TEXT+KRITIK: Lyrik des 20. Jahrhunderts – Sonderband

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch TEXT+KRITIK: Lyrik des 20. Jahrhunderts – Sonderband

TEXT+KRITIK: Lyrik im 20. Jahrhundert – Sonderband

ZWEI ERSCHEINUNGEN

ich werde dir erscheinen
wie stets ich erschienen dir bin
und du wirst weinen
denn ich bin dahin

und du wirst mir erscheinen
wie stets du erschienen mir bist
und ich werde weinen
weil zwischen uns beiden
zu sagen nichts mehr ist

Ernst Jandl

 

 

 

Zu den deutschsprachigen Avantgarden

Avantgarde- Bashing I
Im Rahmen des allgemeinen Kassensturzes zu Ende des 20. Jahrhunderts ist nichts so billig geworden wie das Abqualifizieren der ästhetischen Avantgarden. Dies geschieht unter fragwürdigen Behauptungen und unzulässigen Verallgemeinerungen, wie beispielsweise der des Kunstkritikers Eduard Beaucamp, daß „das (!) System der einzelnen Schulen (…) klar durchschaubar“ sei. Daß hier im trüben gefischt wird, ist klar durchschaubar. Klar durchschaubar ist, außer der Durchschaubarkeit derartiger Gewagtheiten und des staatsanwaltlichen Stils ausgesuchter Eisigkeit, der bei den Abrechnungen mit den Avantgarden stets zu beobachten ist, zunächst einmal gar nichts. Solch schmallippige Ismen-Bilanz darf in aller Regel als das freudlose Ergebnis einer rumpelnden Pauschalreise durch den wehen Kritikerkopf gesehen werden. Sie fußt nicht zuletzt auf Umständen, die Nietzsche (in Jenseits von Gut und Böse) als „Tölpelei moralischer Entrüstung“ bezeichnet hat.
Ich möchte noch vorausschicken, daß ich kein Avantgarde-Fetischist bin, daß dieser Ausschnitt an Tradition mir gleichwohl immer verteidigenswert erschienen ist. Wie, um zwei Dichter der europäischen Moderne zu nennen, Ungaretti und Lorca, wie die ältesten, von Rhapsoden überlieferten Dichtungen der Menschheit überhaupt. Das Interesse an Dichtung aller Sprachen und Epochen, auch wenn ich den Sinn, in Übertragungen transportiert, oft nur erahnen kann. Das ist bis heute so geblieben. Kein Moderne-Fetischismus für mich. Einen Vaché (Lettres de Guerre, 1919) kann ich übrigens gut verstehen, wenn er über Apollinaire sagt:

Mit Telephondraht flickt er Romantik zusammen und weiß nicht einmal, was Dynamos sind.

Bei dieser Königskinderhochzeit zwischen Gedicht und Naturwissenschaft, aus zutiefst romantischem Sehnen entsprossen, die in den neunziger Jahren, angeregt durch Benn- und Poundlektüre, wieder vereinzelt angestrebt wird, werde ich nicht die Blumen streuen.
Ich sagte: Avantgarde-Bashing. Wie sieht das aus? Es handelt sich in Sonderheit um verbissene bis verbitterte Aburteilungen von Dichtern, Künstlern und Theoretikern der klassischen Avantgarden in toto als utopisch-begeisterte, spirituell-fanatische, respektive kriegsgeil-vernebelte Steigbügelhalter und Zungenredner der totalitären Jahrhundertregime. Avantgarde-Bashing gehört, darüber ist nicht hinwegzusehen, inzwischen zum common sense. Den Ansichten einflußreicher und marktorientierter Kunsthistoriker beziehungsweise -kritiker wie dem Amerikaner Donald Kuspit, wie dem oben genannten verantwortlichen Redakteur der FAZ, Beaucamp, dem konservativen Direktor des Pariser Musée Picasso, Jean Clair, oder Boris Groys, dem Spezialisten für russisch-sowjetische Avantgarden und deren poststalinistische Erben, ist an dieser Stelle nicht nachzugehen. Bei Hans Magnus Enzensberger, seines Zeichens Verfasser von treuherziger Lyrik und süffigen Spiegel-Essays, liegt der Fall näher. Sein Avantgarde-Bashing werden wir weiter unten einer knappen Betrachtung unterziehen.

„Und das haben Sie alles gelesen?“
1970 gab mein Großvater mir die Menschheitsdämmerung in die Hand. Er war 1886 geboren, vom Jahrgang Benns und Balls, und hatte als Akademiker des Dandy-Typs die Schlachterei des Ersten Weltkriegs überstanden. Dieser wichtige Gedichtband war 1933 bei einer Hausdurchsuchung, gekoppelt mit umfangreicher Buchbeschlagnahmung, offenbar nicht aufgefallen letztlich auch ein Zeichen für die Harmlosigkeit von Avantgardelyrik; die Exekutive interessierte sich mehr für den marxistischen und reformpädagogischen Teil der Bibliothek des Großvaters. Bei jenem Polizeiauftritt wurde angesichts des Bücherumfangs von seiten des Einsatzleiters übrigens folgende Frage an den Großvater gerichtet:

Und das haben Sie alles gelesen?!

Kurz, ich konnte als Dreizehnjähriger, nicht ganz typisch für meine Generation, die Rowohltausgabe der Menschheitsdämmerung von 1920, zweite Auflage, lesen. Daran schloß sich sehr bald konsequenterweise die systematische Lektüre der wesentlich schärferen Dadaisten an.

„Eine fragwürdige Sache“. Expressionismus
Die Generation Verdun: abseitige Figuren wie der dichtende Postangestellte aus dem mittleren Management, Stramm, oder der Koks-Junkie Trakl, der als Drogist, beziehungsweise Dank seines Mäzens v. Ficker, auf keinerlei Beschaffungskriminalität angewiesen war. Trakls den Drogen geschuldete autistische Tiefgekühltheit, Stramms sentimentgeladen-gehetztes Reichspostsekretärs-Stakkato, Benns Realitäts-Präparate oder Lichtensteins avancierte Körpermetaphern: „Ich kann die Augen nicht mehr unterbringen“ („Nachmittag, Felder und Fabrik“). Stadt – dies gilt für die Metropole in besonderem Maß −, Stadt bedeutet seit Jahrhundertbeginn: Kino. Bei der Generation Verdun gilt: Silben zappeln Stummfilm. Überhaupt ist zu wenig beachtet worden, wieviel die (bessere) Lyrik der Generation Verdun dem frühen Film verdankt: seiner raschen Schnittechnik, den flimmernden Blenden, den die Information instantmäßig verknappenden Zwischentiteln. Die Kunst dieser Avantgarden endet auf allen Seiten im Augenverdrehen an der Front, ob Freiwilliger oder nicht, in der Militärpsychiatrie oder in den Lazaretten. Ein Augenverdrehen an der Front, an der auch Wittgenstein sein „Geheimes Tagebuch“ führt:

8.3.15 – Von Ficker ein nachgelassenes Werk Trakls erhalten. Wahrscheinlich sehr gut.—

Die Lyrik läßt sich auch in der Heimat, aus sicherer Entfernung inspirieren: Bechers real-futuristische Ode, angelehnt an Marinettis einnordende Maschinengewehrphantasien, dabei seine, Bechers, Sehnsucht, es dem Nervenfaun Rilke gleichzutun an empfindsamer Lyrik, darf hier als Beispiel gelten. Aus fast sicherer Entfernung (die sogenannte Enzensberger-Konstante) sieht der, von der sogenannten nachdrängenden Generation nicht mehr wahrgenommene ältere Erfolgs-Poet Dehmel dem Krieg und dem unappetitlichen Treiben der Avantgarde zu. Der Interviewer der Familienzeitschrift Universum berichtet von seinem Dehmel-Besuch im Stil der home story:

Und so trete ich eines Tages in das freundliche Zimmer des in ein Lazarett umgewandelten Schlößchens zu A., das den Dichter während seiner ungefährlichen, aber hinderlichen Krankheit beherbergt. (…) und reden, reden über alles, was Beruf, Persönlichkeit und Zeiten uns nahelegen. Über Futuristen und Wahlrecht, Schützengraben und Theater, Kriegslyrik und 38-cm-Geschütze.

Karl Kraus, als besessener Presse-Analysant, berichtet vom staatlichen Einsatz des Films bei Soldaten-Laien-Theatern zur Verschärfung des Realitätsgehalts – mixed media während des Weltkriegs: CNN Verdun. Pinthus’ Anthologie ist bekanntlich der Friedhof der sogenannten frühexpressionistischen Dichtergeneration, die bei Kriegsausbruch 1914 ihren Höhepunkt erreicht und überschritten hatte. Die „Menschheitsdämmerung: im Zoom ein Soldatenfriedhof, pathetisches Epitaph einer ausgeglühten Epoche, des Wilhelminismus. Wer ist übriggeblieben, wessen Werk hat überlebt? Zwei Werke haben sich gehalten, Benns und Trakls, beide erste Namen für das deutschsprachige Gedicht, für die Weltliteratur überhaupt. Benn und Trakl, interessanterweise beides Dichter vom drogendurchströmten Blut Baudelaires. Das ist nicht wenig für „eine belastete Generation“ (Benn 1955), die, bei aller Heterogenität und Diskrepanz der ästhetischen Ansätze, noch ein letztes Mal als eine Künstlergeneration (sich) aufspielt .
„Eine fragwürdige Sache“ war der Expressionismus für den Überlebenden Benn, der nach dem Zweiten Weltkrieg Auden gefeatured hat. Benn gab an, sich für deutsche Gegenwartslyrik kaum mehr zu interessieren. Fragwürdig – würdig also (auch), daß nach einer Sache gefragt werden soll. Bei allem Vorbehalt für das Label stellt der Dichterarzt zu den europäischen Avantgarden im allgemeinen, im besonderen zum Expressionismus fest: (Er sei) „vielfältig in seiner empirischen Abwandlung, einheitlich in seiner inneren Grundhaltung als Wirklichkeitszertrümmerung“ gewesen.
Die charakteristische Lyrik der Generation Verdun, in ihrer deutschen Variante ihre Findungen zur „Wirklichkeitszertrümmerung“, besser wohl: Bestandsaufnahme von wilhelminischer Wirklichkeit, ist, mit den ausschlaggebenden Anthologien – der Menschheitsdämmerung sowie Kurt Hillers Der Kondor (1912) – im wesentlichen gut dokumentiert. Das Erscheinen des berlinzentrierten Kondor, für dessen zielsichere Plazierung nicht zuletzt das punktgenau-aggressive Vorwort Hillers sorgte, war dementsprechend von einem schrillen Medienecho begleitet. Hier standen mit Blass oder Hardekopf – neben Heym oder Lasker-Schüler – wichtige Dichter im Mittelpunkt, die vom Herausgeber der kanonbildenden Menschheitsdämmerung schon nicht mehr berücksichtigt wurden und verschwanden. Visuelle Dokumentation? Dafür hatten die Avantgarden fast nie Geld. Auch die Aktionen der Wiener Gruppe um 1960 sind gerade mal mäßig durchfotografiert worden. Film? Zu teuer!
In der Menschheitsdämmerung gibt das Mainstream-Programm eines Werfel, das der ekstatischen Parfümiertheiten, den Ton der „Symphonie jüngster Dichtung“ an. Und dieser pappig-zuckerwattige Nachgeschmack eben ist es, den die in Form der Pinthus-Sammlung überlieferte Lyrik der sogenannten expressionistischen Avantgarde prägend hinterläßt. Hierin liegen auch die Gründe für das generell zu beobachtende Desinteresse zeitgenössischer Autoren an der „expressionistischen“ Dichtung – neben der massiven Tatsache, daß gerade in Deutschland die Epoche des Ersten Weltkriegs fast gänzlich aus dem Blickfeld der jetzt Lebenden verschwunden ist.

Avantgarde- Bashing II
Kriegsfreiwillige junge Künstlergeneration. Kriegsfreiwilliger Dehmel 1914. Daß Enzensberger, der sicherlich als Museumswärter seine größten Meriten hat, mit den Avantgarden auf Kriegsfuß steht, ist nicht weiter verwunderlich, teilt er diese haßvolle Abneigung doch mit dem Mainstream der west- wie der ostdeutschen Nachkriegsliteratur. Seine ausgiebige Minderschätzung, dargelegt in den „Aporien der Avantgarde“ aus den sechziger Jahren, ist für mich über weite Teile nachvollziehbar; vieles ist geschenkt, geschenkt, geschenkt, vor allem aber ist hier vieles erklärlich aus dem Geburtsjahrgang des Autors, seiner akademischen Sozialisation und eben aus der Zeit der Niederschrift seiner dann doch nicht so brillant durchdachten Polemik. Daß aber derselbe Verfasser, jüngeren Autoren zumeist aus dem Deutschunterricht flüchtig bekannt (wie übrigens auch die von ihm bekämpften Konkreten Poeten), in seinen „Aussichten auf den Bürgerkrieg“ (1993) in aller Pauschalität „die Dichter und die Theoretiker der Moderne“ – hier in ungenauer Gestalt der frühen Expressionisten und Futuristen – für den Untergang des Abendlandes verantwortlich zu machen versucht, ist denn doch lächerlich. Überzeugender wird seine Randale auch deshalb nicht, wenn es dem Intelligenzler im Ruhestandsalter gefällt, in hurtigem Parforceritt zwei Seiten später die „Industrialisierung der Massenkultur“ (sprich Pop), sogenannte „Lumpenkünstler“ als leibhaftigen Gottseibeiuns auszumachen, um eine Seite darauf, nun vielleicht doch schon etwas außer Atem, den „Vandalismus“ der „Graffitischmierer“ zu bepeitschen, deren „tautologische Kringel (…) unverzüglich ins Museum“ wandern. Befremdlich. Doch Vorsicht: Enzensberger ist in Schutz zu nehmen: Seine Generation, die in ihrer Studentenzeit erstmals die „Entartete Kunst“ eines Nolde oder sagen wir Munch zu Gesicht bekam, ist bei zeitgenössischer Kunst – oder eben: Literatur – verständlicherweise einfach überfordert! C’est la guerre. Ein Zitat noch aus den häufig zitierten „Aporien“, ein Satz, aus dem uns die bekannt frische Luft der Adenauer-Gesellschaft entgegenfächelt, ein Zitat, das nachgerade ein putziges Instant-Psychogramm der Flakhelfergeneration insgesamt bietet und das wir als Vorzeit-Zeugnis der paläolithischen sechziger Jahre den Nachfahren nicht vorenthalten wollen: „Noch hat keine Avantgarde der Welt nach der Polizei gerufen, um sich ihrer Widersacher zu entledigen.“ Jaja, genau!

„Dadaists have their own idea of beauty“ (New York Times, 1919)
Dada hat nun von allen ästhetischen Avantgarden das denkbar schlechteste Image. Dies gilt in besonderem Maß für den literarischen Dadaismus, der keine Jahrhundertfigur vorzuweisen hat, wie es Duchamp (der erklärtermaßen ein großer Mallarmé-Verehrer war) für die Kunst der Moderne ist. Dieses schlechte Image hat, abgesehen von der schwer zu leugnenden Tatsache, daß in Deutschland auf Ironie bekanntlich die Todesstrafe steht, neben den bekannten geschichtlichen rezeptionsgeschichtliche Gründe. Albert Soergel, der in seiner berühmten, 900 Seiten starken Studie Im Banne des Expressionismus (1925) dem Dadaismus gerade mal 11 (elf) Seiten widmet, macht mit seiner pejorativen, geradezu ängstlichen Haltung den Anfang. Wobei der Einfluß seiner Literaturgeschichte nicht überschätzt werden kann – sie erlebte bis 1927 bereits vier Auflagen, um weiterhin Wirkung im Deutschland wie im Österreich der fünfziger Jahre zu zeigen als Einführung für an Apokryphen interessierte junge Autoren und Germanisten. Bis heute hat sich an der Marginalität, am Hautgout des Unseriösen, das dem Dadaismus anhaftet, hat sich am Verdacht des Staatsumstürzlerischen nicht eigentlich etwas geändert: Das Diktum von der dadaistischen „Unsinnspoesie“ hat sich über Generationen festgefressen. Zum heutigen, nicht nur journalistischen Gebrauch des Begriffs „dadaistisch“: immer, wenn ein Phänomen, das obendrein scheinbar alogisch daherkommt, als unterhaltsam-verjuxt beschrieben werden soll, hat man das Wörtchen „dadaistisch“ parat. Eine Beobachtung, die in den Medien durchgehend gemacht werden kann.
Die Stärken und Verdienste des Dadaismus, der von Karl Heinz Bohrer dem „rationalistisch-materialistischen Flügel der ästhetischen Avantgarden“ zugerechnet wird, die Verdienste des Dadaismus, wie er zwischen 1915 und 1918/1919 in der Schweiz entwickelt wurde, haben nur mit Ausnahmen in der Lyrik gelegen. Eher in der Theorie, die ja zu nicht unwesentlichen Teilen den Surrealismus vorbereitet hat, der bekanntlich in Deutschland, aus geschichtlichen wie mentalitätsgeschichtlichen Gründen, nie fruchtbaren Boden gefunden hat. Lag das Hauptgewicht des deutschen Expressionismus vor Kriegsausbruch in der Lyrikproduktion, so bemühte man sich in Zürich und Lugano, hat man den Eindruck, eher um neue Präsentationsformen von Literatur, zumal von Lyrik. An der im Netzzeitalter höchst aktuellen Simultantext-Entwicklung und deren Live-Sendung sind von deutschsprachiger Seite Serner und Arp beteiligt. Ball, Serner, Huelsenbeck sind die bedeutendsten Vertreter von frühen Formen der Performance. (Das gräßliche Wort der Literatur- beziehungsweise Lyrik-Performance, Mißgeburten der neunziger Jahre, war noch unbekannt.) Allein durch die Einführung von Simultangedicht und Performance – ästhetisch-medienmäßig ein Quantensprung! – sind die Dadaisten den Expressionisten deutlich überlegen.

„Innerste Alchimie des Wortes“. Ball
1921, nun als Erforscher frühchristlich-mönchischer Mystik ganz Geistes-Wissenschaftler, notiert Ball in seinem berühmten Tessiner Tagebuch, rückblickend auf seine Zürcher Aktivitäten des zelebrierten Klanggedichts: „Damals trieb ich Buchstaben- und Wort-Alchimie.“ Hierin zeigt er sich als orphischer Schüler Mallarmés, der seinerseits, opfervoll, in Entsagungsgeste, von der „Alchemistengeduld“ gesprochen hat, mit der er sein utopisches Le livre-Projekt verfolgt habe:

(…) wie man einst sein Mobiliar und die Balken seines Hauses verbrannte, um den Ofen des Opus magnum zu heizen. (Brief an Verlaine, 1885)

Ebenso wie Hugo Ball zeigt sich Marcel Duchamp affiziert von Mallarmé:

und zwar vor allem hinsichtlich der Klangwerte, der Lautmalerei, das heißt, der hörbaren Poesie und nicht nur wegen seines Versbaues oder Gedankenreichtums. (Interview von Pierre Cabanne, 1966)

Während sich Duchamp unter Mallarmés Einfluß zu dem Titel-Spezialisten der modernen Kunst entwickelt, führt Ball für das deutschsprachige Gedicht die Überwindung des Expressionismus am konsequentesten durch, indem er, der hergebrachten Semantik mit tiefstem Mißtrauen gegenüberstehend, gleich vollständig auf den puren Sprachklang setzt:

Man ziehe sich in die innerste Alchimie des Wortes zurück, man gebe auch das Wort noch preis, und bewahre so der Dichtung ihren letzten heiligsten Bezirk. („Die Flucht aus der Zeit“, Eintrag vom Juni 1916)

In Ausschließlichkeitsgestus und Weltentrücktheit, im sicheren Gespür für das ursprünglich Magisch-Theatralisch-Histrionische der Dichtung treffen sich hier auf verstörende Weise zwei deutsche Mallarmé-Schüler, zwei poetologische Ansätze des Extremen berühren sich: Ball und Stefan George (die beide in der Südschweiz starben). Darüber hinaus darf man sich entsinnen, daß zwei andere Gründerväter der literarischen Moderne, Poe und Baudelaire, beide ausgemachte Histrionen gewesen sind.
Balls opus magnum, sein livre, seine Sprachinstallation, ist das Akustische Gedicht. Das unausführbare Buch, da es ja nicht über die Schrift funktioniert, nur im Live-Erlebnis, im event, existent ist – der Rest ist verpackter Körper, Puppe. Die Performance – Ball, vor dem Krieg in München Theaterdramaturg im kubistischen, Schlemmer nahen Kostüm, in seinem Element: der Styliten-Rolle des frühchristlichen, noch anarchisch funktionierenden Eremiten. Des Mönches, der in schweigendem Lobpreis auf einer Säule sein Leben verbringt. Predigt er, kann es sein, daß die Leute glänzenden Augs in Scharen und von weither kommen. Diese sonderbaren Heiligen hielten Sprech-Stunden ab. Wenn sie als Stars der Selbstversenkung oder des epiphanischen Worts Ruf erlangt hatten, wenn ihnen das wüste Fleisch, die Haut eine Papyrusoberfläche, das Fleisch Rauchfleisch unter der ägyptischen oder palästinischen Sonne gedörrt über das Knochengerüst spannte, die Prediger-Stimme ihnen immer pfingstlicher wurde, dann bildet sich der Stylitenwald, die Schule. Die Zunge, Dörrfleisch, wird immer geschmeidiger, geiler: das ist der Dichter als Stylit. Ball, in der wilhelminischen Körperfeindschaft seiner Generation korsettiert, erlöst sich in seiner (Meßdiener-) Performance, promoviert sich zum „magischen Bischof“ (Tagebuch), von dem eines der am häufigsten publizierten Fotos einer Performance der Avantgarde während des Ersten Weltkriegs zeugt. Balls Porträt, zeittypisch inspiriert von afrikanisch-ozeanischen Kulturen, gehört, neben dem des kopfbandagierten Apollinaire, auch zu den Abschiedsfotos der frühen Avantgarden. Sicherlich hatte Hugo Balls Masken-Performance gerade im ikonoklastischen Zürich eine derart durchschlagende Wirkung: Er bot sozusagen ein Stück starkriechendes Barock, der Stimmapparat als schwärende Wunde, eine sehr deutsche Aufführung, früher Beuys, „Zeige deine Wunde“.
Ball und Chlebnikov, Exponenten der Avantgarde mystischer Ausrichtung – letzterer verkörpert den Typ des Wandermönches, des manisch-nomadischen Sprachreisenden, dessen Wurzeln die Etymologien alter, entlegener, mythischer Sprachen ist. Ball, in seinem letzten Lebensjahrzehnt, entwickelt seine Nerven unter anderem (für mich stark mit seinen Gedichtperformances zusammenhängend) für das vorderorientalische Phänomen geistlicher Rhetoriken, dessen erstaunliches Resultat die Fallbeispiel-Studie über das „Byzantinische Christentum“ ist. In der Dichtung will und kann Ball nichts mehr an Höchstleistung bringen; sein lyrisches Werk ist abgeschlossen. Der Zungenredner der Moderne schweigt – Ball wird, wie seine Frau Emmy Hennings, die Punksängerin, römisch-katholisch; macht die aus der Romantik bekannte mystische Kehre. Ball forschte weit. In der Sprache bis hinein ins Ereignislose.
Noch einmal Cabaret Voltaire. Die romantische Performance des Dadaisten Ball, der sich zu diesem Zeitpunkt nicht entscheiden kann zwischen Bekenner- und Märtyrertum, startet. Totentanznähe dieser Rituale, Tanz und Dichtung haben ja von Anfang an zusammengehört. Ball, in halbheidnischem Ritual. Ball im Kostüm kommunizierende Röhre… Der Sprachgott spricht durch Balls Mund. In der Mundhöhle spielt sich das Höhlengleichnis ab. Ball spricht unversehens. Der Dichter spricht, lallt, röhrt: eigentlich spricht er die gelöschte Tonspur aller Sprachen, der lebenden wie der toten. Immer wieder sehen wir uns das Ball-Video an, spulen zurück, wollen alles nochmal von Anfang an sehen.
Seit Poe gibt der Dichter sich immer wieder als Histrione. Der Dichter, der den Histrionen (auch noch) gibt… Arp, Tzara, Serner performen ihre Gedichte. Hier geht das Gedicht in den Äther: das Gedicht wird Sendefläche. Die Nachwelt guckt in die Röhre: die Dadaisten haben, bis auf Ausnahmen (das ist Avantgarde: Schwitters benutzt bekanntlich die konservative Sonatenform und zeichnet, als Werbefachmann, auf), keine Mitschnitte in Form von archaischen Tonaufzeichnungen hinterlassen können. Die Konservenindustrie war im Verdunjahr 1916 sozusagen noch nicht in den Gängen. Ball, Semer, Tzara performen ihre Gedichte in den Städten. Performance geschieht in der Stadt: „Man lebt in Zürich: Ländlich unter Morphinisten“ – 1915 Balls knapper Verriß des Exil- und künftigen Arbeitsortes. Dann erkannte er das Gedicht als Ort der Frequenzüberlagerung, des Fadings, um konsequent das weiße Rauschen des Wortes anzusteuern:

Man ziehe sich in die innerste Alchimie des Wortes zurück.

„Lyrik: ein Knabe befindet sich in der Klemme“. Serners „Letzte Lockerung“
Ferdinand Schmatz („Sprache, Macht, Gewalt“) hat daraufhingewiesen, daß mit der „Letzten Lockerung“ zugleich das Dandytum seinen Abschied nimmt. Serner hat die „Letzte Lockerung“ 1918 in Lugano geschrieben. Gerade rechtzeitig, um vom PR-Chef Dadas, Tristan Tzara, der die besseren Kontakte nach Paris hatte, schamlos bestohlen zu werden. Der Fall Serner-Tzara ist markant. Ein in der Erforschung der Avantgarden zu wenig beachteter Vorfall, ein pikantes Beispiel für Zitatkultur, die Eskamotage (aus der Rezeption) per Plagiat.
1917 hatte der seit zwei Jahren in den USA lebende Duchamps sein ready made „Fontäne“ hergestellt, das Urinoir. Die Gestorbenen auf den Schlachtfeldern verwesten, in den Künsten lag Urin in der Luft. Manifeste sind als eine moderne Form der Verwünschung zu verstehen. In ihnen geht es darum, die Wirklichkeit von Vorgängern zu zerstören.
Auf den Sprach-Körper bezogen, dieser seit den achtziger Jahren grassierenden Metapher, bemerkt schon Michail Bachtin in seiner Rabelais-Studie:

Verwünschungen (…) krempeln den ganzen Körper um und stülpen den Unterleib vor.

Allen Marktplatz-Verwünschungen „ist die Ausrichtung nach unten gemeinsam“. Zu Dadas Zeiten lag Urin in der Luft, die Hinterlassenschaft der Weltkriegstoten, zu beiden Seiten des Ozeans. In der „Letzten Lockerung“ ist folgendes nachzulesen:

Die weiteste Bewußtheit (Patent Oil Urinoir) ist lediglich die letzte Unsicherheit, die der vorletzten aber als Sicherheit imponiert (…).

Eine Totentanz-Wirklichkeit, wie sie zu Ausgang des Mittelalters, dann während des Dreißigjährigen Kriegs der Fall gewesen ist. In solchen Situationen überschlägt sich die Stimme der Dichter, erreicht den äußersten Grad an Schärfe.
Abgesehen davon, daß sich die „Letzte Lockerung“ als manifest dada versteht und es dem Manifest eigen ist, daß es versucht, autoritär gegen Vorgänger-Autoritäten vorzugehen, um sie abzuschalten, gehört Serners Text zum psychologisch Durchdachtesten, nicht allein der Gattung – sie (Femininum) ist zum Intelligentesten zu rechnen, was Avantgarde über Avantgarde zu äußern imstande war. Zudem ist die „Letzte Lockerung“ sprachphilosophisch auf der Höhe der Zeit. Mit Abstand die beste theoretische Prosa in deutscher Sprache ihrer Zeit – übrigens zum ersten Mal unter Einbeziehung von Slang und O-Ton. Die ästhetische Theorie bedient sich, unterbrochen und ergänzt von kommentierenden Interjektionen, comichaft-onomatopoetischen Ausrufen, der Ausrufe der Straße (street speech) hier erstmals überzeugend und, in Vorgriff auf Pop-Ästhetiken, der umgangssprachlichen Jargons. Sein Autor, Serner, legt ein beeindruckendes Bekenntnis zur lebensvollen „Sprache des Marktplatzes“ (Bachtin) ab.

„Sprich deutlicher!“ Serners Lyrik, seine Performance
Von Serners Werk ist augenblicklich, mit Ausnahme seines Romans Die Tigerin, nichts (nichts!) greifbar. Also auch nicht die Gedichte, die in weitere Kreise erreichende Anthologien nicht vordringen konnten. Ebenso sprachenhaltig wie seine berühmten Kriminalstories sind Walter Serners Gedichte aufgebaut. Slangnähe findet sich auch hier. Serner hat wenige, aber erstklassige Gedichte geschrieben. Der Autor der „Letzten Lockerung“ hielt überhaupt wenig von Lyrik, kurz fertigt er das gefühlskontaminierte Gedicht ab: „expressionistisch“ und „vorsäuseln“ waren für den Dichterperformer Synonyme, man kann es in seinem Manifest nachlesen. Folgerichtig demonstriert Serner in seinem knapp gebliebenen lyrischen Werk einen präzisen Bruch mit dem Expressionismus. Mit überzeugendem Ergebnis. 1919 erscheinen Gedichte aus der „Manschetten“-Serie, in der wichtigen Zeitschrift „Der Zeltweg (eine Nummer erschienen), zusammen mit Auszügen der „Letzten Lockerung“. Serner zeigt und verbirgt sich als passionierter Beobachter im Sinne Baudelaires. Registrierblick des Flaneurs, Sprache als Präzisionsinstrument. „Manschette“ ist ein Slang-Titel, rotwelsch, Sprache des Milieus, ist Unterweltsprache für „Angst haben“ und „Handschelle“. Jedes der durchnumerierten Sernergedichte eine Handschelle (Maulschelle?) für den Kopf? Zusammengemanschte, unter dem hohem Druck der Gegenwart erzeugte Sprache. Kaltgehaltenes Material, wie es Benn liebte und forderte, schockgefrorenes Wort, in der zynisch-neusachlichen Manier schon der zwanziger Jahre, bei aller Liebe zu sprachlogischen „Unvereinbarkeiten“.
Die Dadaisten haben naturgemäß eben keine Unsinnspoesie abgeliefert! (Daß auch in dieser Sparte viel Blödsinn geschrieben wurde, ist normal.) Gedichte schreiben, Kinder manschen im Dreck; das Ergebnis: Manschetten. Wiederholt ergeht an das Kind (lies: Leserschaft) die patriarchalisch-ironische Ermahnung „Sprich deutlicher!“ („Manschette 9“). „O warum sich nicht langsam streicheln“, fleht das lyrische Ich Serners in dieser neunten „Manschette“, die als Elegie ausgewiesen ist – sicherlich keine nach dem Verständnis des ironiefreien Rilke. Serner fordert für das Gedicht: „Alle Bilder sind plausibel“ („Letzte Lockerung“). Damit wird die Leserschaft ernstgenommen, sie muß nur mit den zunächst harsch wirkenden Schnittechniken (Montage), den filmischen Blick- und Bildwechseln vertraut werden, die seit Baudelaire, Mallarmé, dem Berliner Expressionismus der grotesken Variante mit Hardekopf, Benn oder Lichtenstein eingeführt worden sind. Zudem wenden sich die ausgesprochen kriegsgegnerischen Dadaisten Schweizer Prägung gegen eine Literatur des ideologisch-sozialen Engagements, wie sie in Deutschland ab 1918 fortgesetzt wird. Strikt abgelehnt werden letztlich brav bleibende realistisch-deskriptive Literaturmodelle –„Revolutionsliedchen im Kaiser-Geburtstags-Stil“, „Klischee-Zeugs“, wie Serner in „Dada-Park“, Pfempferts „Aktion“ im Zeltweg angreifend, bemerkt:

Man spreche nicht von Realismus (…).

Die Neue Sachlichkeit wurde zum Mainstream der Weimarer Republik, so daß Paul Zech um 1930 klagen mußte:

Zu dem hohem Kurs der Sachlichkeiten
wird man heute jeden Abfall los.

Serner ist, wie Ball und Emmy Hennings seit 1915 in der Schweiz, vornehmlich in Zürich, dann in Genf, gemeldet. Sein Einfluß darf nicht unterschätzt werden: Serner – nicht Tzara – eröffnet in Genf im Dezember 1919 den „Ersten Weltkongreß der Dadaisten“.
Sein Einfluß als Performer von literarischem Text ist evident, denkt man etwa an die legendäre Schneiderpuppen-Performance, die von Nadeau in der Geschichte des Surrealismus (Paris 1945, deutsch erst 1965) mitgeteilt wird. Bei der Schneiderpuppen-Performance legt der Akteur einen Strauß Blumen einer kopflosen Atelierpuppe zu Füßen. Und liest daraufhin keine Gedichte vor. Sehr gut! Ausgezeichnetes Konzept. Zeitgenau und klimatechnisch sauber geplant und partiturgerecht durchgeführt, indem es sich des im öffentlichen Verständnis frisch verankerten Kriegerdenkmal-Erlebnisses (im zeremoniellen Kostüm der Kranz-Niederlegung) bedient, sich somit seiner Wirkung im vorhinein versichern kann. Die erwünschte Wirkung bei den ästhetischen Avantgarden ist immer: der medienwirksame, am besten weitestgehend selbstgesteuerte Skandal. Die Dadaisten hatten Erfahrungen mit Printmedien. Serner war Sohn eines Zeitungsverlegers, hatte für die expressionistische Fachpresse als Kunstkritiker geschrieben, Schwitters verdiente sein Geld als freiberuflicher Werbe-Consultant. Die Skandal-Sehnsucht der Avantgarden, zuletzt, auch schon zwanzig Jahre her, ab 1976 bei Punk. Die lyrics – auch deutscher – Punk-Bands waren ästhetisch der neoneurasthenischen westdeutschen Lyrik überlegen. Das wurde im bürgerlichen Feuilleton der achtziger Jahre nicht wirklich wahrgenommen, ebensowenig wie die ersten Lyrikbände der heute Vierzigjährigen – ich nenne Waterhouse, Czernin, Papenfuß – nicht wirklich als Einschnitt begriffen wurden. Das änderte sich, langsam, erst ab ziemlich genau 1989; ab Anfang/Mitte der neunziger Jahre wird ein Interesse an zeitgenössischer – bitte nicht zu komplizierter! – Lyrik im deutschsprachigen Raum scheinbar größer. Scheinbar, natürlich.
Die Wirkung von Serners sprachkritischer Dada-Performance geht über den Tagesskandal hinaus: sie wird, modifiziert, als apokryphes Zitat, von der Wiener Gruppe relaunched. Man ist geneigt, von einer Wiederaufnahme ins Programm zu sprechen. Dada selbst war schnell ein Fall für das renommierte Verlagswesen. Der angesehene Kurt Wolff Verlag in München konnte 1919 den Dadaco-Katalog mit einem Artikelauszug der New York Times über die aktuelle europäische – die Zürcher – Avantgarde („literary and artistic group of Dadaists“) bewerben. Die hatte die Schweizer Dadaisten pretermodern genannt.

Breitseite gesprochen. Notiz zu Slangnähe und Lesung des Gedichts
Die schnelle Rhetorik der Straße, die immer sich in Rasanzen entwickelnde Privatsprache des Quartiers, die Berufssprache der kriminellen oder der kriminalisierten Szenen, der Ruf des Blocks: alles für die Dichter in Frage kommende Sprachen. Das Antidot zum hohen Ton, der ja nur in homöopathischen Dosen dem menschlichen Gehirn zumutbar ist. Zu den Erstverwendern von Rotwelsch in der deutschen Literatur gehört, im 17. Jahrhundert, nach dem jargonkundigen Luther, Johann Michael Moscherosch.
Die schnelle Rhetorik randständiger Sprachen, offene Hermetik, von Orpheus im Studio eingesprochen. Orpheus nähert sich liebend den Sprachen, er nähert sich allen Sprachen: unterschiedlos. Der Sänger-Dichter hält sich in der Nähe des Hermes auf, in der Nähe des Seelenführers Hermes, der viele Posten bekleidet, so ist er der Verwalter des Diebsschatzes der Sprachen, der Fach- und Sondersprachen. Hermes, der Gott der Zitatkultur, arbeitet auf seine nomadisch-viehdiebische Art am Projekt der Erinnerung. Die Unterwelten sprechen ihre Weltsprachen verschieden. Bachtin in seiner berühmten Rabelais-Studie zur Sprache des öffentlichen Raums, zur Sprache des sprachenvereinigenden (Jahrmarkt-)Platzes, dem Gewirr von Dialekten und Argots, die überspült werden von Ausrufersprüchen und -liedern (Werbejingles), die sitzen. Bachtin analysiert Plätze, auf denen Eigenes und Fremdes sich trifft, in kreative Konkurrenz tritt: das gesprochene Wort als laut gesprochenes, als gestenreich histrionisch sich beweisendes Wort – ganz Stimme, ganz bildreich verkörperte Sprache. Bachtin sieht über Fluch und Verwünschung den „grotesken Körper“ in Aktion (s.o.: Ball in kubistischer Verpackung). Seit dem Manierismus ist die Entstellung des Körpers (Martyrien-Darstellungen undsofort), das sogenannte Häßliche, das Häßlichgemachte, kurz, das als pervers und abirrend Begriffene fester Bestandteil der künstlerisch-ästhetischen Avantgarden. Slangs neutralisieren das Pathos. Slangs ölen die Synapsen: die schnelle, schnellzüngige, zügige Rhetorik der Straße, popular speech, in dichterisch gesprochener, beziehungsweise geschriebener Sprache – Nachrichten aus dem Zeitraffer.
Umgangssprache: ‚n gefährlich‘ Dingen für die Lyrik, die deutsche zumal, wenn sie im Aschenputtelfetzen des Alltagsgedichts (sogenannte Neue Subjektivität) nach 1968 längsschleicht: depressiv, schlecht gearbeitet, sprachschlampig, sackförmig schlackernd in ostentativer Schlechtdraufität. Geradezu Anlaß für meine Generation, die in den siebziger Jahren das Gedichtschreiben begann, andere Wege einzuschlagen, andere, als die von der Gruppe 47 abgesegneten Traditionen, aufzugreifen. Nicht zuletzt: die Ergebnisse können sich, 1999, sehen lassen.
Gegen die trostlose Lesung, die dichterische Sprache, die dichterisches Sprechen nicht ernstzunehmen vermag, ist eine jüngere Dichtergeneration angetreten. Das Wort Dichter stand nach 1968 bekanntlich auf dem Index, wurde nicht mehr verwandt, so ließ der Verfasser sich 1986 auf einer Preisurkunde als Beruf folgendes schriftlich bestätigen: „Dichter und Sprachinstallatör“, Wir setzten dagegen die Sprach-Party Gedicht! Genau, die Feier! Sprachfunk! Das Gedicht als Sendefläche! Freilich nicht in der brokatenen Steifheit à la George, der von der Lesung des romantischen bürgerlichen Salons nur eine wächserne Maskenhaftigkeit gelten ließ. Die Sprach-Party Gedicht seit dem imperialen Rom: seit Catull street talk als angemessenes Instrument erkannte, um das Gedicht städtisch zu machen. Sumpfblüte Stadt: das Paris Baudelaires ist die Ganz-Körper-Stadt, in deren Marktplatzruf – dem dernier cri – die Werbebranche ihren Geburtsschrei ausstößt. Das laut gesprochene Wort, neben dem klandestin geflüsterten, die chiffrierte Abmachung des sprachenberühmten Lyoner Jahrmarkts, den Bachtin im Zusammenhang mit Rabelais’ ebenso gelehrter wie bildkräftig-volksnaher Sprache erwähnt, „gehörte zu den weltweit führenden Märkten im Buch- und Verlagswesen.“
Slangverwender Arno Holz: man hat sich billig daran gewöhnt, Holz als einen Ahnherren moderner Dichtungsansätze in der Rolle des neo barockjugendstilig überschwappenden Phantasus-Autors zu nennen. Seine Rolle wird überbewertet, einmal. Hierzu kann weiter gesagt werden, daß Holz als Lyriker da wirklich stark ist, wo er auf den naturalistischen Sekunden-Sprachstil der frühen Theaterstücke (mit Johannes Schlaf) zurückgreift, der mit direkten Alltagszitaten arbeitet, den gröligen Tagesschlager ins Gedicht umlenkt: „Pankow, Pankow, Pankow – kille-kille!“ Was für ein Unterschied: In den USA „around 1900, the reading public was fascinated with slang and social dialect“, so der Slangforscher Irving Lewis Allen in seinem Bestseller The City in Slang. New York Life and Popular Speech (Erstdruck: Oxford University Press, 1993).
T.S. Eliot sagt anläßlich der Untersuchung von Shakespeares Vers über dessen ausführlichen, teils bis ins Programmatische gehenden Einsatz der Umgangssprache: „Er experimentiert, um zu sehen, wie kunstreich, wie kompliziert die Musik angelegt werden kann, ohne daß sie den Zusammenhang mit der Umgangssprache gänzlich einbüßt.“
Bei Pound, dessen puritanische Didaktik, doziert er über Poetik, als störend empfunden werden kann, wie – anders gelagert – bei Artmann, sind Sprachen (Dialekte), je abgelegener desto reizvoller, klarermaßen durchgehend Programm. Überhaupt fällt nach 1945 die (Wieder-)Entdeckung der Dialekte, der Argots und der Sondersprachen für die Dichtung nach Österreich. Ebenso die der Ethnologie und Anthropologie als sprachliche Materiallager und Themenpools. All dies wird in Österreich erarbeitet, ausgehend von H.C. Artmann, der den Blick auf das der sterbensverliebten Wiener Melancholie nah verwandte Barock lenkt – wie er überhaupt Augen und Ohr für das (seit einiger Zeit in vielen Hinsichten hochaktuelle) 17. Jahrhundert schärft. Das linguistische Interesse, das für die Dichtung entwickelt wird, macht bei Licht besehen nur einen Bruchteil der deutschsprachigen Avantgarde Wiener Provenienz nach dem Zweiten Weltkrieg aus! So wird, über die sattsam erörterte Durchleuchtung des sprachskeptischen Komplexes als Fond dichterischer Arbeit hinaus, die gesprochene Sprache des Live-Auftritts um 1960 in Wien wieder wichtig. Hier wird offenbar an die brillante, zwischen U- und E-Themen ein breites Spektrum bildende Vortragskultur der österreichischen Hauptstadt angeschlossen, wie sie seit Grillparzers und Nestroys Tagen als Trainings-Center die nützliche Erfindung des Kaffeehauses bereithält. Angeschlossen wird bei den Aktionen der Wiener Gruppe auch an begnadete Didaktiker wie Kraus, ein, wie Film-Mitschnitte seiner Lesungen beweisen, ebenso zündend-bühnenwirksamer Histrione. Zu nennen wäre Kraus’ Widersacher, Anton Kuh, der Sprechsteller, eine berühmte Fachkraft für spoken word und gnadenlos präziser Timingspezialist. Alles im Kaffeehaus geschulte Kräfte – echte Live-Stars! Wien – hier sitzt das „guade sprücherl“ (um 1900 schon „Galeristensprache“ der Wiener Unterweltler). Der gute, die Polemik führende, gesprochene Satz, die drastische Ansage, der warnend-paßgenaue Satz, der über den gut bis reichlich eingeschütteten, gern breitschulterigen Inhalt hinaus im Timing perfekten Sitz haben muß, um als guter Spruch rüberzukommen. Der gute Spruch kann (vom Gegenüber, das das Publikum sein kann) nicht gewechselt werden. Hauptleistung der Wiener Gruppe ist sicherlich sie selbst, als Live-act, gewesen. Die Wiener Gruppe mit Jandl jedenfalls hat dafür gesorgt, daß seit eineinhalb Jahrzehnten wieder von jungen Dichtern gute Lesungen zu hören und zu sehen sind. „Experimentelle Dichtung“? Nie gehört. Die Bühnenperformance jedenfalls hat mit Experiment überhaupt nichts zu tun, das ganze nennt sich: Histrionenfieber. Histrionenfieber, face dancing: die Lesung, auch als Austausch zwischen Musik und Poesie begriffen, wie er seit Anfang der achtziger Jahre durch Auftritt-Teams stattfindet: Köllges/Kling machten für den Köln-Düsseldorfer Raum 1983 den Anfang, gefolgt von Marcel Beyer und Norbert Hummelt, die auch schon deutlich vor 1989 gemeinsam aufgetreten sind. Auftrittsmöglichkeiten, mit denen jüngere Dichter der spezifisch deutschen Ausprägung der literarischen Lesung mit ihrer ganzen unglückseligen Holzigkeit entgegengetreten sind, so daß eigentlich nicht mehr sein muß, was Witold Gombrowicz („Ferdydurke“) im Adenauer-Deutschland beobachten mußte: „O diese beseelten Gesänge, denen niemand zuhört! O diese Klugrednereien der Kenner und diese Begeisterung bei (…) Dichterlesungen und jene Einführungen, Bewertungen, Diskussionen und die Gesichter der Personen, wenn sie deklamieren oder zuhörend das Mysterium gemeinsam zelebrieren!“

Thomas Kling

 

Inhalt:

− 50 Gedichte des 20. Jahrhunderts – Ausgewählt von Durs Grünbein, Thomas Kling, Barbara Köhler, Friederike Mayröcker und Peter Waterhouse

− Hermann Korte: Energie der Brüche. Ein diachroner Blick auf die Lyrik des 20. Jahrhunderts und ihre Zäsuren

− Maria Behre: Hölderlin in der Lyrik des 20. Jahrhunderts

− Norbert Hummelt: Mein Onkel Gottfried Benn

− Klaus Schuhmann: „Ich brauche keinen Grabstein“. Der Lyriker Bertolt Brecht und seine Nachgeborenen

− Helmut Göbel: „In der Asphaltstadt bin ich daheim“. Die große Stadt in der Lyrik des 20. Jahrhunderts

− Ursula Heukenkamp: Zauberspruch und Sprachkritik. Naturgedicht und Moderne

− Karl Riha: Lyrik-Parodien. Anmerkungen zu ihrer Kontinuität und Vielfalt im 20. Jahrhundert

− Yasmine Inauen: Verwandelter Körper, verwandeltes Ich. Tanzgedichte von Else Lasker-Schüler, Gertrud Kolmar, Nelly Sachs und Christine Lavant

− Thomas Kling: Zu den deutschsprachigen Avantgarden

− Hugo Dittberner: Das Authentische…

− Friedrich W. Block: Erfahrung als Experiment. Poetik im Zeitalter naturwissenschaftlicher Erkenntnistheorien

− Ludwig Völker: Hilfswerk, Begleitmusik. Dokumente zur Poetik und Poetologie

 

Das Jahrhundert reizt zum Rückblick:

Wer die Geschichte der deutschen Literatur seit dem Beginn der Moderne erfassen will, kann sie exemplarisch an der Lyrik studieren: mit ihren Büchern, Sprüngen und Zäsuren, ihren programmatischen Ansprüchen, hochgestimmten Erwartungen und skeptischen Rückzügen, ihren Provokationen und Reaktionen auf Zeit, Gesellschaft und Kultur.
Den Untersuchungen und Analysen dieses Bandes vorangestellt ist eine Anthologie von Gedichten, die Durs Grünbein, Thomas Kling, Barbara Köhler, Friederike Mayröcker und Peter Waterhouse als ihre Gedichte des Jahrhunderts gewählt haben.

edition text + kritik, Klappentext, 1999

 

Dürfen die das?

„Das Jahrhundertende reizt zum Rückblick“, lese ich auf der Rückseite des gewichtigen, 300 Seiten starken Text + Kritik-Bandes Lyrik des 20. Jahrhunderts sowie:

Den Untersuchungen und Analysen des Bandes vorangestellt ist eine Anthologie von Gedichten, die Durs Grünbein, Thomas Kling, Barbara Köhler, Friederike Mayröcker und Peter Waterhouse als ihre Gedichte des Jahrhunderts gewählt haben.

Die Vorbemerkung der Anthologie präzisiert das Vorhaben:

Zwei Lyrikerinnen und drei Lyriker haben wir gebeten, ihre zehn deutschsprachigen Gedichte des 20. Jahrhunderts für diesen Band zu nennen, und zwar möglichst aus jeder Dekade eines. Nicht alle haben sich an diese Vorgaben gehalten…

Das kann man laut sagen. Die Auswahl hebt an mit Friedrich Hölderlins „Hälfte des Lebens“, „ausgewählt von Friederike Mayröcker“, und wirft die Frage auf, wie weit die auswählenden Dichterinnen und Dichter zeitlich orientiert waren, als sie ihre Auswahl trafen. Beziehungsweise räumlich: Unmittelbar auf Hölderlins Gedicht aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts nämlich folgt „Meditation“ des Italieners Umberto Saba, „ausgewählt von Peter Waterhouse“, ein Poem, dessen überraschendes Auftauchen in einer Anthologie „deutschsprachiger Gedichte“ sich offenbar dem Umstand verdankt, daß der Auswähler es sich geistig angeeignet hatte:

Hier Erstdruck der Übersetzung von Peter Waterhouse.

Im Laufe der Lektüre nehmen die räumlichen Irritationen zu: Wiederholt taucht der Russe Mandelstam auf, die vierziger Jahre werden von E.E. Cummings und Michael Hamburger mit englischsprachigen Gedichten abgedeckt; auch bleiben poetologische Verwunderungen nicht aus: Was eigentlich hat Robert Walsers anderthalbseitige Prosa „Spazieren“ in einer Gedichtsammlung verloren?
Doch solches Stutzen wird während der ersten sieben Anthologie-Jahrzehnte durch die im Schnitt überraschungsfrei kanonische Auswahl neutralisiert: Dreimal ist Rilke vertreten, dreimal Benn, zweimal Trakl, zweimal Brecht, dreimal Celan, zweimal Prießnitz, dreimal Jandl, zweimal Artmann – da begrüßt der Lesende Barbara Köhlers Insistieren darauf, daß im vergangenen Jahrhundert auch Frauen gedichtet haben, nicht nur Eingemeindete, sprich Kanonisierte wie Else Lasker-Schüler oder Ingeborg Bachmann, sondern auch Eigensinnige und Abseitige, Christine Lavant oder Inge Müller.
Halten wir, bei der Dekade 1970 bis 1980 angelangt, inne, um eine Zwischenbilanz zu ziehen, so stellt sich die Ernte der fünf Anthologisten als ebenso konsensfähig wie flusig dar, weitgehend der – mit Brecht zu reden – „pontifikalen“ Linie der deutschen Dichtung verpflichtet und kaum an der „plebejischen“ interessiert, auch bei jenen Dichtern nicht, die in beiden Zungen zu reden vermochten, ja sogar komischer Töne mächtig waren: „Ich bin nichts Offizielles / ich bin ein kleines Helles“ (Benn); „Eins. Zwei. Drei. Vier. / Vater braucht ein Bier. / Vier. Drei. Zwei. Eins. / Mutter braucht keins.“ (Brecht).
Umso überraschender dann die letzten beiden Jahrzehnte des Jahrhunderts – die haben die Anthologisten weitgehend für sich und ihresgleichen reserviert.
Auswähler Kling wählt ein Gedicht von Auswähler Waterhouse aus, der im Gegenzug ein Gedicht von Kling auswählt, und unterm Strich summiert sich solch Geben und Nehmen zu insgesamt sechs Gedichten aus den Federn dreier Anthologisten, was einen gewissenhaften Leser, den Rezensenten Steffen Jacobs, im SFB die Rechnung aufmachen ließ, die drei hätten demnach „zehn Prozent der wichtigsten Gedichte des 20. Jahrhunderts geschrieben“.
Ein Befund, der bei genauem Hinschauen noch deutlicher zugunsten der Auswähler ausfällt: Da die Sammlung nicht 50, sondern lediglich 43 deutschsprachige Gedichte von insgesamt 27 deutschen Dichterinnen und Dichtern enthält, bringen die drei Anthologisten nicht ein mattes Zehntel, sondern ein sattes Siebtel auf die „Lyrik-des-20.-Jahrhunderts“-Waage.
„Hier können Familien Kaffee kochen“, lockten Berliner Ausflugslokale früherer Zeiten – warum sollen sie nicht heutzutage in Jahrhundertrückblicken abkochen dürfen? Dürfen sie natürlich, so wie ja auch jede neue oder sich zumindest als neu begreifende Generation die sie betreffenden Moden und Manien dergestalt auf den Punkt bringen darf, daß alle bisherigen Strebungen aller vorangegangenen Generationen daran gemessen werden, ob sie auf den je eigenen Standort hinauslaufen – gut! – oder ihn verfehlen: Ab in den Papierkorb der Historie!
Klappern gehört zum Handwerk – erst wenn dieses Klappern zur trommelnden Selbstfeier ausartet – „Als wir in den frühen 80er Jahren die bundesdeutsche Lyrik wieder aufbauten – es war ja nichts da“ –, erst dann ist der Lyrikwart aufgefordert, mahnend den Finger zu heben. Womit wir bei Thomas Kling wären.
Der nämlich hat nicht nur drei Gedichte, sondern auch einen Aufsatz beigesteuert, „Zu den deutschsprachigen Avantgarden“, in welchem er in jeder Beziehung mächtig weit und breit ausholt: „Seit Catull street talk als angemessenes Instrument erkannte, um das Gedicht städtisch zu machen… das Paris Baudelaires… Slangverwender Arno Holz… T.S. Eliot sagt… Sprache des sprachenvereinigenden (Jahrmarkt)-Platzes… Werbe-jingles… populär speech… Anton Kuh, berühmte Fachkraft für spoken word… Gegen die trostlose Lesung ist eine jüngere Dichtergeneration angetreten… Die Lesung, auch als Austausch zwischen Musik und Poesie begriffen, wie er seit Anfang der achtziger Jahre durch Auftritt-Teams stattfindet: Köllges/Kling machten für den Köln-Düsseldorfer Raum 1983 den Anfang“ – welch gewaltiger Bogen vom Anglolateiner Catull zum Auftrittsavantgardisten Kling, welch luftige, Jahrtausende überspannende Konstruktion! Oder sollte ich sagen: windige?
Wo bleibt Peter Rühmkorf, wo Arno Schmidt?
Sagen wir es so: Je länger ich mich auf Klings 14seitiger Brücke bewegte, inmitten all der erlauchten Vorgänger und Vorbilder aus weit entfernten Zeiten und Regionen, desto verwunderter registrierte ich das Fehlen zweier Figuren, die im Hier und Jetzt des Nachkriegsdeutschlands Prosa und Poesie durch street talk und populär speech bereichert hatten, als man die noch Gassen-, wenn nicht Gossensprache und Umgangs- beziehungsweise Alltagsdeutsch nannte: Arno Schmidt und – vor allem – Peter Rühmkorf.
Über beide schweigt sich Kling derart dröhnend aus, daß selbst beim langmütigen Leser verärgerter Widerspruch laut wird: Was soll diese verbissene Originalitätsmeierei?
Wer hat denn schon in den frühen sechziger Jahren den literarischen Volksmund-Untergrund durchfischt und seinen Fang in seiner streettalk-Anthologie Über das Volksvermögen präsentiert? Wer hat bereits 1966 im Hamburger Raum mit den Musikern Michael Naura und Wolfgang Schlüter für den Austausch von Musik und Poesie gesorgt, beispielsweise während der legendären Lesung „Lyrik auf dem Markt“, vom Lastwagen aus und vor 3.000 Zuhörern? Wer kann zum „Zauberwort“ „Intertextualität“ anmerken, er habe sich „mit solchen Sphären- und epochenübergreifenden Vermischungsphänomenen schon seit Jahrzehnten beschäftigt“, wer darf von sich behaupten, er habe sein „gesamtes literarisches Leben lang immer gern auch Bezug auf die Sphäre des Marktes und der Werbung genommen“? Die Antwort lautet natürlich in allen Fällen: „Peter Rühmkorf“, von dem – sofern er wirklich noch nichts von ihm gelernt haben sollte – Kling lernen könnte, wie entspannt und ehrlich das heikle, zur Verstellung wie Täuschung verlockende Thema der Lehrer und Meister abgehandelt werden kann.
Im Rechenschaftsbericht Wo ich gelernt habe, erschienen in der Reihe der Göttinger Sudelblätter, ist nicht nur nachzulesen, welche erlauchten Fackeln toter und lebender Dichter der junge Rühmkorf aufgegriffen und weitergetragen hat – von Gryphius bis Benn und Brecht –, sondern auch, welche Irrlichter ihn einstmals vom rechten Wege abzubringen suchten, vom Scherzdichter Viktor von Scheffel bis zum Nazibarden Heinrich Anacker. Welch wildwüchsiges Gewusel rund um Rühmkorf. Wie plan dagegen Klings Prominentenparade! Die beiden Dichter trennt ein Abgrund von 30 Jahren. Sollte es lediglich eine Frage der Zeit sein, bis auch der Jüngere reif ist für eine vergleichbar uneitle Herkunftsbeschreibung?

Robert Gernhardt, Die Zeit, 10.2.2000

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Robert Gernhardt: Dürfen die das?
literaturkritik.de, April 2000

 

Zeitschriftenlese

Es gehört wohl zu den stärksten Passionen junger, selbstbewusster Zeitschriftenmacher, die jeweils amtierenden Literaturpäpste zu grimmigen Bannflüchen zu reizen. Auch im Falle von Heinz Ludwig Arnold, dem Erfinder der Zeitschrift Text + Kritik, kam es zu Verwerfungen, als der junge Germanistikstudent im November 1962 den großen Friedrich Sieburg, seines Zeichens Chefkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, um ein existenzsicherndes Inserat für seine neue Zeitschrift anging. „Sie scheinen nachgerade an einem hoffnungslos gewordenen Qualitätsbegriff festhalten zu wollen“, so komplimentierte Sieburg artig den jungen Editor, um anschließend die Peitsche zu zücken: „Sie nennen für die erste Nummer drei Namen, die mir alle drei gleich widerwärtig sind, nämlich Günter Grass, Hans-Henny Jahnn und Heinrich Böll. Das ist… eine trübe Gesellschaft, dem deutschen Waschküchentalent entstiegen und gegen alles gerade Gewachsene feindselig gesinnt.“ Zwei Jahrzehnte später, so behauptet die Legende, war es Sieburgs Nachfolger Marcel Reich-Ranicki, der mit derben Beschimpfungen der „Schweine-Bande“ um „Arnold-Dittberner-Kinder“ nicht geizte.
Der so Attackierte ließ sich nicht einschüchtern. Der damals 22-jährige Arnold setzte in seinen ersten beiden Heften unverdrossen auf seine Hausgötter Grass und Jahnn – und es gelang ihm scheinbar mühelos das, was bei Rainer Maria Gerhardt, dem heute vergessenen Literaturgenie der Nachkriegszeit, noch in astronomisch hohen Schulden und einem tragischen Freitod geendet hatte. Unter dem ursprünglich von Arnold gewünschten Zeitschriftentitel fragmente hatte Gerhardt schon 1951/52 in seinem großartigen literarischen Journal dem restaurativen Nachkriegsdeutschland die Leviten gelesen, war aber an notorischem Geldmangel und ästhetischer Kompromisslosigkeit schon früh gescheitert.
Heinz Ludwig Arnold und seine frühen Mitstreiter Gerd Hemmerich, Lothar Baier und Joachim Schweikart hatten mit Text + Kritik mehr Glück. Das Konzept, sich in kritischen Aufsätzen immer nur einem wichtigen Gegenwartautor zu widmen, schien zunächst nur auf ein germanistisches Fachpublikum zu zielen. Nachdem er aber auf listige Weise beim Chefmanager von HAPAG-Lloyd eine Spende von 1000 DM rekrutiert hatte, begann Arnold mit seinem neuen Literaturblatt von Göttingen aus die literarische Welt zu erobern. Das Debütheft über Günter Grass, ein 32 Seiten-Heftchen, ist noch heute, in stark erweiterter und aktualisierter Fassung, zu haben. Für den Eröffnungsbeitrag, eine „Verteidigung der Blechtrommel“, hatte Arnold den Brüsseler Germanisten Henri Plard gewinnen können, den er während seiner literarischen Lehrjahre als Sekretär Ernst Jüngers kennen gelernt hatte. Auf sein literarisches Adjutantentum bei Ernst Jünger, das von 1961 bis 1963 währte, blickte Arnold später mit einigem Ingrimm zurück, zuletzt in seinem Text + Kritik-Heft zu Jünger, das die schärfste Kritik am Anarchen aus Wilflingen enthält, die jemals aus literaturwissenschaftlicher Perspektive geübt wurde.
Die Lust an der literaturkritischen Auseinandersetzung zeichnet ja nicht nur das Jünger-Heft, sondern viele andere Projekte der edition text + kritik aus, die 1969 im juristischen Fachverlag Richard Boorberg ein festes verlegerisches Fundament gefunden hatte und dort ab 1975 als selbständiger Verlag agieren konnte. Text + Kritik war nie ein Forum für urteilsschwache Germanisten, die jede interpretative Wendung mit einem Überangebot an Fußnoten absichern, sondern ist bis heute die bevorzugte Schaubühne für philologische Feuerköpfe, die cum ira et studio für oder gegen einen Autor und sein Werk eintreten. So muss jeder Autor, dem die Ehre zukommt, in einem Text + Kritik-Heft analysiert und seziert zu werden, mit kritischen Dekonstruktionen des eigenen Werks rechnen.
Mittlerweile hat die öffentliche Aufmerksamkeit nachgelassen, aber die angriffslustige Essayistik ist auch nach insgesamt 157 Heften das Markenzeichen von Text + Kritik geblieben. In Neuauflagen und Aktualisierungen wurden veraltete Urteile revidiert, beim Wechsel der Denkschulen und Interpretationsmethoden aber auch so mancher Purzelbaum geschlagen. In der 5. Auflage des Ingeborg Bachmann-Heft exponierte sich z.B. eine schrille feministische Literaturwissenschaft, der Sonderband Nr. 100 über „Literaturkritik“ publizierte massive Attacken auf Marcel Reich-Ranicki. Einem euphorischen Sonderheft über „die andere Sprache“ der „Prenzlauer-Berg-Connection“ folgte mit der Nummer 120 alsbald die Selbstkorrektur im desillusionierten Blick auf den Zusammenhang von „Literatur und Staatssicherheitsdienst“. Die subtilsten, stilistisch funkelndsten Schriftsteller-Entzauberungen haben in den letzten Jahren Hermann Korte und Hugo Dittberner verfasst. Über Sarah Kirsch, in der Nummer 101, findet man z.B. die wunderbare Sentenz, die Dichterin schreibe „Gedichte, die durch forcierte intellektuelle Unterbeanspruchung langweilen“. Diesen Königsweg literaturkritischer Unruhestiftung will Text + Kritik nicht mehr verlassen.

Michael Braun, Saarländischer Rundfunk, April 2003

 

 

Fakten und Vermutungen zu TEXT+KRITIK

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