist es eine relativierte Utopie.“12
Das Motiv der relativierten Utopie ist nach Friedrich Gaede eine Konstante im Werk Bertolt Brechts. Wie bei Baal, der vergeblich die totale Naturvereinigung erstrebt, findet es sich etwa auch im Schicksal der Evelyn Roe, deren Ballade Brecht zunächst in den Baal aufgenommen hatte, und ist bündig auf den Begriff gebracht in den Versen:

Wollt ihr Sterne langen
Müßt ihr rennen sehr.
Denn ihr tragt an Stangen
Schnell sie vor euch her.
13

Damit ist zur Aufgabe gemahnt ebensowenig wie Baals Unbefriedigtbleiben Versagen und Scheitern darstellt. Zwar kann die Aufforderung „Müßt ihr rennen sehr“ den circulus vitiosus nicht sprengen, aber sie will die Annäherung ans Unmögliche.
Genau dies will auch Baal, wenn er fragt:

Warum kann man nicht mit den Pflanzen schlafen?

Die ständige Suche nach panerotischer Vereinigung, die vergeblich bleibt, macht seine poetische Existenz aus. Diese bleibt unberührt von Gesellschaft und Geschichte, identifiziert sich im Lyrischen mit der aufgehobenen Zeit, ihrem Stillstand für den Erlebenden.
Den Wandlungen dieses Begriffs vom Lyrischen, der Spannung zu Geschichte und Wandel, in die er in den späteren Gedichten Brechts tritt, soll im 2. Abschnitt nachgegangen werden. Die frühen Gedichte halten soziale Irritation vom Autismus des Glücksverlangens fern, zumal jenes, das den großen Baal preist. Aber im Stück Baal deutet sich an, was in den späteren Gedichten sich unabweislich Formulierung verschafft: daß narzißtisches Glück unter der Bedingung von Gesellschaft dauerhaft nicht bestehen kann. Darum greift Ernst Schumacher zu kurz, der seine Kritik am Ungesellschaftlichen der Baal-Konzeption festmacht. Er versucht, das Stück ideologiekritisch an seinem antiexpressionistischen Anspruch zu messen, den es ursprünglich als Gegen-Stück zu Banns Johsts Der Einsame – ein Menschenuntergang14 in hohem Maße trug. Gegen Johsts Helden (Christian Dietrich Grabbe), der in pathetischen Sätzen und begleitet von markigen Akkorden beethovenscher Musik sein „poetisches Gottvatergefühl“ beschwört, setzt Brecht das Bild des Menschen als „Bursche, der auf dem Aborte – frißt!“15 Aber, so lautet Schumachers Kritik, statt dialektisch-materialistisch nach den gesellschaftlichen Bedingungen menschlicher Existenz zu fragen, attackiere Brecht den expressionistischen Idealismus mit einem kleinbürgerlichen Vulgärmaterialismus, der im Menschen die Summe seiner Triebe sehe. Nicht zufällig stellen sich bei Beschreibungen Baals in der Tat Vergleiche mit Tieren ein. „Elephant“ nennen ihn zuweilen Ekart und die Holzfäller; für die überfallene Sophie ist er ein „Orang-Utan“. Aber solcherlei „mechanisch-materialistische“ Verabsolutierung des Individuums und seiner tierhaften Triebe schlage, so Schumacher, nur allzu leicht um gerade in den angegriffenen Idealismus, wie etwa die metaphysischen Naturvereinigungswünsche zeigen:

Der mechanische Materialismus weist in der Praxis viele Gemeinsamkeiten mit dem subjektiven Idealismus auf.16

Wirklich scheint Brechts Konzeption gar nicht so weit vom Expressionismus entfernt wie er selbst meinte. Da das soziale Movens dramatischer Auseinandersetzung fehle, so wendet Schumacher ein, verliere das Stück eine „innere Notwendigkeit“. Es fehle ihm – und hier zeigt sich ein normativer Aspekt seiner Argumentation – „die Hauptvoraussetzung des Realismus, Ausdruck einer dialektisch verbundenen Totalität des Handelns wirklicher Menschen zu sein.“
Bluma Goldstein hingegen hat darauf hingewiesen, daß zwischen dem Bild, das der Choral typisierend von der poetischen Existenz Baals entwirft, und dem stationenhaft in den Szenen vorgeführten Lebenslauf eine gewisse Diskrepanz besteht. Im Choral, dem „lyrical statement of the lyrickk state“, wird der Tod als Ende eines Lebens voll Genuß und im Bewußtsein der Bindungslosigkeit und Vergänglichkeit als ersehnte Verschmelzung mit der Natur bejaht:

Und wenn Baal der dunkle Schoß hinunterzieht:
Was ist Welt für Baal noch? Baal ist satt.
Soviel Himmel hat Baal unterm Lid
Daß er tot noch grad gnug Himmel hat.

So sagt Baal noch in der letzten Szene kurz vor seinem Ende: „Es war sehr schön…“ und antwortet dem nachfragenden Holzfäller: „Alles“.
Aber dieses „Alles“ bleibt nicht sein letztes Wort. Er kann nicht ruhig und „satt“ sterben. Baal versucht, die fortgehenden Holzfäller aufzuhalten, weil er sich vor der Einsamkeit der letzten Stunde ängstigt. Er fängt an zu zählen, aber „das hilft nichts“. Als ihn der „Erdenschoß hinunterzieht“, legt sich der autonome Baal nicht zufrieden nieder, sondern ruft wie ein ängstliches Kind nach der Mutter:

Mama! Ekart soll weggehen, der Himmel ist auch so verflucht nah da, zum Greifen, es ist alles wieder tropfnaß. Schlafen. Eins. Zwei. Drei. Vier. Man erstickt hier ja.

Das Bild des Freundes, den er aus Eifersucht tötete, ist da und verfolgt ihn. Der narzißtische Autismus des großen Baal, den der Choral preist, ist im Schicksal des kleinen, das das Stück schildert, der sozialen Irritation ausgesetzt, die die Liebe zu Ekart darstellt. Freilich bricht damit nicht das Soziale im Sinne jener „dialektisch verbundenen Totalität“ in das auf Baal konzentrisch organisierte Stück ein, aber „when he falls in love with Ekart, Baal parts forever with the isolation and comfort of the lyrickk state. Had he remained within that state, as he does in the legend of the ,Choral‘, his death in the play might have been as peaceful as in that Ballad. Whether he could have avoided a relationship with another person or remained outside of society is questionable, but the point is that he did neither and precisely because he did not, he cannot die alone and satisfied.17
Der schon im Stück vom Baal als sozial irritierter Autismus angelegte Konflikt zwischen „the lyric state“ des Menschen und der sozialen Dimension seines Lebens, die ihm Geschichte gibt, formuliert das Gedicht „Schlechte Zeit für Lyrik“ eindringlich:

In mir streiten sich
Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum
Und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers.
Aber nur das zweite
Drängt mich zum Schreibtisch
.18

Im Angesicht „finsterer Zeiten“ scheint die Wahl eindeutig zu sein und damit die Entscheidung; in Wahrheit aber wurde der Streit auch an Brechts Schreibtisch ausgetragen, nicht zuletzt in seinen Gedichten: das einmal so ,definierte‘ Lyrische und der Glücksanspruch des Menschen werden letztlich, gegen alles Programm oder besser: als sein verborgenes Grundmotto, bis zum Ende festgehalten.

2
Brechts Bewußtsein vom Lyrischen während der Augsburger Jahre, hier dargestellt am lyrischen Bewußtsein Baal, negiert die Zeit. Diese steht still im Augenblick der Ekstase, verblaßt als Kategorie in der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Brecht bleibt fasziniert von solcherlei Aufhebung der Zeit noch, als er alles auf den Fortgang, die dialektische Bewegung der Geschichte gesetzt hatte. Zu Beginn und am Ende etwa der Mutter Courage erklingt der gleiche Refrain, der zeigt, daß sich nichts verwandelt hat:

Das Frühjahr kommt. Wach auf, du Christ!
Der Schnee schmilzt weg. Die Toten ruhn.
Und was noch nicht gestorben ist,
Das macht sich auf die Socken nun.
19

Der Christ wirft den Winterpelz der behausten Seele von den Schultern – „Du hast genug geschlafen.“ Das Starre bewegt sich: Schnee schmilzt. Ungerührt bleiben die Toten – an die auch der panerotisch infizierte Vitalismus des jungen Brecht heranglitt. Ihre Gräber liegen jetzt wieder bloß und sichtbar da; unverändert gilt:

Die Toten ruhn.

Nicht so sehr dem Jüngsten Gericht entgegen; ihr „Ruhen“ ist vielmehr Kontrapunkt zum schmelzenden Schnee – sie machen nicht mehr mit im Kreislauf des Jahres. Aber es regt sich „was noch nicht gestorben ist“: Kroppzeug des Lebens, das sich töricht und vital-naiv nun auf die Socken macht. Es tanzt einen brutalen Totentanz, der bei der Geburt beginnt und über den Tod des einzelnen anhält. „Noch“ sind da die Ungestorbenen, Vorhalt des Lebens wie in dem Lied von den „Zehn kleinen Negerlein“, die zwar immer weniger werden, aber: solang eins da ist, regt sich’s. Am Ende dieses Jahres, das der Trommelschlag des Frühjahrs weckt, werden wieder einige fehlen, aber was machts: Die Spieluhr wird sich weiter drehen, die Menschen lernen nichts, weil sie nichts lernen wollen. Mutter Courage ist das monströse Exemplum dafür. Der Krieg hat ihr alle Kinder genommen, und doch glaubt sie weiter an ihn.
Aber wie Mutter Courage als Stück von Baal getrennt ist durch Erfahrungen des Autors und die sie verarbeitende Konzeption des epischen Theaters, unterscheiden sich Kreislauf dort und hier. Es geht nicht um den diesseits- und augenblicksversessenen Trotz fröhlicher Esser – der Männer etwa von Mahagonny, denen alles gleich ist, weih alles auf ewig gleich bleibt, und die Gott entgegenhalten:

An den Haaren
Kannst du uns nicht in die Hölle ziehen:
Weil wir immer in der Hölle waren.
20

Die Kreisbewegung, antireligiös-religiöse Diesseitsfeier für Baal, gerät der Courage zur Verstrickung in undurchschaubare Gesetze, die das Diesseits erst zur Hölle machen. Die Zentralfigur des Stückes ist nicht mehr Gegenstand der „Identifikation“, sie soll vielmehr „analysiert“ werden.
„Die Wahrheit ist konkret“, stand im Svendborger Exilheim Brechts. Sie ist kein metaphysisches Unikum, nichts, an das man einfach glauben muß, sondern sie ist beschreibbar; nachprüfbar, sagbar, denn sie ist irdisch, dort, wo die Geknechteten, Erniedrigten „daheim“ sind.
Der Satz weist den Ausweg, die Mentalität der Courage, die die Dinge schließlich so nimmt, wie sie kommen, zu überwinden. Den Verhältnissen ist beizukommen: durch kritische Analyse des Konkreten, Zutageliegenden. Der säkularisierten Kontroverstheologie der travestierenden Choräle, die sich gegen das Dogma vom ewigen Leben wandten im Namen des gegenwärtigen, das „wenig“ und „am größten“ ist, stellt sich die „konkrete Wahrheit: Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!“ Analyse aber vergällt den Appetit fröhlicher Esser:

Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
Ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?
Und doch esse und trinke ich
.21

Die kommenden Katastrophen, gesetzt gegen falsche Versprechungen, evozieren ein Zeitbewußtsein, das sich nicht durch den Augenblick wegwischen läßt:

Der Anstreicher spricht von kommenden großen Zeiten.
Die Wälder wachsen noch.
Die Äcker tragen noch.
Die Städte stehen noch.
Die Menschen atmen noch
.22

Der falschen Verheißung werden parallel gebaute Sätze angereiht, die jeweils mit einem betonten „noch“ enden und damit die versprochenen „großen Zeiten“ als drohenden Untergang der Welt erkennen lassen: In ihnen werden die Äcker nicht mehr tragen, die Wälder nicht mehr wachsen. „Noch“, eine von Brecht häufig gebrauchte Zeitpartikel, signalisiert zunächst eine Bedrohung. Dem „noch“ korrespondiert ein unausgesprochenes „bald nicht mehr“ – falls nämlich die „großen Zeiten“ des Anstreichers (Hitlers) wirklich kommen sollten. Gleichzeitig evoziert noch die Möglichkeit eines Widerstandes in der Spanne Zeit, die der Einsicht bleibt: „solange“ Städte stehen und Menschen atmen, könnte man den kommenden Zeiten entgegnen: das Natürliche widerstände dem Unnatürlichen. Grundsätzlich zeigt „noch“ an, daß nichts festgelegt sei, daß den etablierten oder drohenden Zuständen „finsterer Zeiten“ abzuhelfen sei durch Wachsamkeit: noch ist offen auf die Zukunft hin und weist auf die Veränderbarkeit der Welt.
Analyse also bedarf der Kategorie Zeit, will sie die Zustände nicht festschreiben. Die Lehre vom ewigen Kreislauf der Dinge, umgesetzt in vitales Erleben, gilt nun als falsch. Hingegen ist Zweifel angebracht, der die Fakten der Vergangenheit neu interpretiert:

Lest die Geschichte und seht
In wilder Flucht die unbesieglichen Heere.
Allenthalben
Stürzen unzerstörbare Festungen ein und
Wenn die auslaufende Armada unzählbar war
Die zurückkehrenden Schiffe
Waren zählbar.

(Aus „Lob des Zweifels“)23

Aus Behauptungen wird ihr Gegenteil gewonnen. Der Heldengeschichtsschreibung, die nur die Höhepunkte reiht, werden die Niederlagen hinzugezählt. Es gibt kein monumentum aere perennius. Damit ist der Weg frei für die Einsicht: daß man sich durch keine großen Gesten düpieren lassen sollte. Jedes Faktum ist möglicherweise eine falsche Interpretation der Herrschenden – Fatalismus ist gegenüber der Geschichte nicht statthaft, soll sie in Hinblick auf die humane Zukunft der Menschheit vorangetrieben werden. Nichts Vorhandenes ist als gottgewollt hinzunehmen, gerade das lange Gültige sollte mit Mißtrauen betrachtet werden:

Was nicht fremd ist, findet befremdlich!
Was gewöhnlich ist, findet unerklärlich!
Was da üblich ist, das soll euch erstaunen.
Was die Regel ist, das erkennt als Mißbrauch.
Und wo ihr den Mißbrauch erkannt habt
Da schafft Abhilfe!

(Epilog zu „Die Ausnahme und die Regel“)24

Die letzte Zeile führt einen Schritt weiter, in die Anweisung zu veränderndem, revolutionärem Handeln: der Analyse sollte die Therapie durch die Tat folgen. Auch im „Lob des Zweifels“ wurde rein intellektualistischer Kritizismus verurteilt:

Was hilft Zweifeln können dem
Der sich nicht entschließen kann!
Falsch mag handeln
Der sich mit zu wenigen Gründen begnügt
Aber untätig bleibt in der Gefahr
Der zu viele braucht.

Formal erscheint das „Lied vom Wasserrad“ als genaues Abbild jenes Einbruches von zukunftsorientierter Veränderung in den Kreislauf des Immergleichen, der Brechts frühe Gedichte dominiert und in Baal seine poetisch-mythische Inkarnation fand:

Von den Großen dieser Erde
Melden uns die Heldenlieder:
Steigend auf so wie Gestirne
Gehn sie wie Gestirne nieder.
Das klingt tröstlich, und man muß es wissen.
Nur: für uns, die wir sie nähren müssen
Ist das leider immer ziemlich gleich gewesen.
Aufstieg oder Fall: wer trägt die Spesen?

aaaFreilich dreht das Rad sich immer weiter
aaaDaß, was oben ist, nicht oben bleibt.
aaaAber für das Wasser unten heißt das leider
aaaNur: daß es das Rad halt ewig treibt
.25

Der Refrain antwortet auf die Frage der Strophe. Das Rad ist vergleichbar dem barocken Rad der Fortuna: wie es sich dreht, so steigen die Helden und Könige an der einen Seite auf, halten sich einen Augenblick oben in der Balance der höchsten Macht, gleiten dann im Schwung des Rades herab und liegen schließlich unter ihm, entthront und im Staube, während das gleiche Schicksal den Herren oben bevorsteht. Brecht transponiert das alte Bild des Glücksrades in das neue vom Wasserrad. Das alte entsprang barockem Geschichtsfatalismus. Brecht aber will zeigen, daß die Optik der Heldengeschichtsschreibung verkürzt und einseitig ist, die auch für die Unterdrückten den Trost hat, daß ein Tyrann nicht ewig herrscht. Aber was hilft das ihnen? Sie bleiben „das Wasser unten“ auch für die neuen Machthaber, dazu dienend, das Rad ewig zu treiben. Das vertraute Bild von Aufstieg und Fall wird verfremdet, indem der Blick auf die Begleitumstände gelenkt wird, die Perspektive der Geschichtsbetrachtung verändert, wo es um die geht, die die Spesen tragen (dies leistet das Bild vom „Wasser“-Rad). Das Gewohnte wird ungewöhnlich – „was die Regel ist“, das erkennt als Mißbrauch. Die Konsequenz, solche Erkenntnis fruchtbar zu machen, richtet sich darauf, den sich unwandelbar drehenden Kreislauf des Unveränderten zu sprengen, und tritt damit zur kreisenden Struktur, des wiederkehrenden Refrains selbst in Spannung. Brecht änderte den ursprünglich nur wiederholten Refrain der letzten Strophe und macht damit durch Durchbrechung der semantisch identischen Wiederholung die Möglichkeit der Veränderung explizit: 

Und sie schlagen sich die Köpfe
Blutig, raufend um die Beute.
Nennen andre gierige Tröpfe
Und sich selber gute Leute.
Unaufhörlich sehn wir sie einander grollen
Und bekämpfen. Einzig und alleinig
Wenn wir sie nicht mehr ernähren wollen
Sind sie sich auf einmal völlig einig.

aaaDenn dann dreht das Rad sich nicht mehr weiter
aaaUnd das heitre Spiel, es unterbleibt
aaaWenn das Wasser endlich mit befreiter
aaaStärke seine eigne Sach’ betreibt.

Das wäre die Revolution, der Augenblick, daß Brechts Rat praktiziert wird:

Ihr versteht, ich meine
Daß wir keine andern Herren
Brauchen, sondern keine!

Aber jenes Motiv der ewigen Kreisbahn, Baals Zeitsinn, bleibt tragend, noch wo ihr Zerbrechen selbst zum Thema wird. Revolution ist Einbruch in die Kreisbewegung, der Griff in die Speichen, der das Rad zum Stehen bringt, eine Sache aufgeklärten ,Wollens‘: kein notwendiger Umschlag der geschichtlichen Entwicklung als Produkt einer dialektischen Bewegung.
Brechts Wendung zur Geschichte, zur gesellschaftlichen Veränderung, sein poetisch-politisches Engagement für die Revolution vermögen die lyrisch-allgemeinen Bilder der Zeitlosigkeit nicht zu löschen. Ist die Möglichkeit der Revolution im „Lied vom Wasserrad“ gebunden an das allgemeine Bild des zeitlos kreisenden Rades, so sind ähnlich die ewig rollenden Steine am „Grunde der Moldau“ gerade in ihrer Beständigkeit kreisende Unterlage des Wandels, unter allem geschichtlichen Wandel die gleichen: Das Runde ihres Rollens entspricht der Rundung des Rades, beides steht gleichsam für eine in sich zum Kreis gebogene Zeit: ewige Wiederkehr des Gleichen.
Freilich: während der junge Brecht den Augenblick genoß, weil er Ekstase ermöglichte als „lyric state“, Heraustreten aus dem geschichtlichen Verfall in den biologisch-vitalen, das Nunc stans der Zeit ihm seine Sinnenmächtigkeit offenbarte, verhält sich der analytische Brecht der mittleren Jahre reserviert gegenüber der Immerwiederkehr, denn in ihr wiederholen sich Unrecht und angemaßte Herrschaft weniger über viele. Das Lob des Augenblicks weicht einer fatalistischen Ausdeutung ewigen Dauerns, gegen das allenfalls die Tat der Revolution gilt.
Die Änderung von Brechts Haltung zeigt auch die verschiedene Gestaltung der kreisenden Zeit. Der junge Brecht entfaltete die Punktualität des Augenblicks in der sprachlichen Evokation sinnlich erfahrbarer Einzelmomente (etwa: Seen, Bäume, Wasser, Himmel). Der mittlere Brecht dagegen faßt die Punktualität allen Zeitverlaufs, der viele Augenblicke enthalten mag, in Wendungen symbolhaften Charakters, die das Einzelne durch ein Bild mit Bedeutung ersetzen: Die unüberholbare Zeit erscheint als Rad, als rollender Stein, also zusammengefaßt, nicht versinnlicht, sondern versinnbildlicht.
Das alles zeigt eine ,Entwicklung‘ des Lyrikers Brecht an: im Thema, im Motiv, in der sprachlichen Gestaltung und den in ihr enthaltenen Bedeutungen. Und doch: Sieht man auf die Struktur, das Formpattern des Lyrischen, so ist auffällig, wie dieses seine Identität im thematischen Wandel und unter gewandelter Weltauffassung bewahrt – dadurch, daß es eben die Zeit nicht als Pfeil; sondern als geschlossene Kurve in Erscheinung treten läßt. Erst der schließlich geänderte Refrain der letzten Strophe des Wasserrad-Liedes fügt dann der lyrischen Substanz das Substrat des Appells hinzu.
Man kann es auch anders sagen: Das Wasserrad dreht sich, ohne daß ein bestimmter, zeitlich lokalisierter oder eindeutig lokalisierbarer Beschauer (sc. Hörer oder Leser des Gedichts) zu denken ist. Der veränderte Refrain aber bezieht sich auf zwar ebenfalls häufig wiederkehrende historische Situationen, zu denen aber die zeitgeschichtliche tritt: eben in jener kritisch vom Dichter Brecht analysierten Zeiterfahrung. Zukunft kann immer nur die Gegenwart haben.
Bewahrt sich also strukturell das lyrische Verhältnis zur Zeit – Strukturen sind zeitlos, grundständige Erfahrungsmuster –, wie es so großartig im Baal exponiert war, so ist damit auch etwas von dem in dieser Struktur einkristalliert, das Glücksverlangen genannt wurde. Erschien es beim jungen Brecht als Erfüllung im vitalen Überschwang und Selbstgenuß, so jetzt in der anschauenden Betrachtung der Zeitläufte und im Finden gelungener Bilder: aus Distanz. Aber diese Distanz ist ambivalent, weil nach zwei Seiten hin orientiert: sie wird nicht nur eingehalten gegenüber der wiederkehrenden Zeit, sondern ebenso gegenüber der durch Gegenwart in die Zukunft vorangetriebenen, der Zeit als Pfeil, mag sie Nötigung der Geschichte sein oder, was der mittlere Brecht zu bevorzugen schien, verändert durch eingreifendes Wollen des Menschen. ,Glückserfüllung‘ durch Geschichte und ,Glückserfüllung‘ durch teilnehmendes oder betrachtendes Genießen menschlicher Vergänglichkeit und ihrer Formulierung, eingelagert auch in den nie versiegenden Strom bildlicher und sprachlicher Wendungen, halten sich die Waage, stehen in Spannung zueinander. Der späte Brecht zeigt – wiederum als Lyriker – deutlich, wie unaufgebbar ihm der Anspruch war, den Augenblick des Glücks zu beschreiben und damit für ihn einzutreten, jenen Augenblick, der sich um Zukunft und Vergangenheit nicht schert. Daß es ihn nicht geben könne ohne die Revolutionierung der Gesellschaft, ohne Geschichte und Zukunft also, war Brechts Einsicht. 

3
Zeit und Zeitverlauf bleiben zweischneidig. Zukunft allein verbürgt noch nicht das größere Glück, auch sie muß durch wollendes Handeln verändert werden. Im „Lied der Starenschwärme“ berichten die Zugvögel von ihrem ununterbrochenen Flug „in südlicher Richtung“, denn im Norden, aus dem sie kommen, nimmt die Kälte zu und „dort ist Wärme“. In der letzten Strophe aber heißt es:

Wir überfliegen jetzt die Ebene
In der Provinz Hunan
Wir sehen unter uns große Netze und wissen
Wohin wir geflogen sind fünf Tage lang:

aaaDie Ebenen haben gewartet
aaaDie Wärme nimmt zu und
aaaDer Tod ist uns sicher
.26

Die scheinbare Rettung, das utopische Land des Südens, entpuppt sich als Bereich unentrinnbaren Todes. Nicht also darf man sich ohne weiteres dem „andere Land“ anvertrauen, einfach hoffend, daß es später einmal besser wird: Auf den Gang der Geschichte allein ist kein Verlaß. Wer die Zukunft von der Gegenwart aus nicht in die Hand nimmt, hat sie verloren. Zwar rechnet Brecht auf das Zukünftige, es wird Nachgeborene geben. Aber blinde Hoffnung auf Kommendes, Diesseitseskapismus hatte er schon früh attackiert.
Die von Walter Benjamin notierte Brechtsche Maxime: „Nicht an das Gute Alte anknüpfen, sondern an das schlechte Neue“ widerspricht dem gerade nicht. Die bessere Welt ist nicht verbindlich zugesagt. Darum konnte es Brecht in der DDR aushalten: nicht nur, weil die Arbeitsbedingungen im eigenen Theater am Schiffbauerdamm für ihn ideal waren, sondern weil dieser fehlerhafte Staat für ihn das schlechte Neue immerhin noch verbürgte. Von hier aus ist die Frage des viel diskutierten Gedichts aus den Buckower Elegien, „Der Radwechsel“, rhetorisch zu verstehen:

Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
mit Ungeduld?
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Sicherlich nicht, um zurückzukehren. Es gilt, weiterzufahren, solange das „schlechte Neue“ nur neu ist. Kaum ist durch solcherlei Orientierung an der Zukunft das Bewußtsein aufgehoben, in „finsteren Zeiten“ zu leben. Daß der Mensch auf fatale Weise „daheim“ sei, in Wahrheit immer im Exil, ungeborgen, bleibt ein Grundmotiv der Brechtschen Lyrik. Das tatsächliche Exil, die Flucht vor den Nazis von Zufluchtsstätte zu Zufluchtsstätte, war nicht Ursache, es kam als Erfahrung verstärkend hinzu.
Ein Exilgedicht, „Zufluchtsstätte“, formuliert die Unruhe, das Auf-Abruf-bereit-Sein:

Ein Ruder liegt auf dem Dach. Ein mittlerer Wind
Wird das Stroh nicht wegtragen.
Im Hof für die Schaukel der Kinder sind
Pfähle eingeschlagen.
Die Post kommt zweimal hin
Wo die Briefe willkommen wären.
Den Sund herunter kommen die Fähren.
Das Haus hat vier Türen, daraus zu fliehn.
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Die vier Zeilen am Anfang scheinen von Beständigem zu sprechen (ein Ruder liegt, das Stroh ist fest, Pfähle sind eingeschlagen), die folgenden vier von der jederzeit möglichen Veränderung (Post, Fähren, vier Türen „daraus zu fliehn“). Doch sind Ruhe und Bewegung, Dauer und Zeitvergehen nicht so säuberlich auseinanderzuhalten. Immerhin ist es ein Ruder, das „liegt“, ein Instrument der Bewegung; der „mittlere Wind“ könnte stärker werden, und Pfähle sind da für die „Schaukel“. Andererseits kommt die Post regelmäßig (immerhin „zweimal“, wenn auch vergeblich auf Nachricht gewartet wird), die Fähren sind ständig unterwegs, und die Türen stehen fortwährend offen für die Flucht. Nehmen wir die hier beschriebene Situation grundsätzlich, so zeigt sich „konkrete Wahrheit“. Die Resultate der Analyse erlauben nicht, Statik gegen Dynamik auszuspielen, ein verfestigtes Jetzt einem neues Mögliche einbeziehenden Später entgegenzustellen. Bedrohung und Schutz liegen ineinander. Jeder Augenblick ist veränderbar, und die Veränderung kann stetig werden. Das Kommende, sei es das schlechte Neue, hat seine Chance schon jetzt in faßbaren Details. Diesen, den schon geglückten Augenblicken, gelten viele der kontemplativen Gedichte des späten Brecht.
In den Buckower Elegien finden sich die Zeilen:

RUDERN,GESPRÄCHE

Es ist Abend. Vorbei gleiten
Zwei Faltboote, darinnen
Zwei nackte junge Männer: Nebeneinander rudernd
Sprechen sie. Sprechend
Rudern sie nebeneinander
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Das Gedicht führt eine gelungene Situation vor, als reinen Anblick aus der Distanz. Chiastisch geschlossen steht es für die Vollkommenheit eines Augenblicks, Austausch (Sprechend) und Zusammenwirken („rudern sie nebeneinander“) ergänzen sich. Die beiden Ruderer in ihren Faltbooten werden zum konkreten Bild, nackt im Abend rudernd ein Stück zeitvergessen sinnliches Glück.
Dies hatte Brecht schon in der Hauspostille gefeiert, etwa als „Schwimmen in Seen und Flüssen“: 

Am besten ist’s, man hält’s bis Abend aus.
Weil dann der bleiche Haifischhimmel kommt
Bös und gefräßig über Fluß und Sträuchern
Und alle Dinge sind, wie’s ihnen frommt.
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An die Stelle orgiastischen Involviertseins tritt jedoch in den späten Gedichten das distanzierte Anschauen, ihre Haltung ist weniger dionysisch denn apollinisch. Aber wie in einem neuen Durchgang kommt das alte Motiv wieder verwandelt zutage: Abend über dem Wasser. Die Naturvereinigungswut dessen, den die Fische durchschwimmen und der „alles, ohne Rücksicht, klatschend / In blaue Flüsse“ schmeißt, ist abgelöst von der gelassenen Ruhe gleichmäßigen Ruderns: Teilnahme durch Anschaun. Für beide Situationen aber gilt: Einverständnis, Stillstand der Zeit. Im Gedicht der Hauspostille ist dieser gewährt durch geschichtslose Dauer jedes sinnlichen Details (es spricht vom „Schwimmen“ ganz allgemein „im bleichen Sommer“). Die Buckower Elegien zeigen einen konkreten Augenblick in einer Situation, die nicht außerhalb der Geschichte liegt, in ihm aber enthalten sie einen Splitter möglichen Glücks, gegenwärtig schon eingelöste Zukunft.
Solcherlei Wandel ist nicht allein dem Altern zuzuschreiben, dem wie von allein Distanz zuwüchse gegen die vitale Teilnahme der Jugend.
Altern vermittelt sich erst in historisch vermittelter Erfahrung des Individuums. Für Brechts Gedichte bedeutet diese den Durchgang des Lyrisch-Unmittelbaren durch die Kategorie der Zeit: Ekstase, Panerotik, rauschhafter Genuß gerade der Ungeborgenheit und Verlassenheit des Menschen unter entgöttertem Himmel, das rücksichtslose individuelle Glücksverlangen konfrontieren sich der Rücksichtslosigkeit der Gesellschaft. Katastrophen können nicht mehr als grandioses und darum lässig hinzunehmendes Untergangsereignis goutiert werden, da klar geworden ist:

Die Erdbeben haben Geld in der Brusttasche.31

Soll aber das Lyrische Ausdruck unmittelbaren Glücksverlangens bleiben auch unter kritisch-analytischem Anspruch von Gedichten, die Veränderung fordern, geraten sie in den Zwiespalt, Stillstand und verändernden Wandel in eins in Erscheinung und Ausdruck setzen zu wollen. Ein solcher Zwiespalt hat in der au fond bürgerlichen Ästhetik Brechts nicht zur Sprengung des Gedichts als Form geführt. Ebensowenig konnte er eins der beiden spannungsreichen Elemente in seinen Gedichten aufgeben: weder Einsicht und Erfahrung gesellschaftlich-geschichtlicher Zusammenhänge für den Bereich der Lyrik stillegen, noch virtualisieren, wofür letztlich Veränderung ins Werk zu setzen ist: das Glück der Menschen. Ist der individuelle Glücksanspruch „unmöglich ganz zu töten“, so bleibt für den Lyriker der Anspruch unaufgebbar, ihm zur Darstellung zu verhelfen. „Es wird sich herausstellen“, schrieb Brecht, „daß wir ohne den Begriff Schönheit nicht auskommen“. In der Schönheit konkreter Situationen, die etwa die Buckower Elegien notieren, wird reflektierend-distanziertes Anschauen ein Glück gewahr, das erst historisch im Werden ist, seinen Vorschein hat aber schon im Augenblick.

Dieter Baacke, Wolfgang Heydrich

 

 

 

Inhalt

– Dieter Baacke / Wolfgang Heydrich: Glück und Geschichte. Anmerkungen zur Lyrik Bertolt Brechts 

– Regine Wagenknecht: Bertolt Brechts Hauspostille

– Karl Riha: Notizen zur „Legende vom toten Soldaten“. Ein Paradigma der frühen Lyrik Brechts

– Gerhard P. Knapp: Welt und Wirklichkeit. Zur späten Lyrik Bertolt Brechts

– Hugo Dittberner: Die Philosophie der Landschaft in Brechts „Buckower Elegien“

– Paul Kersten: Bertolt Brechts Epigramme. Anmerkungen zu einigen Kurzgedichten

– Jürgen C. Thöming: Kontextfragen und Rezeptionsbedingungen bei Brechts frühen Geschichten und Kalendergeschichten 

– Jan Knopf: Gemeine Geschichte oder der Kammerdiener als Historiograph

– Reiner Steinweg: „Das Badener Lehrstück vom Einverständnis“. Mystik, Religionsersatz oder Parodie?

– Norbert Schachtsiek-Freitag: Bertolt Brechts Radiolehrstück „Der Ozeanflug“

– Gudrun Schulz: Klassikerbearbeitungen Bertolt Brechts Aspekte zur ,revolutionären Fortführung der Tradition‘

– Fritz J. Raddatz: Ent-weiblichte Eschatologie. Bertolt Brechts revolutionärer Gegenmythos

– Oliver Boeck: Beobachtungen zum Thema „Hebel und Brecht“

– Hans-Jürgen Heinrichs: Methodendiskussion mit Brecht

– Josef Hohnhäuser: Brecht und der Kalte Krieg. Materialien zur Brecht-Rezeption in der BRD

– Bertolt Brecht: Die Teppichweber von Kujan-Bulak ehren Lenin

– Günter Kunert: Einige Überlegungen zu den „Teppichwebern“ (und dazu, wie wir Brecht zum 75. Geburtstag ehren) 

– Klaus Völker: Verzeichnis sämtlicher Stücke, Bearbeitungen und Fragmente zu Stücken von Bertolt Brecht 

– Notizen

 

Fakten und Vermutungen zu TEXT+KRITIK

 

 

Erfahrungen mit Brecht. Therese Hörnigk im Gespräch mit Friedrich Dieckmann

 

Brecht – Die Kunst zu leben. Ein Fernsehporträt von Joachim Lang aus dem Jahre 2006

 

Günter Berg / Wolfgang Jeske: Bertolt Brecht. Der Lyriker

Albrecht Fabri: Notiz über Bertolt Brecht, Merkur, Heft 33, November 1950

Walter Jens: Protokoll über Brecht. Ein Nekrolog, Merkur, Heft 104, Oktober 1956

Günther Anders: Brecht-Porträt. Tagebuch-Aufzeichnungen Santa Monica 1942/43, Merkur Heft 115, September 1957

Martin Esslin: Bert Brecht Vernunft gegen Instinkt, Merkur, Heft 163, September 1961

Robert Minder: Die wiedergefundene Großmutter. Bert Brechts schwäbische Herkunft, Merkur, Heft 217, April 1966

Hannah Arendt: Quod Licet Jovi… Reflexionen über den Dichter Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur Politik (I), Merkur, Heft 254, Juni 1969

Hannah Arendt: Quod Licet Jovi… Reflexionen über den Dichter Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur Politik (II), Merkur, Heft 255, Juli 1969

Sidney Hook, Hannah Arendt: Was dachte Brecht von Stalin. Nochmals zu Hannah Arendts Brecht-Aufsatz, Merkur, Heft 259, November 1969

Iring Fetscher: Brecht und der Kommunismus, Merkur, Heft 304, September 1973

Bernd-Peter Lange: Walter Benjamin und Bertolt Brecht am Schachbrett, Merkur, Heft 791, April 2015

Bertolt Brecht und weitere Sprecher: Lesungen und O-Töne 1928–1956 in Washington und Berlin. Sammlung Suhrkamp Verlag: Tonkassette 116

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Bertolt Brecht

 

 

 

Zum 100. Geburtstag von Bertolt Brecht:

Wolfgang Greisenegger: Von Wahrheit und Widerspruch
Die Furche, 12.2.1998

Zum 125. Geburtstag von Bertolt Brecht:

Nils Schniederjann: Das umkämpfte Erbe des kommunistischen Dramatikers
Deutschlandfunk Kultur, 10.2.2023

Karin Beck-Loibl: Genie und Polyamorie
zdf.de, 10.2.2023

Hubert Spiegel: Briefmarke zum 125. Geburtstag
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.2.2023

Christopher Beschnitt im Gespräch mit Jürgen Hillesheim: „Über die Political Correctness würde Brecht die Nase rümpfen“
Cicero, 10.2.2023

Ronald Pohl: Mit Bertolt Brecht die Kunst des Zweifelns erlernen
Der Standart, 10.2.2023

Theater und mehr: Zum 125. Geburtstag von Bertolt Brecht
ardmediathek.de

Jan Kuhlbrodt: Eine Intervention
signaturen-magazin.de

Otto A. Böhmer: Die gewissen Möglichkeiten
faustkultur.de, 10.2.2023

Brechtfestival Augsburg vom 10.–19.2.2023

Brecht125

 

 

Fakten und Vermutungen zu Bertolt BrechtNotizbücher +
Archiv 1, 2 & 3 + Internet Archive + Kalliope + ÖM + KLGUeLEX
Porträtgalerie: Keystone-SDA
shi 詩 yan 言 kou 口
Nachruf auf Bertolt Brecht: Tumba

 

Bertolt Brecht: Lob des Lernens gesungen von Nina Hagen 2016 in Potsdam.

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