Theodor Kramer: Gesammelte Gedichte 3

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Theodor Kramer: Gesammelte Gedichte 3

Kramer-Gesammelte Gedichte 3

IMMER

Immer werd ich nun verlassen sein,
immer werd ich hinken, Fuß und Bein,
immer wird die Kolik mich befallen,
immer wird das Blut im Ohr mir hallen,
immer werden mir die Zähne fehlen,
immer wird mein schiefer Mund mich schmälen,
immer werd ich mich beim Mahl besudeln,
immer werd ich, statt zu sprechen, strudeln,
immer werd ich um die Stellung bangen,
immer wird nach Frauen mich verlangen,
immer werd ich schreiben, süß und herb,
immer werden ich schreiben, bis ich sterb.

 

 

 

Editorisches Nachwort

Die drei Bände dieser Ausgabe sind nicht chronologisch geordnet. Sie führen vielmehr vom Bekannten zum Geplanten und weiter zum Unbekannten. Lebendige Dichtung ist nicht an Chronologie gebunden. Der Herausgeber weiß sich in dieser Überzeugung eins mit dem Dichter; in allen Bänden, die dieser noch selbst publiziert oder fertiggestellt hat, überschneiden sich die Zeiten, in denen die Gedichte entstanden sind, oft über Jahre hinweg. Lebendes Wort kennt keine literaturwissenschaftliche Eingrenzung, und die vordringliche Aufgabe dieser ersten „Großen“ Ausgabe ist es, Kramers Wort zu den Menschen zu bringen.
Drei Umstände trafen beim Aufbau der Edition bestimmend zusammen: der kurzfristig geäußerte Wunsch des Europaverlages, das Jubiläum seines fünfzigjährigen Bestandes unter anderem mit dem ersten Band einer großzügig angelegten Sammlung der Gedichte von Theodor Kramer zu feiern, der in zahllosen Briefen und Gedichten ausgesprochene Wunsch des Dichters, seine in den langen Jahren des englischen Exils geplanten Bände mögen geordnet den Lesern zugänglich gemacht werden, und die Notwendigkeit, lange Zeit in den weitverstreuten Zeitungsdrucken und im ungewöhnlich umfangreichen Nachlaß nach Wichtigem und Wesentlichem zu suchen. Der Herausgeber hat nach diesen Erfordernissen gehandelt.
Folgerichtig ergab sich als Inhalt des ersten Bandes eine Neuauflage aller vom Dichter publizierten, doch insgesamt bereits vergriffenen Bände, ergänzt durch die posthume Publikation Lob der Verzweiflung. Für den zweiten Band bot sich eine Kramers Intentionen entsprechende Herstellung der von ihm geplanten weiteren Bände an. Das Schwergewicht dieses Bandes mußte daher auf den in England entstandenen Gedichten liegen. Die für den zweiten Band vorgegebene Seitenzahl machte eine Zuweisung der zur „englischen“ Gruppe gehörenden Sammlung „Mit dem Staub“ an den dritten Band notwendig.
Dieser besteht daher hauptsächlich aus Gedichten, die vor der Zäsur durch die Emigration entstanden sind. Ein kleiner Teil davon ist weit gestreut in Zeitungen und Anthologien gelangt, der größere blieb überhaupt ungedruckt. Nur in jenen Abschnitten, die die Entwicklung von Kramers Persönlichkeit dokumentieren, sein Leben, seine politischen Überzeugungen, seine Erinnerung an den Ort seiner Kindheit, wird über diese Grenze hinausgegangen. Das gleiche gilt auch für die Gedichte, die jenem Bestand aus den drei originalen Auswahlbänden Vom schwarzen Wein, Einer bezeugt es… und Orgel aus Staub angehören, der nicht bereits publizierten oder fertiggestellten Werken entnommen worden war.
Vom Dichter sind für diesen Band, mit einer einzigen Ausnahme, keine Hinweise, keine Andeutung eines Planes erhalten. Anordnung, Titel und Zwischentitel stammen daher vom Herausgeber. Die erwähnte Ausnahme bildet eine sowohl im Mauskript wie im Typoskript dem Titel des Gedichtes „Zum Geleit“ hinzugefügte Bemerkung „eines Gedichtbandes Stromer und Bauer, Strolch und Prolet“. Der Herausgeber hat sich bemüht, diesen Band aus den themenbezogenen Gedichten herzustellen und in ihn, gemäß der Andeutung im „Geleit“ auch jene Welt der fronenden Rotten, der Gospodare und Haiduken, einzubeziehen, die Kramer aus der Lektüre der Romane des heute fast vergessenen, in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre aber hochgeschätzten, von Romain Rolland geförderten rumänischen Dichters Panait Istrati gewonnen hat, was durch die Übernahme von Ausdrücken aus den Übersetzungen bewiesen werden kann.
Während der Arbeit an diesem Band erreichte den Herausgeber eine anonym abgesandte maschingeschriebene Zusammenstellung von 34 Gedichten Theodor Kramers. In einer grünen Büromappe befanden sich 37 Blätter aus leinenstrukturiertem Papier im Ausmaß 27,1 zu 21,4 Zentimeter mit dem Wasserzeichen Kingstone Paper, zusammengehalten durch zwei Messingklammern. Der vordere Deckel der Mappe, der vielleicht einen Rückschluß auf die Herkunft hätte geben können, ist weggerissen. Das erste Blatt trägt den Titel „Chor der Verlorenen“ und die eigenhändige Unterschrift Theodor Kramers, das zweite die maschingeschriebene Zueignung: „Maryla Falk-Boguslawska gewidmet“. Die Adressatin ist die gleiche, der auch das erste nachweisbar in Druck gelangte Gedicht Kramers „Anderes Licht“ gewidmet ist. Es dürfte sich um jene Frau handeln, von der Kramer, ohne ihren Namen zu nennen, dem Herausgeber berichtet hat, sie sei „die schönste gewesen, die ich je gekannt habe, eine Polin aus aristokratischem Geschlecht“.
Drei Gedichte aus dieser Sammlung („Chor der Verlorenen“, „Wir Künstler“, „Die Toten auf der Morgue“) hat der Herausgeber in das „lyrische Vorwort“ „An den Wurzeln“ aufgenommen, ein viertes („Die Urlauber“) ist später in die „20 Gedichte“ gelangt und mit diesen im Band 2 abgedruckt.
Nur für 6 der 34 Gedichte gibt es handschriftliche Vorlagen; sie alle entstammen dem Jahr 1925, für das nur ein lückenhafter Bestand an Manuskripten vorliegt. Ihre Entstehungsdaten liegen teils vor, teils nach denjenigen des Zyklus „Die Pest“ (Band 2). Der „Chor der Verlorenen“ muß also nach diesem Zyklus zusammengestellt worden sein.
Hier wird die Problematik der Überlieferung der Texte deutlich. Es gibt drei Schichten: die eigentlichen Manuskripte, die durch Zeitungs- oder Buchdruck erhaltenen Gedichte und die Typoskripte. Zu den Manuskripten zählen alle in Kramers Handschrift erhaltenen Gedichte. Bis auf zwei („Irres Alter“ und „Tagwerken“), die in eigenhändigen Abschriften Kramers im Nachlaß vorliegen, entstammen sie den Manuskriptheften des Nachlasses. Sie sind im Inhaltsverzeichnis durch die Angabe ihres Entstehungsdatums zu erkennen. Für sechs weitere Gedichte, die nur als Typoskripte erhalten sind, können Entstehungszeiten angegeben werden: erstens für das Gedicht „Nach neunzehn Jahren“, das in der von der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur aufbewahrten, zum Nachlaß Johann Muschiks gehörenden Kramer-Mappe aufliegt (Datum auf dem Durchschlag), und zweitens für die fünf Gedichte, die Kramer nach seiner Rückkehr nach Wien verfaßt und unter Angabe des Datums mit der Schreibmaschine festgehalten hat (Band 3, S. 590–592); für eines davon liegen handschriftliche Entwürfe auf einer Papierserviette vor. Dagegen ist eine eigenhändige Abschrift Kramers in der Muschik-Mappe („Der Wurf am Kai“) ohne Datum.
Ausschließlich durch Zeitungs- oder Buchdruck erhalten gebliebene Gedichte werden im Inhaltsverzeichnis durch das Datum des Erstdrucks ausgewiesen. Oft handelt es sich um Gedichte politischen Inhalts, deren Vorlagen der Dichter, wie auf Seite 386 dargestellt, vernichtet hat. Einen Beweis für diese Vorgangsweise liefert die paradoxe Tatsache, daß Kramer zwei aus dem zerstörten, vom 25. Dezember 1932, bis 7. August 1933 reichenden Heft („Im Maiwald“, 26.3.1933 in den Zeitungsdruck gelangt, und „Der Flieder welkt…“, 7.5.1933) in ein anderes Heft eingelegt und so (wohl versehentlich) bewahrt hat. Auch aus erhalten gebliebenen Heften hat er Gedichte entfernt, so etwa „Im Dachauer Moos“ (19.10.1933), dann jedoch wieder eingelegt und die linke Seite, von ihm als „Überschriftsseite“ benützt, mit der Überschrift des nächsten Gedichtes (hier „Die Nußentkerner“) versehen. Andere Gedichte, etwa die vom 1., 4. und 5.11.1933, hat er ganz entfernt (kleine Reste von Papier sind erhalten) und ihre ausradierten Titel so stark mit denen der folgenden Gedichte überdeckt, daß sie unleserlich geworden sind.
Wo sich in diesem Band Veränderungen gegenüber der Fassung des Zeitungsdruckes finden, geht dies auf eine letzte, 1957 und 1958 von Kramer vorgenommene und eigenhändig fixierte Überarbeitung der vom Herausgeber angefertigten Abschriften zurück. Dabei ersetzte Kramer generell auch das bis dahin von ihm stets gebrauchte umgangssprachlich-österreichische „zeitlich“ durch das zutreffende „zeitig“.
Alle Gedichte, die im Inhaltsverzeichnis weder Entstehungsdaten noch Erstdruckvermerke aufweisen, haben als Grundlage Typoskripte, die treue Bewahrer (vor allem Paul Elbogen, Grete Gillinger, Wolfgang Holzer und Johann Muschik) über die Zeit gerettet und nach Kramers Tod dem Nachlaß wieder zugeführt haben. Gelegentlich wurde der stets dem Typoskript beigefügte Name Kramers vom Bewahrer aus Angst vor politischen Repressionen durch Kürzen des Blattes entfernt (die Echtheit ist stets durch Parallel-Durchschläge bewiesen), einmal sogar der anscheinend provokativ wirkende Originaltitel des Gedichtes abgeschnitten: der Herausgeber hat ihm, einer Gewohnheit Kramers folgend, die erste Zeile als Titel gegeben („Deine kleinen Hände“).
Der Herausgeber hat es auch zu verantworten, wenn er bei den autobiographischen wie bei den politischen Gedichten um ihres dokumentarischen Wertes willen die Kriterien einer literarisch bedeutsamen Auswahl um einige Stufen herabgesetzt hat. Es gibt gute Gedichte und es gibt wichtige Gedichte, nicht immer sind die einen mit den anderen identisch.

Dem Leser liegt mit diesem abschließenden Band als Ergebnis einer Durchsicht der mehr als 10.000 Gedichte, die Theodor Kramer in den Jahren 1925 bis 1958 geschrieben hat, eine Auswahl von 2.035 Titeln vor, die ihm bestätigt: jeder Versuch, das Werk Kramers eindimensional zu sehen, ihn auf eine einzige Ebene festzulegen, muß scheitern.
Monotonie und Vielfalt stehen bei ihm in einem seltenen Spannungsverhältnis. Schon die vielfach festgestellte Monotonie der dichterischen Gestaltung wird in Wahrheit von einer auf den ersten Blick nicht sichtbaren Variabilität der Rhythmen- und Strophenformen aufgelockert. Die deutlich erkennbare Gleichförmigkeit der Themenwahl aber ist nicht nur auf sein lebenslanges Bestreben zurückzuführen, so lange nicht von einem Motiv zu lassen, bis er die dafür gültige Form gefunden hat, sondern erweist sich bei einer Übersicht über sein Werk auch als eine tragische Folge seines Versuches, dieses Werk in der Fremde ein zweites Mal wiederzugewinnen.
Seine Schriften hatte er bei der erzwungenen, aber lebensrettenden Emigration in der Heimat zurücklassen müssen, ihre Gestalten und ihr Abbild aber trug er in sich. So werden sie, da er sich ohne Aussicht glaubt, das einmal Geformte wiederzuerlangen, wiedererweckt bis in die Einzelheiten ihres Schickschals, ja sogar ihres Namens: der Markthelfer, der in den Gurten stirbt, der Bauer, der sein vergantetes Gütl vom Zwetschkenbaum aus mit der Flinte verteidigt, und sogar der „Kriegsmüller Gabesam“. Umgekehrt wäre es auch möglich, aus Wandergedichten der zwanziger und dreißiger Jahre einen Band wie Mond im Heu herzustellen. So schrieb Kramer sein Werk gleichsam zum zweiten Mal. Das einmal Geschaffene hatte von ihm Besitz genommen, er war von ihm besessen. Wer sucht, findet Spuren davon in dieser Ausgabe.
Tragisch ist der Versuch aber auch deshalb zu nennen, weil dem Dichter im erzwungenen Exil die Kräfte zu schwinden beginnen. Nun, da vor seinen Augen wieder die Monstranzen aufglänzen, die Weiser ihre Hände in die Höhe werfen, das Land zum Weinen klar vor ihm liegt, da noch immer der Himmel wie eine Glocke aus Glas an ihm saugt, das Licht wie Soda blau verfällt, im betäubenden Duft der süß aufbrechenden Akazien irgendwo eine Orgel aus Staub spielt, und doch noch immer alle Stiegen zum Kanal führen, verliert seine Sprache Farbe und Gewalt. Matt glänzen die Worte. Die langen Zeilen, einst polternd, schiebend, stoßend wie ein ungestümes, Steine führendes Gewässer, werden kurz und zahm. Erschütternd wird sichtbar, wie das Exil dem Vereinsamten buchstäblich die Luft zum Atmen nimmt: an die Stelle der krafterfüllten achtzeiligen Stollen treten vierzeilige Strophen, und es kommt die Zeit, wo eine einzige von ihnen für ein ganzes Gedicht zu gelten hat. Selten wird die Deformation des schöpferischen Menschen durch seine Vereinsamung im Exil so deutlich sichtbar. Auf Kramer lastete sie als Folge seiner Vereinzelung im abgelegenen Guildford doppelt so schwer.
Um das Weiterwirken selbst einzelner Formulierungen unter diesen Bedingungen zu dokumentieren, hat der Herausgeber das noch stark dem Liederschatz des Wandervogels verpflichtete Gedicht „Der Reisläufer“ (12.1.1926) in diesen Band aufgenommen, in dem sich bereits die später in der „Letzten Wanderschaft“ (13.7.1927, Band 1) wörtlich wiederholte Zeile: „Gelobt die Welt! Ihr kommt’s auf mich nicht an.“ findet, die dann in „Oh käm’s auf mich nicht an!“ (5.6.1946, Band 1) nachklingt, und wo zum ersten Mal vom „schwarzen Wein“ (siehe auch Band 1, 1.1.1943) die Rede ist.
Die Serie der Kindergedichte, aufgenommen in die „Niederhollabrunner Gedichte“, bezeugt zweierlei: erstens den früh wirksamen Zug Kramers zur zyklenhaften Gestaltung seines Lebens (letzten Endes sind auch Wir lagen in Wolhynien im Morast… und Wien 1938 ebensolche Zyklen, wie zuletzt noch „Die Fratze“ im vorliegenden Band), und zweitens das Trauma des Ausgesetztseins, das er in früher Kindheit erlebt haben muß. Das unbegreiflich Bedrohliche der ihn umgebenden Welt verstört den Knaben und macht ihn empfänglich für das Wirken des Irrational-Dämonischen. Es lebt weiter in Gedichten wie jenen der Sammlung „Wenn die Asche im Ofen zerfällt…“. Dabei ist das Eingebettetsein in ein durchaus realitätsbezogenes Weltbild zu beachten: es sind die (Alp-)Träume der Armen und Gedrückten, die hier erzählt werden.
Daß ihn als Kind Verfall und Auflösung fasziniert und gleichzeitig mit Schauder erfüllt hätten, darauf hat Kramer selbst den Herausgeber am Fuß der damals noch unregulierten, von morschen Geländern und ineinanderwucherndem Strauchwerk begleiteten Niederhollabrunner Kirchenstiege hingewiesen. Als Erwachsener konnte er sich davon befreien: wenn ihn Verrottendes, „Rost, Schorf und Grind“, erschreckte, konnte er sich durch seine Beschreibung von ihm erlösen.
Dieses in seinen Gedichten immer wieder zu spürende Gefühl für das Vergehen in der Natur mag auch dazu geführt haben, daß er vor mehr als einem halben Jahrhundert, unfaßbar früh, die Bedrohung der Natur durch den Menschen registriert hat: „Die sterbenden Flüsse“, „Staude am Grenzrain“ und „Der Monteur“ wurden 1928 geschrieben!
Kramers Ruf als der hervorragendste Vertreter der sozialen Lyrik in Österreich ist so unumstritten, daß er durch keinerlei Neuveröffentlichungen gefestigt zu werden braucht. Aber alles, was an bisher Unveröffentlichtem zutage tritt, weist ihn immer deutlicher als den verläßlichsten Chronisten des österreichischen Land- und Stadtproletariats in der Zwischenkriegszeit aus. Seine Gedichte wären geeignet, jede Ausstellung über die Arbeiterkultur dieser Jahre, Saal für Saal und Tafel für Tafel, zu illustrieren, das starre Bild vergilbender Fotografien mit Leben zu erfüllen. Nicht Aufmärsche oder Feiern, sondern die Sommerlager der Kinder, die unbefohlene Solidarität der Armen, das Aufgezehrtwerden von der Arbeit, das armselige Glück im Schlackenland vor den Fabriken, der Sonntag auf dem Überschwemmungsgebiet am Ufer der Donau oder in der Lobau, die „Siedler“, die keine Schrebergärtner waren, sondern Arbeitslose oder Gelegenheitsarbeiter, denen das selbstgebaute Häuschen Wohnstätte und der urbar gemachte Garten Subsistenz war, und im Hintergrund die Bauten der Gemeinde Wien, die zuerst Arbeit boten und dann scheu mit einem Gefühl der Trauer um die verlorene Freiheit der Gstetten bezogen wurden. Eine Biblia pauperum der neuen Zeit, doch in gewandeltem Sinne, daß nämlich der Arme nicht ihr Empfänger, sondern die Hauptperson dieses Buches war. Der Arme und der Ärmste: der Arbeitslose, der hoffnungslos der Verzweiflung zusteuert. Wenn vieles auch historisch geworden ist und manche Hinweise nur mehr für denjenigen verständlich sind, der diese Zeit noch erlebt hat, manchmal erschrickt man beim Lesen, wie aktuell manche dieser Gedichte wieder geworden sind.
Selbstverständlich kann soziale Lyrik im weitesten Sinne auch als politische Lyrik gelten – das ist eine Frage der Terminologie −, trotzdem, es gibt in allen Literaturen Gedichte, die soziale sind, ohne politische zu sein, und politische, die keineswegs soziale sein müssen.
Hier ging es darum, die Bedeutung eng zu fassen und die politischen Gedichte Kramers zum ersten Mal zusammenzustellen. Dabei darf nicht vergessen werden, daß ein großer Teil seiner politischen Lyrik bereits, auch in dieser Ausgabe, publiziert ist: das reicht von den aufrührerischen Gedichten in der Gaunerzinke („Der Zehnte“, „Der Heimgekehrte“) über die Bände „Verbannt aus Österreich“ und „Wien 1938/Die Grünen Kader“ bis zu den in der Unteren Schenke und im Lob der Verzweiflung verborgenen Gedichten „Bei einem Treffen im Waldviertel“ und „Hinterm Güterbahnhof“. Um sie als Ganzes zu bewerten, müßte man diese politische Lyrik Kramers auch in ihrer Gesamtheit erfassen. Hier soll nur auf die Gedichte des dritten Bandes eingegangen werden.
Es zeigte sich, daß den bei den erwähnten Gedichten aus der Gaunerzinke vorerst keine weiteren folgten und Kramer erst durch die Machtergreifung Hitlers in Deutschland sensibilisiert wurde, und zwar nicht nur in der Weise, daß er blitzschnell auf die dort herrschenden Zustände reagierte („Brief aus der Schutzhaft“, 19.3.1933, „Im Konzentrationslager“, schon gedruckt am 9.4.1933), sondern daß er, eine ähnliche Entwicklung vorausahnend, sich Gedanken über das Schicksal der Sozialdemokratischen Partei Österreichs machte. Einige dieser Gedichte gelangten noch 1933 in die Arbeiter-Zeitung, in die Bunte Woche und in den Wiener Tag. Erfüllt vom Gefühl eines nahenden Bebens, trat er vor und sprach. Das Beben selbst traf ihn stumm: nachdem er noch am 12., wie schon am 11. Februar ein Gedicht „Im kleinen Wäldchen hinterm Werk“ in sein Heft eingetragen hatte, brach er ab, um erst am 16. Oktober 1936 mit dem Gedicht „Einkehrhof im Regen“, ohne eine Seite auszulassen, fortzusetzen; in einem am 6. März 1934 mit dem Gedicht „Nun mehrt sich im Gestämm das Licht…“ begonnenen Heft merkt er auf der ersten Zeile der linken Seite blau unterstrichen an: „13/II–6/III krank und rekonvaleszent!“ Wüßte man es nicht, daß der 12. Februar 1934 der österreichischen Demokratie den Todesstoß versetzt hat, hier würde man es nie erfahren.
Selbstverständlich ist eine womöglich durch einen Schock hervorgerufene Krankheit nicht auszuschließen, aber die beschriebene Vorgangsweise und die Spannung, die zwischen dem prophetischen, von dunkler Hoffnung erfüllten Gedicht „Die letzten Gewehre“ und der Abspiegelung der Februarkämpfe in einem Gespräch zwischen zwei Stromern („Stromer im Steirischen“) herrscht, gibt zu denken.
Später dann sind mit zwei Ausnahmen („Der Wurf am Kai“ und das gewichtige „Nach neunzehn Jahren“, das in „Wir waren Kameraden“ eine Vorstufe hat) alle Gedichte über das Leben unter der deutschen und der österreichischen Diktatur von einer seltsamen Verhaltenheit, die jedoch die Lebensumstände der Betroffenen und der Sich-Wehrenden eindringlicher wiedergibt als ruhmredige Berichte. In ihnen sind die Hoffnungen und Befürchtungen und das Handeln des durch das Zerbrechen der politischen Gemeinschaft Vereinzelten enthalten. Ihr Held ist wie im Wolhynienband der einfache Mensch.
Die in England entstandenen Gedichte ähneln jenen, die in „Verbannt aus Österreich“ und in den „Grünen Kadern“ veröffentlicht wurden. Sie teilen ihre Vorzüge und Schwächen. „Geschlagene Jugend“ ist ein schwächeres Seitenstück zum „Requiem für einen Faschisten“. Nach Kriegsende entstehen fast keine politischen Gedichte mehr: in sieben Jahren kaum mehr als sieben Stück, 1952 das letzte, das mit einigem Recht als solches bezeichnet werden kann.
Theodor Kramer hat der Welt Gedichte gegeben, die mehr über das Wesen des Faschismus aussagen als dickleibige Abhandlungen („Wer läutet draußen an der Tür?“, „Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan“ – in den USA und in der UdSSR werden sie gelesen wie in Japan, in Italien oder in Polen), aber mit der Zerschlagung der faschistischen Diktaturen verstummte seine Stimme, wie sie sich bei ihrem Aufkommen erhoben hatte.
Bedrückend eine letzte Erkenntnis, gewonnen aus der Durchsicht seiner autobiographischen Gedichte: Theodor Kramer fühlte sich mehr als zwanzig Jahre lang dem Tode nahe! Er ist jahrzehntelang gestorben: das Gedicht „In diesen Tagen, da ich rasch schon schwinde…“ entstand schon am 6. November 1931! Eingebildete und echte Krankheiten mögen ihn zu dieser Vorstellung getrieben haben, er erlitt sie echt. In den einsamen, leidvollen Jahren seines Alters mengte sich in die Todesfurcht die Angst, daß sein Werk verloren sei. Dem Verständnis und der Großzügigkeit des Europaverlages habe ich es zu danken, daß es mir gelungen ist, den wesentlichen Teil davon zu den Menschen zu bringen!
Mein Dank gilt auch allen jenen, die mich bei meiner Arbeit unterstützt haben: allen hilfreichen Mitarbeitern des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes und der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur, dem Kulturamt der Stadt Wien (MA 7), Dr. Eckart Früh vom Tagblattarchiv der Wiener Arbeiterkammer und allen Lebenden und schon Abgeschiedenen, die mir im Laufe der Zeit mit ihrer Hilfe zur Seite gestanden sind:
Paul Elbogen, Los Angeles; Jiři Forejt, Prag; Eberhard Fricker, Tübingen; Erich Fried, London; Grete Gillinger, Wien; Fritz Hochwälder, Zürich; Dr. Wolfgang Holzer, Graz; Inge Kramer-Halberstam, London; Erika Mitterer, Wien; Grete Moon-Oplatek, Chigwell; Johann Muschik, Wien; Prof. Silvia Schlenstedt, Berlin; Prof. Hugo Siebenschein, Prag; und Alfred Ströer, Wien. Leider konnte ich in die bei Michael Guttenbrunner aufbewahrten Manuskripthefte Theodor Kramers nicht Einsicht nehmen.
Ich danke auch allen Lektoren des Europaverlages für ihre Freundlichkeit und ihre Geduld, und ich danke meiner Frau Getrude und meinem Sohn Erhard, die sich der langwierigen und mühsamen Arbeit des Fahnenlesens unterzogen haben.

Erwin Chvojka, Nachwort, 10.6.1987

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

 

Zum 25. Todestag des Autors:

Josef Schweikhardt: Ein Lyriker kehrt heim
Die Furche, 1.12.1983

Zum 50. Todestag des Autors:

Günther Doliwa: Gewaltig ist das Leben
literaturkritik.de, April 2008

Daniela Strigl: Hieb auf den Kopf, Griff ans Geschlecht
Der Standart, 29./30.3.2008

Cornelius Hell: Für die, die ohne Stimme sind
Die Furche, 27.3.2008

Georg Siegl, Doris Windhager und Adula Ibn Quadr: Beim Stromwirt – Lieder nach Texten von Theodor Kramer

Fakten und Vermutungen zum Autor + ÖM + Archiv 1, 2 & 3 +
Internet Archive + Kalliope

 

Theodor Kramers Gedicht „Geboren ward ich in die Wende“ gesungen von Wenzel.

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