Thomas Rosenlöcher: Zu Georg Maurers Gedicht „Jasmin“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Georg Maurers Gedicht „Jasmin“. –

 

 

 

 

GEORG MAURER

Jasmin

Die Jasminblüten haben ihr Boudoir
voller Himmelsspiegel offen.
Ich bin auf dem grünen Sofa wunderbar
von der Verschwendung betroffen.

Nichts leistet Widerstand.
Meine Lenden sind überflossen.
Als einzige Trennungswand
halt ich die Lider geschlossen.

Und durch die Nüstern dringt
der Duft in die Purpurhöhle
und durch die Poren sinkt
der Puder auf meine Seele.

 

Augenschließen

Dem Jasmin wird einiges nachgesagt. Nicht umsonst heißt ein Journal so und trägt den Untertitel: „Zeitschrift für das Leben zu zweit“. Dafür kann freilich der Jasminstrauch nichts, und falls er noch vorhanden ist, mag sein Duft tiefer gehen, als uns das Glanzpapier vorzuspiegeln vermag.

Die Jasminblüten haben ihr Boudoir
voller Himmelsspiegel offen.
Ich bin auf dem grünen Sofa wunderbar
von der Verschwendung betroffen.

Die in dunklem Laub versteckte, zart erotische Komponente des Jasmins nimmt auch das Gedicht auf. „Boudoir“ heißt laut Duden „elegantes kleines Damenzimmer“.  Einem Damenzimmer entspricht das „grüne Sofa“, auf dem der Sprecher zu liegen vorgibt. Solcherart Einmietung in der Natur mit anschließender Möblierung hat Tradition und kommt aus dem Bedürfnis, die doch auch bedrohliche schon im Wort gärtnerisch zu zähmen. Freilich hat es die Wortgärtnerei dabei nie gleich bis zur Verschreberung getrieben. Der umschließende Jasminstrauch deutet noch immer auf einigen Wildwuchs hin, und im wirklichen Leben wäre der Ruf nach der Heckenschere längst laut geworden. Ohnehin sind die Betonmischmaschinen schon eine ganze Weile zumindest Richtung Strauch unterwegs. So braucht es einige Kraft des Sagens, um das Gedicht wenigstens ins Utopische zu retten:

Die Jasminblüten haben ihr Boudoir
voller Himmelsspiegel offen.

Gerade indem der Strauch den auf dem Sofa Lümmelnden dicht umschließt, ist er gleichzeitig „offen“, eine kommunikable Kammer, denn durch das Blätterdach spiegeln die weißgelben Blüteninnenseiten den Himmel herein. Das Refugium hat kosmische Dimensionen; und durch des Himmels indirekte Anwesenheit sind die Lichtjahre verwandelt in einen leichthin duftenden Blütenaugenblick.
So läßt es sich aushalten. Kein Wunder, daß es der Sprecher „wunderbar“ findet, derart „von der Verschwendung betroffen“ zu sein. Dieses „wunderbar“ korrespondiert mit einem – ebenfalls im Vers nachgestellten – „wunderbar“ in dem Gedicht „Der Mensch“ von Matthias Claudius. Solche von der Wissenschaft so genannte „Intertextualität“ stellt sich beim Dichten wohl nur halbbewußt ein, hilft aber verdichten, indem es andere Gedichte am Gedicht mitdichten läßt und seinerseits andere Gedichte kommentiert, in jedem Fall aber einem ambitionierten Leser den Nachweis erlaubt, daß er dies und das gelesen hat.
Indem also das Gedicht „Der Mensch“, bevor es zu einer fürchterlichen Litanei über die Nichtigkeit unseres Lebens anhebt, dem Menschen mit den Versen „Empfangen und genähret / Vom Weibe wunderbar“ immerhin etwas Geborgenheit zugesteht, färbt diese Mutterleibgeborgenheit andeutungsweise auch auf das Ich im Jasminstrauch ab. Gleichwohl schaffen „Boudoir“ und „grünes Sofa“ in ihrer ein wenig rokokohaften Zierlichkeit Distanz: Der Mann auf dem Sofa befindet sich sozusagen in klassischer Schwebe.

Nichts leistet Widerstand.
Meine Lenden sind überflossen.
Als einzige Trennungswand
halt ich die Lider geschlossen.

Eine leicht erotische, sachte Vermischung mit der Natur gibt es aber doch, indem der lässig Hingestreckte gleichsam impressionistisch mit grüngeschippertem Nachmittagslicht übergossen wird: „Meine Lenden sind überflossen“ – eine Fügung, die nebenbei andeutet, daß es sich bei dem Ich im Strauch tatsächlich um einen Mann handelt.
Als vorbereitender Kommentar dient der Vers: „Nichts leistet Widerstand“. Da dieser Vers jedoch die behauptete Hingabe nicht eigentlich gestaltet und den lichtübersprenkelten Zustand des Ich nur annonciert, leistet er doch ein wenig Widerstand und setzt somit die Balance zwischen Gedankenverlorenheit und Reflexion, Sich-Verlieren und -Zürückhalten fort.
Auch die nächsten beiden Verse dieser zweiten Strophe sprechen, indem sie die Geringfügigkeit des Widerstandes betonen, indirekt von vorhandenem Widerstand:

Als einzige Trennungswand
halt ich die Augen geschlossen.

Allerdings kehrt sich hier das Verhältnis noch einmal um. So wie die, Jasminblüten den Himmel in die Strauchhöhle hereinspiegeln, ermöglicht die Trennungswand der geschlossenen Lider, das Gewußte zu wissen und das bewußt Verhüllte in seiner Transzendenz zu erkennen. In dem Gedicht „Wink“ aus dem West-östlichen Divan wird dergleichen für das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit thematisiert.


Das Wort ist ein Fächer! Zwischen den Stäben
Blicken ein Paar schöne Augen hervor.
Der Fächer ist nur ein lieblicher Flor.
Er verdeckt mir zwar das Gesicht,
Aber das Mädchen verbirgt er nicht,
Weil das Schönste, was sie besitzt,
Das Auge, mir ins Auge blitzt.

Ähnlich wie in diesen Goethe-Versen der Wortfächer das Gesicht des Mädchens benennend entrückt und verhüllt und gerade so die Augen des Mädchens hervorblitzen läßt, auf daß, im Goetheschen Sprachoptimismus, das Mädchen erst recht sichtbar werde, sind die geschlossenen Augen im Jasmingedicht ihrerseits ein Fächer, trennend und daher Konzentration ermöglichend, so daß Abwesenheit zur Anwesenheit wird. Geringerer Durchblick zwingt zum Blick in die Tiefe, womit nicht behauptet werden soll, daß die landesweit noch immer fest verschraubten Verschalungen vor unseren Köpfen eine Voraussetzung für absoluten Überblick wären. Auch im Gedicht geht es um den Versuch, eine Wirklichkeit, die zu erstarren droht, durchschauend zu verwandeln. „Den Spiegel her, da steht der Kaiser immer nackt / in immer neuen Kleidern“ heißt es hierzu bei Georg Maurer („Scherzo deutscher Spiegelschrift“). Überhaupt figurieren Maurers Gedichte das spannungsvolle Verhältnis zwischen Sein und Bewußtsein unentwegt.
In dem Gedicht „Im Garten“ sitzt das Ich „im Konstruktionsbüro aus Laubwerk – der Materie gegenüber“. Die Materie, als eine Art Allegorie des Allumfassenden, wird, obwohl Maurer dergleichen im Essay ablehnt, mythisch gesehen, aber die Dichter sind oft gerade dann am besten, wenn sie gegenüber ihren eigenen Vorsätzen ein Auge zudrücken. – Jedenfalls hält die Materie die Augen immer offen. Das kann sie sich leisten, da sie ja doch kein Bewußtsein hat. Immerzu starrend wird sie, im Hin und Her der Katze und der Schwalben, zum langgedehnten und gleichzeitig rasch verflimmernden Augenblick. Einen Moment vermag das Ich zu sehen, was sie sieht: das Ineinander von Bewegung und Erstarrung, Dasein und Vergehn. Doch da das Ich die Augen schließt, starrt die „Uralte“ immer weiter fort und ist womöglich anwesender denn je: „Sie aber sieht sehr gut, wenn ich die Augen schließe.“
In dem Gedicht „Nachtgespräch“ schaut die „Haut“ der am Tisch Sitzenden gar „hundertäugig nach innen“, auf die „Glut des Gebeins“; und in dem vielleicht letzten, gleichwohl eigentümlich heiteren Gedicht „Spätes Aufwachen“ gelingt einmal die so selten mögliche Verknüpfung von Banalität und Tiefe, wiederum durch ein Augenschließen, das hier aber zu einem Sichaufbäumen des Bewußtseins gegenüber dem Tod wird:

Ich könnt mich sterben sehn. Unerträglich. Ich wache lieber mit geschlossenen Augen. Da kann ich mich konzentrieren. Solang sich einer konzentriert, stirbt er nicht. –

Von Anfang an aber gibt es bei Maurer auch schon kräftigen Vorbehalt gegenüber diesem augenschließenden Bewußtsein und seinen die Welt verstellenden und einsam machenden Bildern. „Ach, das Bewußtsein schafft nichts, wie der Spiegel nicht den Strom schafft / den Wald…“, heißt es bereits im Zyklus „Bewußtsein“. Da können sich die „goldenen Stühle“, auf die man gesetzt ist, um zu schreiben, leicht in das Sitzgerät eines Schusters verwandeln:

Wer hat mich auf das dreibeinige Stühlchen gesetzt, daß ich Sonne und Mond offenen Munds anstaune, statt sie zu greifen? („Gespräch mit meinem Leib“)

Ein Gegenmittel ist der ausgefüllte Augenblick, und hier vor allem jene von Maurer häufig beschworene, die Wand zur Wirklichkeit durchbrechende Heiterkeit, wie sie in dem Gedicht „Froher Morgen“ ganz selbstverständlich hervortritt: .

Ich weiß jetzt, was die Hühner wissen,
wenn sie picken.
Ich weiß, wen die Raben grüßen,
wenn sie mit dem Kopfe nicken.

Solche Heiterkeit fragt nicht, reflektiert nicht, weiß, ohne zu wissen. Deshalb nun rasch zurück zu jenem Mann, der unterm Jasminstrauch noch immer die Augen geschlossen hält und sich in der Balance zwischen Anwesenheit und Abwesenheit befindet:

Und durch die Nüstern dringt
der Duft in die Purpurhöhle
und durch die Poren sinkt
der Puder auf meine Seele.

Die Natur bläst zum Angriff, Sie nimmt den ganzen Mann. Füllt mit ihrem Himmelsblütenduft die animalische Leibeshöhle und überpudert die tatsächlich vorhandene Seele mit einer Portion befruchtendem Blütenstaub.
Freilich ist die Vermischung von Mann und Strauch auch hier durch Ironie gebremst. Solche Ironie, oft als unverbindlich abgetan und tatsächlich in dieser Hinsicht auch gefährdet, schließt immerhin das Wissen ein, daß es sich in der Kunst leider nur um Kunst handelt. Es herrscht sozusagen eine gewisse Höflichkeit gegenüber der übermächtigen Wirklichkeit. So bleibt dieses Gedicht bis zuletzt in der Schwebe: Noch der durch den Strauch überwältigte Mann kann aufstehn und gehn. Das wird er inzwischen hoffentlich auch getan haben, denn falls der Strauch überhaupt noch vorhanden war, so ist er indessen wohl endgültig abgehaun. Da wird das Gedicht nun an seiner Stelle die ohnehin unübersehbare Einheitsgarage näher ins Auge fassen müssen. Voraussetzung wäre, erneut die Augen zu schließen, um, mit dem Kopf durch die Wand, hinüber ins Reich der Freiheit zu gelangen.

neue deutsche literatur, Heft 441, September 1989

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