Theo Buck: Zu Gottfried Benns Gedicht „Einsamer nie –“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Gottfried Benns Gedicht „Einsamer nie –“ aus dem Gedichtband Gottfried Benn: Sämtliche Werke. −

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Einsamer nie −

Einsamer nie als im August:
Erfüllungsstunde – im Gelände
die roten und die goldenen Brände
doch wo ist deiner Gärten Lust?

Die Seen hell, der Himmel weich,
die Äcker rein und glänzen leise,
doch wo sind Sieg und Siegsbeweise
aus dem von dir vertretenen Reich?

Wo alles sich durch Glück beweist
und tauscht den Blick und tauscht die Ringe
im Weingeruch, im Rausch der Dinge −:
dienst du dem Gegenglück, dem Geist.

 

 

Auf einer an den vertrauten Ansprechpartner Friedrich Wilhelm Oelze gerichteten Briefkarte mit dem Poststempel vom 4. September 1936 übermittelte der damals in Hannover lebende Gottfried Benn seinem Adressaten mit guten Sonntagswünschen den Text eines der wenigen dort entstandenen Gedichte.
Ein erster Abdruck des Textes erfolgte wenige Monate danach, im Dezember 1936, in der unter politischem Druck veränderten Ausgabe einer in der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart erschienenen Sammlung Ausgewählter Gedichte. Das schmale Buch fand keinerlei Widerhall in der damaligen Öffentlichkeit. Überraschenderweise gab es aber jenseits der Grenzen wenigstens ein Beispiel zustimmender Aufnahme, wie sie im Deutschland der Nazidiktatur nicht zustande kam. Klaus Mann war und blieb, auch im Exil, trotz der widerwärtigen Polemik Benns gegen die Emigranten, ein begeisterter Leser der Verse des von ihm bis 1933 verehrten Dichters. Der Text „Einsamer nie –“ faszinierte ihn besonders. Er lernte ihn bereits im Januar 1937 bei einem Aufenthalt in Paris kennen und hielt die dritte Strophe als Eintragung im Juli 1937 wie dann die des Schlussverses im September 1940 im Tagebuch fest. Noch in seiner biografischen Skizze Der Wendepunkt legte Klaus Mann – unter Hinweis auf den ersten Vers des Gedichts – Wert auf die Feststellung: „Die Zeile von Gottfried Benn will mir – trotz allem – nicht aus dem Sinn.“ Mit gutem Grund stellte darum der Herausgeber der „Klaus-Mann-Schriftenreihe“ dessen Lebensabschnitt vom Juli bis September 1941 unter die Überschrift: „Einsamer nie als im August“.

Erste Resonanz fand das Gedicht dann im Rahmen der nach dem Krieg – 1948 in der Schweiz und im Jahr darauf in Deutschland – publizierten Sammlung der Statischen Gedichte. Die ,Benn-Welle‘ der 1950er Jahre machte nicht zuletzt diesen Text weithin bekannt. Zurecht wurde er als Schlüsselgedicht für das Weltbild des Dichters verstanden.
Aufschlus zur genauen Datierung des Gedichts gibt ein Brief Benns an Astrid Claes aus dem Jahr 1954. Dort heißt es unter anderem: „,Einsamer nie‘ – auf einem Hügelgasthof auf einem der kleinen Höhenzüge bei Hannover (…), hingefahren mit Autobus, wie ich das damals immer tat. Nachmittag, Ernteende. Bei mir eine Dame aus Paris (…). Ende August 1936“. Ersichtlich ist demnach das Gedicht, wie oft bei Benn, direkter Ausfluss gelebter Erfahrung. Allerdings kommen bei diesem Mann, der sein Leben „im Überfall von Trauerstunden“ ansiedelte, stets noch andere, geistige Impulse hinzu. Ohnehin geht die ästhetische Transformation allemal weit über den persönlichen Erfahrungsrahmen hinaus, so dass eine ,biografistische‘ Lektüre sich, streng genommen, erübrigt. Dennoch ist es interessant zu verfolgen, in wie starkem Maße die spannungsvollen Lebensumstände und Denkweisen Benns zum damaligen Zeitpunkt sich im Gedicht widerspiegeln.
Der gerade 50-Jährige machte in jenem Jahr die wohl schlimmste Phase seines Lebens durch. Er, der 1933 in tiefer Verblendung vorübergehend an eine Annäherung von Geist und Macht geglaubt hatte; musste rasch erkennen, dass er mit seinem abwegigen „Züchtungs“-Ideal und den verhängnisvollen Thesen von „Erbmasse und Führertum“ in Wahrheit den Geist verriet. Bereits 1934 kam er zu der Einsicht: „Ein deutscher Traum – wieder einmal zu Ende“. Im Übrigen machten die Nationalsozialisten Benn nachhaltig klar, wie sehr er sich in ihnen getäuscht hatte. Mit immer neuen Schikanen zeigten sie dem Verfasser der Morgue-Gedichte, dass sie mit seiner Kunst nichts zu tun haben wollten. Schon 1934 versuchte der Balladenschreiber Börries Freiherr von Münchhausen, ihn als „reinblütigen Juden“ unmöglich zu machen. Im Mai 1936 wurde Benn im Schwarzen Korps, der Wochenzeitung der SS, und im Völkischen Beobachter, dem offiziellen Organ des Regimes, den als ,entartet‘ eingestuften Künstlern zugerechnet und kurzerhand als „Ferkel und Pornograph“ apostrophiert. Völlig weltfremd – und in heutiger Sicht nicht frei von Zynismus – bezeichnete Benn seine damit zusammenhängende Rückkehr in die Reichswehr als „die aristokratische Form der Emigrierung“. Insgeheim war ihm freilich der wahre innere Grund für diesen Schritt bewusst: „die Scham ist zu den Hunden geflohn“. Immerhin bewahrte ihn das Tragen der Uniform eines Oberstabsarztes, das er zutreffend als die „große Vergewaltigung (s)eines Lebens“ bezeichnete, vor schlimmeren Sanktionen durch die Nazi-Partei. Jedoch war seit jenem Zeitpunkt seine Wirksamkeit als Autor für die Dauer des „Dritten Reiches“ so gut wie ganz unterbrochen. Das vom so genannten ,Stellvertreter des Führers‘, Rudolf Heß, geleitete „Überwachungsamt für nationalsozialistische Weltanschauung“ ließ Benn über seinen Verlag wissen, welche Gedichte aus der im März 1936 veröffentlichten Sammlung entfernt werden müssten, damit das Buch in einer ,gereinigten‘ Ausgabe „ohne jede Propaganda weiter vertrieben“ werden dürfe. Dementsprechend gering fiel natürlich die ,Wirkung‘ aus. Die Maßnahmen der Nazidiktatur ließen dem Dichter keinerlei Spielraum. Im März 1938 erfolgte – „im Einvernehmen mit dem Herrn Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda“ der Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer. Zugleich wurde das offizielle Schreibverbot ausgesprochen.
Nach alledem dürfte einleuchten, warum der Dichter zu der bitteren Feststellung kam: „Die finsterste Epoche meines Lebens. (…) Ich habe das Leben satt, da ich keine äußere Form mehr finde, in der ich es leben u. führen mag.“ Zustimmend griff er in jenen Tagen den Satz Balzacs auf: „Wer Dichtung sagt, sagt Leid.“ In vollem Umfang kam das Aperçu des Franzosen seinem tragischen Selbstverständnis entgegen. Zog er doch aus der Erfahrung tiefen Leidens an der Individuation die schmerzliche und zugleich als „Gegenglück“ empfundene Folgerung: „Es gibt nur den betrachtenden und leidenden Geist. (…) Der Geist wird seine Stellung erst haben, wenn das Leben ihn begehrt, ihn zu sich zu holen sucht.“
Damit sind wir beim Grundthema des Gedichts „Einsamer nie –“, beim Dualismus von Leben und Kunst: Die poetische Kreation bündelt in gewisser Weise die erwähnten Erfahrungen existenzieller Verdüsterung. Zweifellos nährte sich daraus die Überzeugung Benns, wie er sie in dem bald danach entstandenen Prosatext „Weinhaus Wolf“ formulierte: „Auf Abgrenzung sollte der Versuch (gemeint ist der Versuch, in den Besitz von Erkenntnis zu gelangen; Anm. d. Verf.) weisen. (…) Nicht das Leben durch Erkenntnisreize biologisch steigern (…), sondern gegen das Leben ansetzen den formenden und formelhaften Geist. Es handelt sich (…) um Haltung in einer nur noch abstrakt erlebbaren, finalen Gegenwart.“
Lange schon standen Kunst und Wirklichkeit für den jeglichem Harmonisieren abholden Autor in schroffem Gegensatz zueinander. Er fühlte sich dabei in Einklang mit Nietzsches „großem Gedanken, daß die Welt nur als ästhetisches Phänomen zu deuten und zu ertragen sei“. Unter dem Druck der beschriebenen Verhältnisse wurde die ästhetische Rechtfertigung des Lebens zu Benns definitiver Antwort auf die als sinnlos erfahrene Geschichte. Für die prekäre Existenz zwischen Leben und Geist fand er die angemessene Bezeichnung: „Doppelleben“. Er definiert es als ein „bewußtes Aufspalten der Persönlichkeit.“ Deshalb konnte er von sich sagen:

(…) ich gehe das Leben an und vollende ein Gedicht. Alles, was sonst das Leben betrifft, ist fragwürdig und unbestimmt.

Zweifellos steckt dahinter die Ablehnung menschlicher Gleichheit, auch eine nicht zu übersehende Selbstaffirmation, aber ebenso die prinzipielle Überzeugung „existentieller Tragik“, wie dann vor allem ein trotziges Wissen um die Aufgabe, „die Stunde dieser geistigen Welt, solange sie dauert, weiter mit unseren menschlichen Bildern zu erfüllen, so trauerüberladen, so untergangssicher, so monologisch oder so hybrid sie sind“. Entsagung und Erfüllung fallen hier zusammen. Darum das unbeirrbare Bekenntnis zur „Ausdruckswelt“ als der einzigen „Vermittlung zwischen dem Rationalismus und dem Nichts“. Darum aber gleichfalls die bittere Gewissheit:

In mir sind Spannungen, kein Glück.

Im Gedicht „Einsamer nie –“ begegnen wir der prekären Gedankenwelt Benns in konzentrierter Form: schmerzlich empfundener Dualismus prägt die antithetische Struktur der drei Strophen vom Anfang bis zum Ende. Pole des bennschen Existenzmodells sind Natur und Geist. Unversöhnlich stehen sie sich gegenüber. Gleich die Überschrift schneidet die Erkenntnis des Ausgeschlossenseins schockierend scharf heraus: „Einsamer nie –“. Mit den zwei Worten einer bewusst unausgeführten, abgebrochenen Aussage als Titel ist die Erkenntnis schmerzlich gewollter Isolation angesprochen. Der so bekundete Verzicht auf die Routine zwischenmenschlichen Verkehrs wie überhaupt auf Teilhabe am allgemeinen Lebensprozess verweigert sich einer der Quantität nach vorherrschenden Schein-,Normalität‘ landläufiger „Menschverzerrungen“. Soziales Abseits demzufolge als Weg der Selbsterziehung und Selbstbefreiung des Künstlers. Es ist die gewollte und notwendige Einsamkeit des Genies. Aber dennoch steht da: „Einsamer nie –“. Der Komperativ deutet auf die unstillbare Sehnsucht dessen, der Synthesen verwirft, jedoch mit allen Sinnen im Leben steht oder – wie Benn 1946 reflektierte – ein „Auge“ hat, das „hungert, tief aus dem Gehirn heraus, nach Farben, reinen u. vermischten (…) nach koloristischer Verdrängung der tiefen seelischen Monotonie in der wir leben“. Die Hinzunahme der adverbialen Bestimmung „nie“ unterstreicht den hohen Grad der konstatierten Einsamkeit. Sie ist „im August“, dem Höhepunkt des Sommers, größer als zu jedem anderen Zeitpunkt. Demzufolge geht es um eine der für Benn bitteren Augenblickserfahrung abgelesene, existenziell wichtige Entscheidung in der Spannung von Leben und Geist. Zunächst einmal, einfach thesenartig in den Raum gestellt, drängt die offen gehaltene Überschrift auf Klärung der konstatierten Situation radikaler Einsamkeit des Dichters zwischen Verschattung und Kreativität. … Der Gedankenstrich ist hier ein stilistisches Sonderzeichen für eine vom Autor empfohlene Denkpause. Er signalisiert ein notwendiges Klärungsbedürfnis und macht so den Gedankenstrich zu einem kurz innehaltenden geistigen Bindestrich. Funktional stellt er für den Leser die auf Konzentration dringende Verbindung zum Textensemble des Gedichts her. Seiner Reflexion werden somit die Verse als poetologische Verlautbarung anempfohlen.
Die Versgestaltung in gereimten jambischen Vierhebern dient dem Zweck, den antipodischen Grundgestus des Gedichts die drei Vierzeiler hinweg formal adäquat umzusetzen. Insbesondere stützt die verschränkte Reimfolge (abba) die Klangbewegung der Strophen. Genau folgt sie dem Gedankengang des Textes. ,Umarmend‘ ist die klammernde stumpfe Kadenz jeweils um das klingende reimende Verspaar in der Strophenmitte gelegt. Ansonsten sorgt die regelmäßig steigende Taktfüllung für einen strikt gefügten, geschlossenen Vers- und Strophenbau in melodischem Rhythmus. Die mit Fragezeichen endenden beiden Strophen I und II zielen auf einen klärenden Abschluss in der dritten Strophe. Diese finale Ausrichtung lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf den das Ganze tragenden Strukturbefund, dass die Grundspannung der lyrischen Konstruktion im Initialwort („Einsamer“, Vers 1) und im Schlusswort („Geist“, Vers 12) festgeschrieben ist. Diese beiden Leitbegriffe bestimmen den Gang des Gedichts, weil sie den Text einem Spannungsbogen einpassen, der zum Mitdenken förmlich auffordert.
Die Eingangsstrophe bildet den Auftakt der das Gedicht prägenden lyrischen Reflexion. Mit dem ersten Vers wird das erwähnte Signal des ,Bindestrichs‘ der Überschrift aufgenommen, die Aussage des dort begonnenen Komperativsatzes also weitergeführt. Den die gedankliche Bewegung bestimmenden Vergleich stellt die Konjunktion „als“ her. Die temporale und zugleich lokale Präzisierung („im August“) evoziert eine sommerlich vitale Atmosphäre als auslösendes Moment der empfundenen Einsamkeit. Ohne jede Prädikation durch ein Verb deutet sich damit ein extrem leidvoller Seins- und Bewusstseinszustand des hier Sprechenden an. Denn durch den Vergleich erfährt man, wie weit er sich entfernt sieht von den Freuden menschlicher Beglückung durch die Natur und in der Natur. Gestalterisch ist der Vers bis ins Detail durchgeformt. Schwebende Betonung löst das erste Wort absichtsvoll aus dem metrischen Grundmuster des auftaktig-alternierenden Gleichmaßes heraus, zeigt dem aufmerksamen Leser die das Gedicht tragende Bedeutung der Einsamkeit für den Dichter. Der den Vers abschließende Doppelpunkt ist in diesem Fall kein Zeichen der Zusammenfassung, sondern kündigt an, dass im weiteren Text Gründe und Bedingungen der ausgemachten Entfremdung genauer ermittelt und reflektiert werden.
Der zweite Vers hebt an mit einem typischen Benn-Wort: „Erfüllungsstunde“. Es wird in der Folge entscheidendes Gewicht bekommen. Zunächst bringt es das „Sein der hocherglühten Tage“ im „Gelände“ des Sommers zum Ausdruck. Sogleich wird deutlich: Mit Naturlyrik hat Benn nichts im Sinn. Ihm geht es um Gedanken und Empfindungen beim Erleben der Natur. Nicht Hinwendung wird angestrebt, sondern Distanz. Mit fortschreitender Reflexion gewinnt die Vorstellung der „Erfüllungsstunde“ mehr und mehr Bedeutung als Symbol für den schöpferischen Augenblick, der dem Künstler eine andere, geistige Erfüllung bringt. Vorderhand freilich macht die banale „Erfüllungsstunde“ des Umfelds dem Einsamen sein entsagungsvolles Los grausam bewusst. Deswegen bedarf seine Verlautbarung hier einer Denkpause.
Diese Denkpause herzustellen, darin besteht die Funktion des nach der Auftaktsilbe zur dritten Hebung, also auffällig plazierten zweiten Gedankenstrichs. Grell wird hier der Jambenfluss unterbrochen. Danach muss die genaue Bestimmung des hochsommerlichen Ambientes ausführlicher dargelegt werden. Eben das ist der Grund für das Enjambement, das die syntaktische Fügung über die Grenze vom zweiten zum dritten Vers hinüberzieht. Mit Nachdruck wird so die Aufmerksamkeit auf die besondere Intensität von Leben und Natur in der „August“-Landschaft gelenkt. Benn hat dafür eine vielschichtige Metapher gefunden: „die roten und die goldenen Brände“ (Vers 3). Weit mehr ist damit gemeint als bloß roter „Mohn“ und goldener „Weizen“. Bekanntlich ist Rot die Farbe des Lebens, der Liebe und der Freiheit; und im Gold sahen die Menschen eine stärkende und reinigende „Verwandschaft mit der Sonne“. Deutlich spürbar spielen die weiten Dimensionen dieser uralten Farbsymbolik in das bennsche Bild des Sommer-„Geländes“ hinein. Glühendes Leben in seiner ganzen Fülle ist bei seiner pars-pro-toto-Nennung konkreter Merkmale der Naturfärbung darum unbedingt mitzudenken. Nicht ohne Grund spricht der Dichter von „Bränden“. Das heißt nichts anderes, als dass ein von ihm bewusst gewähltes Kollektivum des Plurals die Totalität einer sommerlichen „Erfüllungsstunde“ glühenden Lebens in der Natur symbolisch, also in zeichenhafter Bildgestaltung zum Ausdruck bringt.
Der vierte Vers führt die lyrische Reflexion weiter. Die entgegensetzende Konjunktion „doch“ zeigt die Rückwendung zur Innenperspektive des ersten Verses an. Das lyrische Ich offenbart sich an dieser Stelle, wie dann an allen weiteren Strophenschlüssen, als Instanz der Selbstverständigung und Selbstklärung. Es wird direkt in der zweiten Person des Singulars als Du und somit als Subjekt des Gedichts angesprochen („deiner“). Die dadurch geschaffene kommunikative Situation eröffnet dem Leser unvermittelten Zugang zum Text. Er kann sich direkt angesprochen fühlen.
Bedeutsam ist sodann das von Benn für die jahreszeitliche Landschaftsimpression gewählte Bild der „Gärten“. Sicher ist diese Wortwahl zurückzuführen auf die damit gegebene Möglichkeit, das positiv aufgeladene symbolische Naturbild ebenfalls dem eigenen Bereich zuzuschreiben („deiner Gärten Lust“). Auf der einen Seite ist damit an die der Ordnung der Natur folgenden sommerlichen „Gärten“ gedacht, auf der anderen an das „kulturierte“, ästhetisch überformte Bild der Natur im individuell gestalteten „Garten“ des Dichters als Synonym für das Gedicht. Wenn nun vom Sprechenden gefragt wird: „doch wo ist deiner Gärten Lust?“ (Vers 4), so ist das ein erster Einblick in die komplexe Befindlichkeit des Einsamen. Seine „Gärten“ erglühen nicht in allseits sichtbaren „roten und goldenen Bränden“; sie vermitteln kein allgemein nachvollziehbares „Lust“-Gefühl. Vielmehr stellt sich dem Einsamen die brennende Frage nach der Qualität seiner „Gärten“. Wie sich zeigen wird, verbirgt sich dahinter die prinzipielle Frage nach dem Stellenwert der Kunst. Der Fragesatz hält – als eine Art Vokativ, der die monologische Grundstruktur der Verse durchbricht, – die antinomische Spannung wach, teilt sie dem Leser mit und ebenso dem weiteren Text. Gleichfalls verbindet sich damit natürlich die Erwartung einer definitiven Antwort.

Unmittelbar nach der fragenden Anrede artikuliert die Mittelstrophe den antipodischen Kern der Aussage. In zwei Verspaaren, also gleichgewichtig, werden die „Gärten“ der ersten Strophe zu den „Reichen“ des Lebens und der Kunst ausgeweitet. Zwar bildet die auslösende Auguststimmung – erneut in der Außenperspektive – den ersten Teil. Indes treibt die Bewegung eindeutig auf die im Gedicht weitergeführte Selbstbefragung zu. Sie macht den Text für den Leser erneut zum lyrischen Denkbild, an dessen Ausführung er mitzuarbeiten hat. Das „Gelände“ mit den impressionistisch vagen „roten“ und „goldenen Bränden“ gewinnt jetzt schärfere Konturen. Ein konzentrierender Bildausschnitt lenkt den Blick auf die bestimmenden Elemente, die den Dichter zu seinen Versen anregten. „See“, „Himmel“ und „Äcker“ beschreiben eine stimmig-harmonische Naturkulisse. Sie erlaubt „anschauliches Denken“ nach der Vorstellung Benns. Nach genauer Überlegung hat er an dieser Stelle die in der Erstfassung festgehaltenen Landschaftsimpression – „Die Felder leer, die Seen weich“ – von der Horizontale in die Vertikale verlagert: „Die Seen hell, die Himmel weich“ (Vers 5). Für die Darstellung der erlebten „Erfüllungsstunde“ von Natur und Leben brauchte er ein durchweg leuchtend erfülltes „Gelände“, mithin keine „leeren“, abgeernteten Felder, sondern statt dessen eine intensivere metaphorische Ausgestaltung der „weichen Seen“ unten bis hinauf zum „Himmel“. So kam der Autor zu der ebenso einfachen wie „transzendierenden“ Schlussformulierung der ersten Verszeile dieser Strophe. Sie stellt einen beglückenden Ausschnitt aus der Wirklichkeit als Hintergrund heraus, vor dem dann radikal umgewandelte, „reine“ Felder als Vordergrund erscheinen: „die Äcker rein und glänzen leise“ (Vers 6). Synästhetisch sublimiert durch den zugeordneten leisen Glanz ergänzen diese „Äcker“ das Hintergrundbild zu einem stimmigen Gesamteindruck. Das erste Verb, das, einmal abgesehen vom Verb „sein“, im Gedicht gebraucht wird („glänzen“), aktiviert spürbar die sinnliche Wirkung dieser beiden Verse. Überzeugend kommt hierdurch eine verklärte Landschaft zur Darstellung, die keines „Siegsbeweises“ bedarf, weil sie die Stimmigkeit des Erfolgs („Sieg“) organisch in sich trägt.
Abermals lenkt die Konjunktion „doch“, wie schon im vierten Vers anaphorisch herausgehoben, zur Innenperspektive zurück. Sie wird dann für den Rest des Textes konsequent beibehalten. Angesichts des vollendeten, sieghaften Bildes von Natur, Leben und Glück in der Realität stellt sich dem Einsamen die beklemmende Frage nach seinen „Siegsbeweisen“ („doch wo sind Sieg und Siegsbeweise / aus dem von dir vertretenen Reich?“ (Verse 7 und 8). Der durch Zeilensprung syntaktisch verbundene Doppelvers endet für den Sprecher zunächst noch im Fraglichen. Der Helle und Weichheit wie dem leisen Glanz der „Erfüllungsstunde“ im „Reich“ der Wirklichkeit hat er nur Dunkel und Härte entgegenzusetzen. Deshalb ist es ein schwer wiegender, geradezu tragikumwitterter Entschluss, sich für das von ihm „vertretene Reich“ zu entscheiden. Definitiv rückt darum nun das angesprochene und sprechende Du in den Vordergrund. Ihm stellt sich die existenzielle Frage der Identitätswahrung. Sein „Reich“ hat nichts von der gleichsam selbstverständlichen Sicherheit der erlebten „August“-Fülle. Es ist nämlich, aller geistigen Substanz zum Trotz, in jeder Hinsicht fragwürdig. In einem thematisch ähnlichen Gedicht hat Benn die heillose Situation des dem Leben entfremdeten Künstlers wie folgt beschrieben:

Ich muß nun wieder
meine dunklen Gärten begehn,
ich höre schon Schwanenlieder
vom Schilf der nächtigen Seen.

Dunkel, Nächtiges, Todesgedanken – das ist, um mit Samuel Beckett zu sprechen, „Poesie, die das Leiden erfahren hat“. Doch endet das gerade erwähnte Gedicht Benns mit der bekenntnishaften Versicherung: „weiter, / die Tiefe, die gab und nahm“. Demzufolge bleibt die Spannungslage erhalten. Doch ist die Reflexion an diesem Punkt noch nicht zu Ende. Allerdings verrät die Wendung vom „Reich“, das der Sprechende als seine Domäne vertritt, dass er sich hier unbedingt zugehörig fühlt. Das war gemeint, als der Dichter in seiner Antwort auf eine Rundfrage „die eingeborene, prinzipielle, unübertragbare Problematik der von einem selbst zu schaffenden Kunst“ ins Feld führte.
Mit der dritten Strophe kommt die lyrische Reflexion zu ihrem Ende. Zu abschließender Entscheidungsfindung bedarf es einer unzweideutigen Bewertung. Darum situiert das Relativadverb „Wo“ die in den ersten drei Versen angestellten Überlegungen zunächst im Bereich derer, die dem unmittelbaren Dasein verhaftet sind. Syntaktisch bilden die drei Verszeilen (Verse 9-11) eine durchlaufende Einheit. Allerdings reißt das Satzgefüge im dritten Vers unvermittelt ab, ohne, wie meist, in einer finiten Verbalform auszulaufen. Umso deutlicher gehört der Schlussvers dann ganz dem lyrischen Ich.
Dies alles ist in sich schlüssig. Benn hat seine Gedichtkonstruktion wirklich durchgeformt. Wie aber sieht die poetische Lösung konkret aus? „Glück“, „Blick“, „Ringe“, „Weingeruch“, und „Rausch der Dinge“, diese Addition von Substantiven macht konkrete Begriffe namhaft, die zusammengenommen ein Bild all dessen ergeben, was die „Erfüllungsstunde“ denen bringt, die voll im Leben stehen. Schnell wird dabei allerdings klar, wie flüchtig eben nur „Glück“ – diese Art der Erfüllung ist. „Wo alles sich durch Glück beweist“ (Vers 9) – das will hier gewiss keine Aussage reiner Erfüllung vermitteln, sondern lediglich die Feststellung eines momentanen Zusammentreffens günstiger und insofern beglückender Umstände. Geht doch die Stunde schnell genug vorbei. Im Rückblick macht sie ohnehin bestenfalls einen Augenblick aus. Absolut gesetzter Glücksanspruch relativiert sich zwangsläufig, sobald er an der Lebensrealität gemessen wird. Auf den Text bezogen bedeutet das: Wenn sich Lebensqualität allein „durch Glück beweist“, ist das schon deshalb nicht in Ordnung, weil das Menschenleben naturgemäß dem Tod entgegengeht. Eine Notiz Max Horkheimers wendet diese Grundgegebenheit auf das Leben an. Wir lesen da: „(…) wer sich gegen den dunklen Hintergrund der Wirklichkeit das Leben (…) schöner macht, lebt in selbsterzeugter Scheinwelt“. „Glücks beweise“ versuchen, die Zeitbedingtheit zu unterlaufen. Abzulesen ist das ganz direkt dem Zustandsverb („beweist“). Aber in den Augen des hier Wertenden schließt der gleiche Befund von vornherein eine reduzierte Zeitqualität ein.
Noch stärker relativieren sich die „Siegsbeweise“ des äußerlichen Glücks in der zweiten Verszeile: „und tauscht den Blick und tauscht die Ringe“ (Vers 10). Diesen konjunktionalen Gliedsatz prägt der zweifache Gebrauch des Verbs, das den Vorgang des interaktiven Tauschens nachdrücklich in unser Bewusstsein rückt. Der aktivierende Akzent zeigt, dass damit keine unterordnende Funktion gemeint sein kann, sondern unverkennbar eine auf den ersten Satzteil bezogene Zusatzüberlegung angestellt wird. Objekte des Tauschens sind „Blick“ und „Ringe“, mithin Phänomene menschlicher Begegnung und Bindung. Der hier angesprochene Blick ist Zeichen enger Kontaktnahme zwischen Personen, jedoch auch – der Wortgeschichte nach – ein schnell vorübergehendes, blitzartiges Glanzlicht. Ringe, die getauscht werden, stiften seit alters den Bund für’s Leben, scheinen also glückhaft gelebte Dauer zu repräsentieren; indes ist dieses Symbol nicht erst in der heutigen mitteleuropäischen Gesellschaft zu einem geworden, das immer auch schon sein Gegenteil mitverbildlicht; Benns skeptische Haltung hierzu ging auf ausgiebige eigene Trennungserfahrungen zurück. Weil dem so ist, wird seine grundsätzliche Skepsis gegenüber „allem Menschlichen, das nährt und paart“, einleuchten. Scharf trennt der Dichter die geistige Sphäre vom ,normalen‘ Lebensvollzug ab. War er doch fest davon überzeugt:

Immer formelhafter das Individuelle, immer genormter der Betrieb. (…) Masse verlangt Gliederung, Einheitsidol. (…) je exakter die Normung, um so magischer die Dynamik, die sie bewegt.

Ganz dem entsprechend läuft die „Glücks“-Reflexion in fortschreitender Relativierung aus. Folgerichtig verweist der dritte Vers der Schlussstrophe weniger auf Lebensfülle und Substanz als vielmehr auf Genuss, Taumel und benebelndes Glücksgefühl: „im Weingeruch, im Rausch der Dinge“ (Vers 11). Hier wird die Nähe des Dichters zu Nietzsche besonders evident. Man braucht nur an den Vorwurf „dumpfer Gewöhnung“ in den Frühschriften des Philosophen zu denken. Noch mehr aber zeigt sich die Verachtung Benns für die der wahren Erfüllung des Lebens entgegenstehenden „Dinge“. Es hat viel mit vernichtender Bewertung der Lebensumstände zu tun, wenn Benn zu dem Schluss kommt: „Man sehe sich doch diesen Menschen an, diesen ausgefledderten, der sich 2000 Jahre lang um seinen Gott herumgewunden hat (…), statt seine Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen, in sich selbst Ordnung zu schaffen, sich zu fassen.“ Ihres akzidentiellen Charakters wegen unterschied bereits Platon die Dinge von den Handlungen und sprach ihnen darum jegliche Substanz ab. Hegel und Marx siedelten das Phänomen der Verdinglichung im Zusammenhang gesellschaftlicher Entfremdung des Menschen an. Obwohl Benn weit davon entfernt war, Hegelianer oder gar Marxist zu sein, sah auch er die Geschichte im Zeichen totaler Entfremdung. Zur Geschichte lesen wir beispielsweise in den Fragmenten von 1950 Folgendes: „Geschichte – das heisst, dass die Mehrzahl der Menschen dem Wahnsinn verfallen ist, dem Wahnsinn der Gier u(nd) dem Wahnsinn der Macht“. Vor solchem Hintergrund gerät der „Rausch der Dinge“ in kein gutes Licht. Insgesamt spiegelt die Reflexion über Menschenglück deutliches Missvergnügen, ja weit mehr: Menschheitszorn. Mag manches daran Selbststilisierung und Selbstverteidigung sein, vornehmlich war es innerlich notwendige Distanznahme zu Normalität und Banalität, um so die eigene Substanz zu wahren. Anders ausgedrückt: Es ging Benn um seine Existenz als Künstler.
Von hier aus wird einsichtig, warum sich am Ende der Blick wieder nach innen richtet. Ab jetzt ist die Aussage ganz auf die Haltung des lyrischen Ichs fokussiert. Deswegen markiert die Interpunktion am Ende der dritten Verszeile ein doppeltes Merkzeichen. Gedankenstrich und Doppelpunkt zwingen im Verein zum Innehalten für eine kurze Pause vor dem Übergang zur Schlussfolgerung des reflexiven Prozesses. So gesehen, dient der Doppelpunkt hier als Ankündigungszeichen für das fällige Resümee.
Dies alles wird freilich erst evident vom Schlussvers her. Auf ihn hin ist, wie eingangs betont, das Gedicht zugeschrieben. Das lyrische Ich – ersichtlich als durchgängig präsentes, sprechendes und angesprochenes Du – tritt nun vollends in den Vordergrund und beendet seine (Selbst)-Reflexion mit dem unzweideutigen Bekenntnis: „dienst du dem Gegenglück, dem Geist“ (Vers 12). Die Sonderstellung dieses Verses wird auch klanglich unterstrichen. Eine Folge aus den beiden Konsonanten d und g an allen Wortanfängen gibt ihm seine eigentümliche, durch die lamino-dentalen und velaren Anlaute erzeugte spezifische Sonorität. Fürwahr ein Vers der Kunst! Denn hier verkündet der Autor mit Emphase sein persönliches „Artistenevangelium“.
Besonders auffallend ist der Gebrauch des Verbs ,dienen‘ („dienst du“). Ohne etwa an die Vorstellung einer Dienstleistung in abhängiger Stellung zu denken, geht es dabei doch um die unbedingte Erfüllung einer Aufgabe, der man sich gänzlich unterordnet. Dahinter steckt die alte Konzeption des Künstlers im Dienst der Musen, allerdings bei Benn zugespitzt auf den schwer lebbaren Begriff des »Gegenglücks«. Offensichtlich steht er für ein großes Selbstbewusstsein, wie dann für höchsten Anspruch und das Faszinosum „schöpferischer Lust“, doch ebenso für Verzicht, Leiden und Einsamkeit. In einem Ende 1941 entstandenen Gedicht heißt es deshalb:

es gibt nur ein Begegnen, im Gedichte
die Dinge mystisch bannen durch das Wort.

Ferner am Schluss:

und nun die Stunde, deine: im Gedichte
das Selbstgespräch des Leides und der Nacht.

„Leid“ und „Nacht“, daraus resultiert in den Augen des Dichters eine wesentlich andere, tiefere Begegnung als die des „Blicks“ und der „Ringe“, eine andere Stunde als die „Erfüllungsstunde – im Gelände“. Leid und Nacht gehören zum Reich des „Geistes“. Solches „Gegenglück“ ist zwar auch eine Form des Glücks, gleichzeitig aber „ein Kreislauf im Dunklen“. Die Stunde des Dichters ist von anderer Zeitqualität; sie ist nicht dem Augenblick verhaftet, ihr eignet Dauer. Kunst und Leben sind für Benn wirklich „zwei Reiche“, wie er schon 1934 in einem Brief schrieb. Fast Zwei Jahrzehnte später, 1951, brachte er seine ästhetische Überzeugung im Vortrag über „Probleme der Lyrik“ auf den Punkt. Er sagte da über die Künstler:

(…) sie geben die Existenz auf, um zu existieren, gleichgültig, ob die anderen ein Gedicht als eine Geschichte von Nichtgeschehenem und Meisterschaft als Egoismus bezeichnen.

Das prononcierte Bekenntnis zum Reich des „Geistes“ negiert freilich nicht etwa das Leben, sondern setzt sich gleichsam darüber. Wenn Benn von „Realitätszertrümmerung“ spricht, hat er dabei das Herausarbeiten der lyrischen Substanz als Kunstprodukt im Sinne. In ihr sieht er „das Ens realissimum der Substanzen“, also so etwas wie den absoluten Wesenskern der Substanzen. Zwar wies er stets auf die Unvereinbarkeit beider Reiche hin und meinte damit Geistferne des Lebens und Lebensferne des Geistes. Doch sollte man das nicht nur als Antithese, sondern auch als eine komplizierte virtuelle Synthese sehen. Obwohl er die Kommunikation keinesfalls sucht, bleibt Kunst für Benn an das Leben gebunden. Gewiss ist der von ihm betonte notwendige Abstand eine gezielt brüske Gegenäußerung zur Wirklichkeit. Jedoch reichen seine kreativen Impulse allemal tief in erlebte „Erfüllungsstunden“ hinein. Die postulierte Trennung darf nicht missverstanden werden als elitärer Kunstanspruch aus erhabener Höhe. Was Benn anstrebte, ist die Freiheit des Künstlers und die Autonomie der Kunst zu bewahren. Dabei nimmt er es in Kauf, unweigerlich mit Leidensgewissheit leben zu müssen. Diese Überzeugung fasste er in dem Satz zusammen:

Erfüllung ist schwer von Wunden,
wenn es Erfüllungen sind

Das war in seiner Sicht der Preis für das von ihm gewollte Gedicht. Er bezeichnete es als „das absolute Gedicht, das Gedicht ohne Glauben, das Gedicht ohne Hoffnung, das Gedicht an niemanden gerichtet, das Gedicht aus Worten, die sie faszinierend montieren“.
Zwangsläufig führte die Position des „Geistes“ zum „Doppelleben“. In das Gedicht „Einsamer nie –“ haben sich die Spuren dieser ambivalenten Existenzform tief eingegraben. Da ist der Verfasser jener fatalen Schriften zu Beginn des „Dritten Reiches“, der in der Wehrmacht untertaucht und zum heimlichen Widerstands-Denker mutiert. Da ist der Alltag geschichtlicher Wirklichkeit und gegenläufiges „anschauliches Denken“. Da ist der Arzt in ständigem Konflikt mit dem Künstler. Da ist schließlich der im Leben stehende Mensch und der dem Geist verpflichtete Dichter. Gewiss offenbart das Risse, Widersprüche, bedenkliche Antithesen, kontrastierende Erfahrungen. Derartige Spannungen lassen sich eben nicht versöhnen. Trotzdem können Negativität gegenüber der Gesellschaft und tranzendierende Ästhetik produktiv aufeinander bezogen werden. Benn hatte den schmalen Pfad einer solchen Möglichkeit vor Augen. Seinen letzten Vortrag, Ende 1955 im Kölner Funkhaus, nutzte er um zu erklären, warum er die autonome Position des Künstlers wählte. Er sagte da:

Die Dichtung bessert nicht, aber sie tut etwas viel Entscheidenderes: sie verändert. Sie hat keine geschichtlichen Ansatzkräfte, wenn sie reine Kunst ist, keine therapeutischen und pädagogischen Ansatzkräfte, sie wirkt anders. Sie hebt die Zeit und die Geschichte auf (…) – ein langer, innerer Weg. Das Wesen der Dichtung ist unendliche Zurückhaltung, zertrümmernd ihr Kern, aber schmal ihre Peripherie, sie berührt nicht viel, das aber glühend.

Benn gibt uns im Gedicht „Einsamer nie –“ ein exemplarisches Bild vom Genie des Künstlers wie auch von dessen Schatten im Leben.

Theo Buck, aus: Text+Kritik: Gottfried Benn – Heft 44, edition text+kritik, April 2006

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