TEXT+KRITIK: Nelly Sachs – Heft 23

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch TEXT+KRITIK: Nelly Sachs – Heft 23

TEXT+KRITIK-Nelly Sachs – Heft 23

ERDE, PLANETENGREIS

Erde, Planetengreis, du saugst an meinem Fuß,
der fliegen will
o König Lear mit der Einsamkeit im Arme.

Nach innen weinst du mit den Meeresaugen
die Leidenstrümmer
in die Seelenwelt.

Auf deiner Silberlocken Jahrmillionen
den Erdrauchkranz, Wahnsinn gestirnt
im Brandgeruch.

Und deine Kinder,
die schon deinen Todesschatten werfen,
da du dich drrehst und drehst
auf deiner Sternenschnelle,
Milchstraßenbettler
mit dem Wind als Blindenhund

 

 

 

Die fortdauernde Schöpfung

− Über Nelly Sachs. –

Am 16. Mai 1940 flog Nelly Sachs mit ihrer Mutter von Berlin nach Stockholm. Sie floh vor dem nationalsozialistischen Terror, floh aus ihrem Heimatland. Auf dem Flugplatz mußte sie sich einer entwürdigenden Leibesvisitation unterziehen; doch die Befürchtung der Nazis, sie könne Kostbarkeiten oder geheime Dokumente außer Landes schaffen, war unbegründet. Nelly Sachs war schon ausgeplündert, und politisch war sie ahnungslos. Die europäische Katastrophe ging in jenen Tagen ihrem Höhepunkt entgegen: Polen war durchrannt, Dänemark und Norwegen waren besetzt, und Hitlers Armeen stießen durch Belgien und Holland nach Westen vor. Das führende Blatt der Nationalsozialisten, der Völkische Beobachter, breitete über seine ganze erste Seite einen Artikel aus mit dem Titel: „Die Maginotlinie bei Sedan durchbrochen“. Der Kulturartikel des Tages hieß „Krieg ohne Dichter“ und versuchte nachzuweisen, daß die Dichter im gegenwärtigen gerechten Krieg auf Deutschlands Seite stünden.
Das Gegenteil war der Fall. Schon lange zuvor waren Deutschlands Dichter, Künstler und Denker in Scharen geflüchtet. Nelly Sachs, weltabgewandt und wenig praktisch veranlagt, ging im letzten Augenblick, Einzigartige Zufälle – eine Jugendschwärmerei für Selma Lagerlöf und der Beistand einer mutigen Freundin – trugen zum Gelingen ihrer Flucht nach Schweden bei, das Flüchtlingen seit je freundlich gesonnen ist.
Nelly Sachs war damals 48 Jahre alt. Niemand, am wenigsten sie selbst, ahnte damals, daß sie einmal zu den größten Lyrikern dieses Jahrhunderts gehören würde. Im Gegenteil: Sie selbst betrachtete ihr Leben als abgeschlossen; der Mann, den sie liebte, mit dem sie sich nie hatte vereinigen können, war in einem Konzentrationslager ermordet worden.
Wohl behütet war sie in gutsituiertem bürgerlichem Milieu aufgewachsen, sie hatte sich romantischen Vorstellungen hingegeben, für die christlichen Legenden des Mittelalters geschwärmt und vom „blauen Norden der Windrose“ geträumt (um eines ihrer späten Gedichte zu zitieren). Einen Beruf hat sie nicht erlernt; sie war einziges Kind und wohnte im Elternhaus. Ihr Vater war Fabrikant; er hatte weitreichende humanistische Interessen, Goethe und Beethoven galten ihm als Wertmaßstäbe. Als er starb, blieb Nelly Sachs bei ihrer Mutter. Nichts in ihrem Leben schien in die Zukunft zu weisen. Sie trug den Vornamen Leonie, und als sie floh, stand, entsprechend einer nazistischen Verordnung, ihrem Paß auch der Name Sara. Dieser Name wurde allen Jüdinnen aufgezwungen. Ihr Vater war zwar jüdischer Abstammung, aber – wie beinahe alle deutschen Juden – assimiliert.
Als junger Mensch wußte Nelly Sachs wenig über den jüdischen Glauben und die jüdische Kultur. Die deutsche Lebensgemeinschaft war für sie so selbstverständlich wie das Wasser für den Fisch und die Luft für alle, die durch die Lunge atmen. Als die Nazis an die Macht kamen, lebte sie nicht nur in täglicher Furcht davor, gequält und ermordet zu werden. Sie hatte auch nichts, wofür sie leben konnte, denn sie wurde aus einem sinnvollen Lebenszusammenhang herausgerissen. Um ihrer Mutter willen flieht sie. In den ersten zehn Jahren in Schweden widmet sie den größten Teil ihrer Kraft der Pflege ihrer Mutter, die sie um so stärker liebte, als die Anzahl der Toten in der Welt wuchs. Soviel ich weiß, hat kein Dichter alte, schwache, verwirrte Menschen mit soviel liebevoller Einfühlung und Verehrung geschildert wie Nelly Sachs. Es ist die Gabe ihrer Mutter an sie.
Als Nelly Sachs in Schweden ankam, hatten die Massenmorde an den Juden noch kaum begonnen. Aber die Vorzeichen waren deutlich. Am Anfang der vierziger Jahre werden die Vernichtungslager erbaut; und dort stirbt ein ganzes Volk. Der Tod ist gewöhnlich Gast in den von Menschen gebauten Häusern. In den Vernichtungslagern aber, schrieb Nelly Sachs in einem Gedicht, war der Tod Wirt. Sie wurden für den Tod, nicht für das Leben errichtet. Nelly Sachs lebt in den ersten Jahren in Schweden sehr armselig. Sie verdient etwas durch Übersetzungen, beginnt mit der Übertragung moderner schwedischer Lyrik, mit der sie sich noch immer beschäftigt; sie hat unserer schwedischen Literatur damit einen unermeßlichen Dienst erwiesen. Es war eine Zeit des Zerbrechens, des Grauens und auch der Erneuerung für sie. Nelly Sachs ist ein zerbrechlicher Mensch, klein und zart. Bei ihrer Ankunft in Stockholm wurde sie vorerst in einem evakuierten jüdischen Kinderheim untergebracht. Die meisten Kinderbetten reichen aus für sie.
Aber hinter der körperlichen Zerbrechlichkeit verbirgt sich eine geniale Kraft. Früher hatte sie einmal daran gedacht, Lyrikerin zu werden, sie hatte traditionalistische Verse, Legenden und Sagen geschrieben. Dann genügen ihr die niedlichen Formen der Nachromantik nicht mehr. Schon im Deutschland Hitlers hatte Nelly Sachs sich mit dem Judentum bekannt gemacht. Das größte Ereignis in der Geschichte des jüdischen Volkes ist der Auszug aus Ägypten und die lange Wanderung durch die Wüste. Nelly Sachs ist nun selbst Flüchtling, und sie erlebt den Tod des jüdischen Volkes. Diese Katastrophe schmilzt in ihrer Phantasie mit dem Jahrtausende alten schmerzlichen Schicksal der Juden zusammen. Sie läßt sich von der Bibel leiten. Das löst einen großen, freien Ton in ihr.
Die Bibel lehrt sie, im Tod der Juden Universelles und Repräsentatives zugIeich zu sehen. Der Auszug der Juden aus Ägypten stellt sich für alle Völker unseres Kulturkreises als Schlüsselszene dar. Auf eben diese Weise ist das Martyrium der Juden ein Bild für die Qual des Menschen, für das Leiden der gesamten Menschheit. Die ersten beiden Gedichtsammlungen von Nelly Sachs – In den Wohnungen des Todes (1947) und Sternverdunkelung (1949) – sprechen von Massentod und Flüchtlingsschicksal, von einem Leben nahe dem Abgrund. Aber hier werden die Juden nicht vor allem als ethnische Gruppe verstanden.
Die Juden repräsentieren die Leidenden. Sie sind das leidende Volk, und sie sind es stellvertretend für alle Völker, das deutsche wie das jüdische, das russische wie das schwedische.
Nelly Sachs ist, daran müssen wir uns erinnern, eine deutsche Dichterin. Und mit ihr floh auch die deutsche Sprache. Sie war zersprengt und von dem langen nazistischen Lügenprozeß der Vernichtung ausgesetzt. Sie lag in Schutt und Asche wie die deutschen Großstädte nach den Bombenangriffen. Bei Nelly Sachs erhielt die deutsche Sprache Schutz, genas sie, brachte sie frische Triebe hervor, wuchs sie hinein in neue Zusammenhänge. Von dort ist sie heimgekehrt in die deutschsprachige Welt.
Natürlich wird der Name Nelly Sachs immer mit der großen jüdischen Katastrophe verknüpft sein; und natürlich wird Nelly Sachs mit ihren schönen Gedichten über den Traum Israels im neuen Land Israel stets gegenwärtig sein. Aber ihre Gedichte und Dramen sprechen eine Sprache, die der ganzen Menschheit gehört.
Nelly Sachs ist eine religiöse Dichterin. Sie ist durchdrungen von dem Gedanken, daß wir Menschen nicht nur ins Leben geschickt worden sind, um zu genießen, zu leiden und zu sterben. Sie hat von den großen Mystikern gelernt, den jüdischen wie christlichen. Jakob Böhme glaubte sich in das Herz des Universums versetzt. Er sah Gott in allem Geschaffenen, in allen Dingen, selbst in den toten Steinen. Er glaubte an eine verlorene Harmonie, die der Mensch wiedergewinnen könnte, wenn er sich nicht fürchtete, die Angstkammer zu betreten. Die Vision einer solchen Harmonie findet man in Nelly Sachs’ lyrischer Welt.
Ihre Mutter stirbt 1959, und sie ist einsam. Während der vierziger Jahre war sie Zeuge, saß sie in den Todeszellen, sah sie, wie die Kinder in die Gaskammern geführt wurden und wie die Flüchtlinge sich über das Straßenpflaster fremder Städte vorwärtsschleppten. In den fünfziger Jahren nun beginnt für sie eine neue große Schaffensperiode; es entstehen die Gedichtsammlungen Keiner weiß mehr (1957), Flucht und Verwandlung (1959), Noch feiert Tod das Leben (1959), Glühende Rätsel. Nelly Sachs wird kühner in der Bildsprache, sie führt Verkürzungen ein und blitzschnelle Übergänge von Bildebene zu Bildebene. Das blutige Schauspiel liegt hinter ihr, und sie führt ihre Dramen auf der Bühne der Seele auf. Die ist weit, sie umfaßt die ganze Schöpfung mit Sternen und Lichtjahren. Die vom Leiden gezeichnete Erde ist ein König Lear mit einem Kranz aus Erdrauch, wahnsinnsprühend um seine grauen Locken gelegt, ein blinder Bettler in der Milchstraße „mit dem Wind als Leithund“.
Nun schafft sie ihre unvergänglichen Bilder von den Alten und Geistesgestörten. Die Geisteskranken sieht sie als Menschen, die von der Ungeduld erfaßt Sinn, ans Ziel zu gelangen. Bei den Alten sieht sie nicht den Zerfall und das Verwelken, sondern das, was noch sucht, lebt, appelliert. Wenn man das gelesen hat, wird es leichter, die alten Menschen zu verstehen und zu lieben, und weniger schwer, an das eigene Alter zu denken.
Ein anderes großes Thema in Nelly Sachs’ später Lyrik ist das Schöpfungsmysterium. Die Bibel beginnt damit, daß Gott Himmel und Erde erschuf. Die Erde war öd und leer, und Nacht war über der Tiefe. Aus der Nacht steigt das Licht hervor, und das Leben auf der Erde beginnt. Der Schöpfungsaugenblick enthält das unergründliche Geheimnis des Ursprungs vom Leben. Bei Nelly Sachs ist dieser Augenblick beinahe immer gegenwärtig. Die Nacht war einmal, so schreibt sie in einem der Gedichte, die sich an das mystische jüdische Werk Sohar anschließen, ein brüllender Tiger, der sich im Chaos wälzte. Aber die Nacht blutete die Wunde hervor, die der Tag ist. Die Sonne geht ja in blutigem Rot auf. Aus der Angstkammer schlägt der sinngebende Blitz herauf. Nelly Sachs selbst ist tief im Dunklen gewesen. Ihre Dichtung ist eine wunderbare Wiedergeburt aus einem sprachlichen Chaos. Sie sieht den Kampf der gesamten Menschheit um ein größeres Maß an Geist und um innere Einsicht an als den Kampf Jakobs mit dem Engel in der Morgendämmerung. Als die Sonne aufgeht im Blut, ist die Segnung gewonnen, selbst wenn die Hüfte ausgerenkt sein sollte.

Ihre Gedichte sind erneuerte Schöpfungstage, in denen sich das Licht aus dem schwarzen tigerbrüllenden Dunkel emporschlägt mit den Flügeln des Blitzes. Die Gedichte handeln von dem seelischen Schöpfungsprozeß. In ihnen sieht man einen Weg vorwärts – aufwärts. Die Gedichte werden, um eines ihrer eigenen Bilder von Davids Psalmen zu benutzen, „die Herberge auf dem Weg zu Gott“.

Olof Lagercrantz

Die Welt neu herstellen

Wer sich eingehört hat in das auf weite Strecken hin lakonische Sprechen der zeitgenössischen Lyrik, sieht sich in den Dichtungen von Nelly Sachs einer Sichtweise, Vorstellungen gegenüber, die das ,große‘, leidenschaftliche Wort und die zusammenfassende, ebenso bildhafte wie abstrahierende Zeile nicht meiden, sondern fordern. Daß ein Gestirn erlischt und an anderer Stelle wieder entzündet wird; daß Schritte an das Rätsel der Erde klopfen; daß der Tod in sein blutverwirrtes Nest heimkehrt; daß die Träne ihre Sehnsucht verschläft, zu fließen; daß der Schlaf wie Rauch auszieht aus dem Leib; daß die Nacht der Friedhof für den Schiffbruch der Sterne ist; daß der Hahnenschrei vom Mond aufgezogen wird; daß man auf den Feldern das Kraut der Entzweiung pflanzt; daß die Wunde unser Wohnort ist; daß die Propheten den Tierkreis als Blumenkranz ums Haupt gewunden haben; daß Augen tief in den Schädel sinken wie Höhlentauben in die Nacht; daß das Sternbild von Hiobs Blut einmal alle aufgehenden Sonnen erbleichen lassen wird; daß die Brunnen Israels Tagebücher sind; daß die Zeit vom Heimweh des Menschen rauscht; daß eine Mutter mit ihrer Geburt wie mit einer Insel allein ist; daß man den Tod mit einer Leiter aus Heimweh übersteigt – das sind Funde, die aus einer besonderen Radikalität des Denkens und Sehens kommen, aus einem Schmerz, der in jedem Wort nah bleibt. Selbst in Gedichten, in denen Nelly Sachs ein vergleichsweise einfaches Motiv wählt, öffnet sich sofort ein Bereich, der sich der treuherzigen Beschreibung verweigert. Ein Beispiel dafür wäre das Gedicht „Schmetterling“, in dem von den „Gewichten von Leben und Tod“ die Rede ist. Je tiefer Nelly Sachs in ihre Sprache eindringt, desto mehr wird ihre Dichtung zu einer Erprobung der Möglichkeit irdischer Existenz. Leben und Tod, Hier und Dort, treten immer deutlicher, von Buch zu Buch, als die entscheidenden, die Meditation und die Bilder weiterführenden Begriffe hervor (berühmte Verse, die in diesen Zusammenhang gehören: „Du / in der Nacht / mit dem Verlernen der Welt Beschäftigte / … Brücken-Bausteine / von Hier nach Dort / diese haargenaue Aufgabe / deren Lösung / den Sterbenden mitgegeben wird“) – bis hin zu dem im Sommer 1966 entstandenen, siebenteiligen Zyklus „Die Suchende“, der zu Nelly Sachs’ fünfundsiebzigsten Geburtstag erschien. In ihm zieht sie eine Summe; in ihm

geht die Leidbesessene
auf dem magischen Dreieck des Suchens
wo Feuer auseinandergepflückt wird
und Wasser zum Ertrinken gereicht −

Besessen von Leid ist die Frau, die in diesen Zeilen spricht, auf der Suche nach dem Geliebten („Liebende sterben einander zu / durchädern die Luft“). Sie nimmt wahr, daß in der Sonnenfinsternis das Grün zu Asche verdammt ist, daß die Vögel in Angst ersticken, weil sich das Ungewisse nähert. Sie sieht:

Hinterrücks aus Nacht geschnitten
schleift der Lichttod
des Suchens Geschichte in den Sand

Das Suchen erscheint plötzlich als etwas von der Person Gelöstes, Allgemeines, Anonymes, das über den Einzelnen hinausgreift, eine Geschichte hat; als etwas, das sich bildete aus dem Suchen unzählbar vieler Menschen und zur Essenz des Daseins geworden ist.
Das „Sternbild des Geliebten“ ist „vom Henker ausgeblasen“. In Nelly Sachs’ erstem Gedichtband, den Wohnungen des Todes, in dem sie als „Grabschriften in die Luft geschrieben“ – Erinnerungen an die im Konzentrationslager umgekommenen Gefangenen gibt (Erinnerungen an die Markthändlerin, den Spinozaforscher, den Hausierer, die Tänzerin, den Narren, die Malerin, den Steinsammler, den Ruhelosen, den Marionettenspieler) und in dem die „Gebete für den Toten Bräutigam“ stehen, findet sich die Strophe:

Die Kerze, die ich für dich angezündet habe,
spricht mit der Luft der Flammensprache Beben,
Und Wasser tropft vom Auge; aus dem Grabe,
Dein Staub vernehmlich ruft zum ew’gen Leben.

Jetzt, in der „Suchenden“, ist nicht nur der zu Staub gewordene Mensch, sondern selbst dessen „Sternbild“ vom Henker „gelöscht“.

Sie sucht sie sucht
brennt die Luft mit Schmerz an
die Wände der Wüste wissen von Liebe
die jung in den Abend steigt
diese Vorfeier auf den Tod −

sie sucht den Geliebten
findet ihn nicht
muß die Welt neu herstellen

Muß die Welt neu herstellen – eine der stärksten, aus dem Entsetzen über den Verlust kommenden Zeilen des Zyklus. Die Welt noch einmal entwerfen und verwirklichen, in der Imagination, im Wort, in der Sehnsucht, im Bewußtsein der Grenze von „Hier nach Dort“.

Walter Helmut Fritz

 

Inhalt

− Olof Lagercrantz: Die fortdauernde Schöpfung. Über Nelly Sachs

− Nelly Sachs: Gedichte: Unbekannt; Die Suchende

− Walter Helmut Fritz: Die Welt neu herstellen

− Nelly Sachs: Gedichte: Wenn die Propheten einbrächen; Chor der Sterne; Völker der Erde; Erde, Planetengreis

− Wolfgang Grothe: Astralmotive im Universum der Nelly Sachs

− Gisela Dischner: Die Lyrik der Nelly Sachs und ihr Bezug zur Bibel, zur Kabbala und zum Chassidismus

− Hilde Domin: Zusätzliche Information zu Leben und Werk von Nelly Sachs

− Paul Kersten: Analyse und Heiligsprechung. Nelly Sachs und ihre Kritiker

− Nachschrift 1978

− Vita Nelly Sachs

− Paul Kersten: Auswahlbibliographie

− Notizen

 

Zeitschriftenlese

Es gehört wohl zu den stärksten Passionen junger, selbstbewusster Zeitschriftenmacher, die jeweils amtierenden Literaturpäpste zu grimmigen Bannflüchen zu reizen. Auch im Falle von Heinz Ludwig Arnold, dem Erfinder der Zeitschrift Text + Kritik, kam es zu Verwerfungen, als der junge Germanistikstudent im November 1962 den großen Friedrich Sieburg, seines Zeichens Chefkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, um ein existenzsicherndes Inserat für seine neue Zeitschrift anging. „Sie scheinen nachgerade an einem hoffnungslos gewordenen Qualitätsbegriff festhalten zu wollen“, so komplimentierte Sieburg artig den jungen Editor, um anschließend die Peitsche zu zücken: „Sie nennen für die erste Nummer drei Namen, die mir alle drei gleich widerwärtig sind, nämlich Günter Grass, Hans-Henny Jahnn und Heinrich Böll. Das ist … eine trübe Gesellschaft, dem deutschen Waschküchentalent entstiegen und gegen alles gerade Gewachsene feindselig gesinnt.“ Zwei Jahrzehnte später, so behauptet die Legende, war es Sieburgs Nachfolger Marcel Reich-Ranicki, der mit derben Beschimpfungen der „Schweine-Bande“ um „Arnold-Dittberner-Kinder“ nicht geizte.
Der so Attackierte ließ sich nicht einschüchtern. Der damals 22-jährige Arnold setzte in seinen ersten beiden Heften unverdrossen auf seine Hausgötter Grass und Jahnn – und es gelang ihm scheinbar mühelos das, was bei Rainer Maria Gerhardt, dem heute vergessenen Literaturgenie der Nachkriegszeit, noch in astronomisch hohen Schulden und einem tragischen Freitod geendet hatte. Unter dem ursprünglich von Arnold gewünschten Zeitschriftentitel fragmente hatte Gerhardt schon 1951/52 in seinem großartigen literarischen Journal dem restaurativen Nachkriegsdeutschland die Leviten gelesen, war aber an notorischem Geldmangel und ästhetischer Kompromisslosigkeit schon früh gescheitert.
Heinz Ludwig Arnold und seine frühen Mitstreiter Gerd Hemmerich, Lothar Baier und Joachim Schweikart hatten mit Text + Kritik mehr Glück. Das Konzept, sich in kritischen Aufsätzen immer nur einem wichtigen Gegenwartautor zu widmen, schien zunächst nur auf ein germanistisches Fachpublikum zu zielen. Nachdem er aber auf listige Weise beim Chefmanager von HAPAG-Lloyd eine Spende von 1000 DM rekrutiert hatte, begann Arnold mit seinem neuen Literaturblatt von Göttingen aus die literarische Welt zu erobern. Das Debütheft über Günter Grass, ein 32 Seiten-Heftchen, ist noch heute, in stark erweiterter und aktualisierter Fassung, zu haben. Für den Eröffnungsbeitrag, eine „Verteidigung der Blechtrommel“, hatte Arnold den Brüsseler Germanisten Henri Plard gewinnen können, den er während seiner literarischen Lehrjahre als Sekretär Ernst Jüngers kennen gelernt hatte. Auf sein literarisches Adjutantentum bei Ernst Jünger, das von 1961 bis 1963 währte, blickte Arnold später mit einigem Ingrimm zurück, zuletzt in seinem Text + Kritik-Heft zu Jünger, das die schärfste Kritik am Anarchen aus Wilflingen enthält, die jemals aus literaturwissenschaftlicher Perspektive geübt wurde.
Die Lust an der literaturkritischen Auseinandersetzung zeichnet ja nicht nur das Jünger-Heft, sondern viele andere Projekte der edition text + kritik aus, die 1969 im juristischen Fachverlag Richard Boorberg ein festes verlegerisches Fundament gefunden hatte und dort ab 1975 als selbständiger Verlag agieren konnte. Text + Kritik war nie ein Forum für urteilsschwache Germanisten, die jede interpretative Wendung mit einem Überangebot an Fußnoten absichern, sondern ist bis heute die bevorzugte Schaubühne für philologische Feuerköpfe, die cum ira et studio für oder gegen einen Autor und sein Werk eintreten. So muss jeder Autor, dem die Ehre zukommt, in einem Text + Kritik-Heft analysiert und seziert zu werden, mit kritischen Dekonstruktionen des eigenen Werks rechnen.
Mittlerweile hat die öffentliche Aufmerksamkeit nachgelassen, aber die angriffslustige Essayistik ist auch nach insgesamt 157 Heften das Markenzeichen von Text + Kritik geblieben. In Neuauflagen und Aktualisierungen wurden veraltete Urteile revidiert, beim Wechsel der Denkschulen und Interpretationsmethoden aber auch so mancher Purzelbaum geschlagen. In der 5. Auflage des Ingeborg Bachmann-Heft exponierte sich z.B. eine schrille feministische Literaturwissenschaft, der Sonderband Nr. 100 über „Literaturkritik“ publizierte massive Attacken auf Marcel Reich-Ranicki. Einem euphorischen Sonderheft über „die andere Sprache“ der „Prenzlauer-Berg-Connection“ folgte mit der Nummer 120 alsbald die Selbstkorrektur im desillusionierten Blick auf den Zusammenhang von „Literatur und Staatssicherheitsdienst“. Die subtilsten, stilistisch funkelndsten Schriftsteller-Entzauberungen haben in den letzten Jahren Hermann Korte und Hugo Dittberner verfasst. Über Sarah Kirsch, in der Nummer 101, findet man z.B. die wunderbare Sentenz, die Dichterin schreibe „Gedichte, die durch forcierte intellektuelle Unterbeanspruchung langweilen“. Diesen Königsweg literaturkritischer Unruhestiftung will Text + Kritik nicht mehr verlassen.

Michael Braun, Saarländischer Rundfunk, April 2003

 

Fakten und Vermutungen zu TEXT+KRITIK

 

Jürgen P. Wallmann: Deutsche Lyrik unter jüdischem Dreigestirn, Merkur, Heft 225, Dezember 1966

Peter Hamm: Besuch bei Nelly Sachs, einer „Schwester Kafkas“

Arne Grafe: „Der Tod war mein Lehrmeister“ Begegnung mit Nelly Sachs – Ein Gespräch mit Gisela Dischner

„Ich habe mich den Gedichten geöffnet, ihren Stimmen und auch ihrem Schweigen“ – Gespräch mit Christine Rospert

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Nelly Sachs

 

 

Zum 75. Geburtstag der Autorin:

Eberhard Haufe: Weltdichtung aus jüdischem Geist
Thüringer Tageblatt, 10.12.1966

Zum 30. Todestag der Autorin:

Hubert Gaisbauer: Der Himmel übt an dir Zerbrechen
Die Furche, 11.5.2000

Zum 125. Geburtstag der Autorin:

Christiana Puschak: Dichterin der leisen Töne
junge Welt, 9.12.2016

Eva Pfister: Lyrikerin und Symbolfigur der deutsch-jüdischen Versöhnung
Deutschlandfunk, 10.12.2016

 

Zum 50. Todestag der Autorin:

Wolf Scheller: Dichterin Nelly Sachs: Mit der Mutter auf der Flucht
Der Standart, 11.5.2020

Marie Schmidt: Vor uns in der blauen Luft
Süddeutsche Zeitung, 11.5.2020

Dina Mastai: „Wir sind die Ränder einer Wunde“
Jüdische Allgemeine, 17.5.2020

Zum 130. Geburtstag der Autorin:

Monika Buschey: Der Geburtstag der Dichterin Nelly Sachs
SR, 10.12.2021

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Friedenspreis +
Archiv + Internet Archive + Kalliope + KLGIMDb + UeLEX
Porträtgalerie: Keystone-SDA
Nachruf auf Nelly Sachs: TAT

 

Nelly Sachs – Ausstellung „Flucht und Veränderung“.

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