Titan: Heft 10

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch Titan: Heft 10

Titan-Heft 10

„MITSPRECHENDE GEDANKENWELT“

– Paul Celan als Leser Rudolf Borchardts. Zugleich der Versuch, sein Gedicht „Andenken“ zu verstehen. –

NICHT ERST SEITDEM DAS DEUTSCHE LITERATURARCHIV IN MARBACH die Bibliothek des Dichters Paul Celan verwahrt, interessiert sich die Forschung für ihn als Leser. Denn bereits in seiner Büchnerpreis-Rede „Der Meridian“ hatte er sich als ein Dichter präsentiert, der die Kunst des „Zusammenlesens“ meisterhaft beherrscht.1 Auch die Grenzen zwischen Lesen und Schreiben verlaufen bei Celan fließend.2 Mittlerweile sind seine ungewöhnliche Form der Lektüre und seine besondere Art, Spuren in Büchern zu hinterlassen, genauer erforscht worden. Vor allem die Herausgeber des Bandes zur philosophischen Bibliothek Celans haben wichtige Eigenarten seiner ,Lesekunst‘ herausgearbeitet.3 Seine Lektürespuren zeigen „die Bindung seiner Dichtung an die literarische Tradition und gleichzeitig die beginnende Loslösung des dichterischen Worts aus seiner textuellen Verankerung“, wobei das Lesen „unmerklich in ein Schreiben übergeht“.4 So finden sich am Rand seiner Bücher Kommentare, Gedichtentwürfe und häufig auch die Sigle „– i –“, die für „idée“5 steht und mit der Celan einen Moment der Inspiration kennzeichnet.
Ständig ist der Dichter auf der Suche nach „Vokabeln und Wendungen“ und pflegt auch seine Arbeitshefte – darunter eines mit Lektürenotizen zu Rudolf Borchardt
6 – so zu betiteln. Besonders augenfällig ist die ungewöhnlich starke autobiographische Lesart, die, wie die Dichtung im „Meridian“, unter dem „Akut des Heutigen“ steht, weshalb Celan seine Lektüre oft ebenso datiert wie die Niederschrift seiner Gedichte. Im Moment der Lektüre und dem sich anschließenden Herausbrechen und Aufschreiben einzelner, ihm wichtiger Sätze und Wendungen stiftet er neue Zusammenhänge, setzt Bettina von Arnim mit Platon in Verbindung, verknüpft Lenz mit Kafka, Schestow mit Büchner oder Pascal mit Kafka.7 Celan bezieht sich hier unter anderem auf ein Verfahren, das an die mystisch-alchemistische Tradition erinnert. Für die alte Formel: ,Solve et coagula‘ (,Löse und verbinde‘) – zwei Gedichte gleichen Titels aus dem Band Atemwende spielen darauf an8 – interessiert sich Celan sehr. Die Formel besagt, daß auf die Trennung der Symptome die Reinigung und schließlich die Vereinigung in einer neuen Zusammensetzung folgt. Sein Interesse für diesen Vorgang hat Celan etwa bei seiner Hofmannsthal-Lektüre dokumentiert. In seiner Ausgabe des Andreas-Romanfragments markiert er sich die Passage:

Sacramozos Interpretation des Schriftwortes „suchet erst das Reich Gottes, und alles andere wird euch zugegeben werden“ – hier in den Geschöpfen sucht er das Reich Gottes. „Das Ergon“, sagt die Fama, „ist die Heiligung des inneren Menschen, die Goldmacherkunst ist das Parergon“ – solve et coagula. Das universelle Bindemittel: Gluten; das universelle Lösemittel:Alkahest; – in der Liebe ist beides. In der Liebe: immer sublimieren, verflüchtigen, das Leben, den Moment aufopfern für das daraus herzustellende Höhere, Reinere, – dieses Höhere, Reinere zu fixieren suchen.9

Und in Hofmannsthals Buch der Freunde kennzeichnet Celan den Aphorismus:

Der Sinn der Welt ist Lösung. Nichts läßt sich im Weltlichen befestigen. Welt ist Werkstätte ist Ort der Gestaltung, Erneuerung, Wechsel, ist um der Fülle der Schönheit der Liebe willen usf.10

Mitte der sechziger Jahre denkt Celan sogar daran, nach dem Vorbild Hofmannsthals ein ,Buch der Freunde‘ mit Exzerpten seiner Lektüre zusammenzustellen.11 Dem kleinen, in schwarzes Leinen gebundenen Band sind Auszüge aus Adorno, Benjamin, Kafka, Nietzsche, Susman, Lao Tse, Rilke und Goethe eingeschrieben. Er beginnt mit einem Zitat nach Nikolaus von Kues:

Gott ist der Ort der Genauigkeit.

Auf der ersten Seite findet sich auch die Passage von den „berühmten Bücherkästen, die Seine entlang, die einem die Bücher aller Zeiten an den Rand des Lebens legen“. Sie stammt aus einem Brief Rilkes und zeigt, wie eng Leben und Lesen für Celan miteinander verknüpft sind. Zumindest gilt für ihn, daß er immer wieder am „Rande seines Lebens“ Bücher aufliest, um – über welche Umwege auch immer – einem Gegenüber zu begegnen.
Auch Rudolf Borchardt wird für Celan zeitweise zum ansprechbaren Gegenüber. Von der Häufigkeit der Nennung eines Dichternamens im Gesamtwerk darf man sich dabei nicht täuschen lassen. Sie verrät nicht viel über die Bedeutung, die das Werk eines Dichters für Celan haben kann. Hugo von Hofmannsthal ist dafür ein gutes Beispiel.Wie die Entwürfe zum „Meridian“ belegen, spielt der Wiener Dichter für Celans Poetik keine unbedeutende Rolle. Celans Lektüre-Liste reicht vom Andreas über die Rede Der Dichter und diese Zeit bis zum Kleine Welttheater.
12 Es ist sicher kein Zufall, daß Celan, als er sich im Juni 1957 das erste Mal seit seinem Fortgang im Jahr 1948 wieder in Wien aufhält, mit seinem Wiener Freund Klaus Demus Hofmannsthals Wohnhaus in Rodaun aufsucht. Dort entstehen Photographien des Hauses, die der Dichter kurz darauf an Hanne und Hermann Lenz schickt.13 Celan läßt sich auch vor dem „Fuchsschlössl“ fotografieren. Die Bilder, auf denen er vor der Treppe am Eingang des Rodauner Hauses zu sehen ist, gibt er jedoch Klaus Demus mit den Worten zurück: „Das habe ich mir noch nicht verdient“.14 In diesen Wiener Tagen ist zwischen den Freunden auch von Rudolf Borchardt die Rede. Jedenfalls übermittelt Demus gleich nach dem Aufenthalt ein spätes Borchardt-Gedicht aus der soeben erschienenen ersten Gesamtausgabe:

In den Gedichten Borchardts fand ich zu den wenigen sehr schönen, die ich kannte, noch eines, ein spätes, ich schreibe es Dir.15

Auch die meisten seiner Borchardt-Bücher erhält Celan von Klaus und Nani Demus:

Das Verhältnis zu Borchardt blieb, trotz meinen nicht aufhörenden Bekenntnissen,Anmahnungen, ja freundschaftlichen ,Zwängen‘, bei einer sich nicht einlassen wollenden ,Achtung‘ für ihn. „Dieser erstaunliche Rudolf Borchardt!“; erinnere ich mich als ein Äußerstes an Zugeständnis von seiner Seite. Ja, es erschien mir schon immer, daß die in der Bremer Rede erwähnte „Ode mit dem Granatapfel“, entgegen der Bezeugung früher Bekanntschaft mit ihr, Celan erst durch mich – wenn nicht überhaupt vermittelt, so doch als ein hohes Denkmal nahegebracht worden sei. Zumindest war sie zwischen uns verhandelt. – Gründe für Celans Distanz-Verhältnis zu Borchardt würde ich eher in der Person als in der dichterischen Potenz sehen – Borchardt war sich zum Deutschen bekennender, nicht sein wollender Jude; fast absoluter Kontrapart zu Celan selbst!16

Demus differenziert hier zu Recht zwischen dem Dichter und dem Menschen Rudolf Borchardt. Die „dichterische Potenz“ Borchardts ist Celan jedenfalls nicht verborgen geblieben.
Die enge Verbindung zwischen „Menschen und Büchern“ in seiner Heimat, der Bukowina, ist ein wichtiges Thema der Ansprache zur Verleihung des Bremer Literaturpreises, in welcher der Name Rudolf Borchardt in Celans Werk zum ersten und einzigen Mal auftaucht. Dort wird der Dichter mit seiner „Ode mit dem Granatapfel“ genannt, aber auch nur deshalb, weil Celan „beim Lesen“ des Gedichts der Name Rudolf Alexander Schröders erstmals begegnet sei. Schröder ist diese Ode seit dem Erstdruck 1909 gewidmet, und Schröder ist es auch, der am Tag der Preisverleihung an Paul Celan, am 26. Januar 1958, seinen 80. Geburtstag feiert. Obwohl die Nennung Borchardts an einer für Celans Poetik wichtigen Stelle geschieht, scheint sie doch wenig Anlaß zu bieten, um eine Beziehung zwischen den Dichtern Paul Celan und Rudolf Borchardt zu konstituieren. Es muß daher auch nicht verwundern, daß in der mittlerweile uferlosen Sekundärliteratur zu Celan der Name Borchardt so gut wie nie genannt wird. Interessant ist allerdings die Tatsache, daß an den wenigen Stellen, an denen sich Autoren des Verhältnisses Celan-Borchardt annehmen, vor allem Borchardts Stellung zum Judentum als eine Art Ausschlußkriterium verwendet wird. Jerry Glenn ist in seiner Biographie der erste, der auf die Nennung Borchardts in der Bremer Rede eingeht. Er versteht die Erwähnungen der „Ode mit dem Granatapfel“ und diejenige Schröders als „höchst ironisch“. Als Beleg führt er die Verse an: „Uns auch bräunt am Leben die Wange, Gastfreund, / Unseres Herbsttags, Kern über Kern entfaltend, / Lautlos wachsend, warten auch wir nach ganz vernichteter Jugend“ und folgert, daß das Wort von der „vernichteten Jugend“ aus dem Munde eines 1877 in ein prosperierendes Deutschland hineingeborenen Dichters, für einen 1920 geborenen Juden wie Hohn klingen muß, dessen Jugend wirklich zerstört worden sei.17 Glenn mutmaßt auch, daß Celan der Bezug des Wortes „vernichtet“ zu dem Wort „Vernichtungslager“ nicht verborgen geblieben sei, ebenso, wie jener des Wortes „Herbst“ auf den Tod von Celans Mutter. Ironisch sei auch der Hinweis auf Schröder als einen geachteten aber zweitklassigen Dichter, der vor allem mehrere Bände mit traditioneller christlicher Lyrik und eine Reihe patriotischer Gedichte wie den „Deutschen Schwur“ veröffentlicht habe. Glenns Interpretation bleibt spekulativ und die Charakterisierung der Persönlichkeiten Borchardt und Schröder recht einseitig, zumindest stark verkürzend. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß Werner Kraft in seinem Tagebuch 1987 ebenfalls die Frage stellt, was Celan an dieser Ode Borchardts ergriffen habe, und die Wahl – ähnlich wie Glenn – mit der viertletzten Strophe in Verbindung setzt. Allerdings meint Kraft:

Ich bin sicher, daß Celan die dritte und vierte Zeile als Jude gelesen hat, im Gegensatz zu dem Dichter selbst, der dies nicht gemeint hat, aber vielleicht hat das Gedicht es gemeint: Borchardt hat aus dem Halben ein Ganzes gemacht, und Celan ist an dem Ganzen, das nicht mehr deutsch sein durfte und doch wurde, zugrunde gegangen. Das Halbe wurde weniger und nichts.18

Diese Interpretation entspricht zumindest der Sichtweise Celans, der immer betont, daß Gedichte „unterwegs“ sind und „auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit“ zuhalten, wie es in der Bremer Rede heißt. Daher kann er in Bremen Schröders Namen und Borchardts Ode unter dem „Akut des Heutigen“ ,zusammenlesen‘.
Auch John Felstiner nimmt knapp auf die Nennung Borchardts Bezug. In einer Fußnote zur Bremer Preisrede heißt es:

Zu Ehren der preisverleihenden Stadt Bremen erwähnt Celan Rudolf Borchardts „Ode mit dem Granatapfel“ von 1907, die von der Bremer Presse veröffentlicht worden war. Borchardt war ein getaufter Jude, der für die Vorherrschaft der arischen Rasse eintrat. Ein derartiger Selbsthaß strafte in Celans Augen die deutsch-jüdische Vorkriegs-,Symbiose‘ Lügen – freilich mußten Celans Bremer Zuhörer 1958 die Anspielung auf Borchardt als Kompliment an die literarische Kultur ihrer Stadt verstehen.19

Den Beleg für seine These bleibt Felstiner allerdings schuldig, denn Celan hat sich an keiner bislang bekannten Stelle über einen angeblichen jüdischen „Selbsthaß“ Borchardts geäußert. Jean Bollack führt an einer Stelle seines Buches über Paul Celan, ebenfalls nur am Rande, die Beziehung zu Borchardt an. Die interessante Begebenheit, auf die er hinweist, bezieht sich auf eine Lesung Adornos in Zürich, die Celans Freund Franz Wurm organisieren wollte. Adorno hatte Wurm zugesagt, einen Vortrag über Celans Gedichtband Sprachgitter zu halten, der auch per Direktübertragung im Radio gesendet werden sollte. Am 25. Februar 1968 spricht Adorno aber dann über Rudolf Borchardt, weil er sich außer Stande sieht, über Celan zu schreiben. Bollack kommentiert diesen Vorgang:

Wenn man den Text über Borchardt kennt, so spricht derThemenwechsel für sich. Man kann sich nicht vorstellen, wie er über Celan hätte sprechen können, ohne zugleich alles zu widerrufen, was er an anderer Stelle über die esoterische Poesie gesagt hatte. […] Die auf diese Weise hergestellte Beziehung zwischen der Dichtung Borchardts und Celans, deren eine die andere weitgehend negiert, ist meiner Meinung nach bezeichnend für einen ihn in dieser Sprache quälenden Zweifel und für ein peinliches Mißverständnis.20

Celan nimmt aber, wie man heute weiß, nicht so sehr Anstoß daran, daß Adornos Funkrede Borchardt gilt, sondern ihn ärgert vielmehr, daß Adorno erneut ein Versprechen nicht einlöst, öffentlich etwas über seine Dichtung zu sagen.21 Die Rede Adornos, die später als Einleitung zu der 1968 in der Bibliothek Suhrkamp erschienenen Auswahl von Gedichten Borchardts abgedruckt wird, enthält sogar eine Reihe von Passagen, die man ohne Zögern auch auf Celans Dichtung beziehen könnte. Borchardt habe sich mit seiner Dichtung eine „Wiedergutmachung der Sprache“ erträumt, heißt es da etwa, und er sei der Meinung gewesen, daß nur „wenn die Sprache […] gänzlich umgepflügt wird“, Dichtung noch möglich sei.

Sein Timbre setzt sich zusammen aus dem redenden Element und dem des Nächtlichen. […] Der Grundhabitus dieser Gedichte ist der eines Sprechens ins Dunkle, das sie selbst verdunkelt.

Borchardts Verse rufen „wie über den Abgrund hinweg dem undeutlich gewordenen, entschwindenden Anderen zu“ und antworteten „auf absolute Einsamkeit“.22 Handelt es sich aber wirklich um ein „peinliches Mißverständnis“, wenn Adorno in seinem Text eine Beziehung zwischen Borchardts und Celans Poesie herstellt? Ist es wirklich so, daß die Dichtung Celans jene Borchardts „weitgehend negiert“, wie Bollack meint? Gib es nicht vielleicht doch Berührungspunkte zwischen der Dichtung Celans und jener Borchardts? Was weiß Celan über Borchardts politischen Ansichten und dessen Stellung zum Judentum? Nimmt Celan Borchardt als Dichter überhaupt wahr?
Zumindest die letzte Frage läßt sich mit einem erneuten Blick auf die Ansprache in Bremen beantworten: „beim Lesen von Rudolf Borchardts ,Ode mit dem Granatapfel‘“, heißt es da, womit zuerst einmal eine Borchardt-Lektüre des Dichters bezeugt wird. In Celans Bibliothek finden sich heute immerhin noch 16 Borchardt-Titel (vgl. S. 56f.). Nur wenige zeigen allerdings Lektürespuren und viele von ihnen tragen Widmungen, die belegen, daß er die Bücher als Geschenk erhielt. Ihr bloßes Vorhandensein in einer mehr als dreitausend Bände umfassenden Büchersammlung verrät noch nicht viel über Celan als Borchardt-Leser. Er kann die geschenkten Bücher ungelesen ins Regal gestellt haben, er könnte sie aber auch gründlich und ohne Anstreichungen rezipiert haben. Wer sich seinen Borchardt-Lektüren widmen will, muß zudem die imaginäre Bibliothek des Dichters berücksichtigen, also jene Bücher, die er vielleicht gelesen, aber nie besessen oder aber verschenkt hat. Was las er in der Bibliothek der Ecole Normale Superieure (ENS), in der Bibliotheque Nationale, der Bibliothek der Sorbonne, oder was hat er bereits in den Bibliotheken seiner Heimat in Czernowitz studiert?23

Für Karl Horowitz, in dankbarer Erinnerung an sein Haus, an seine Bücher, an vieles noch immer Gegenwärtige.

Aus Chalfens Biographie über Celans Kindheit und Jugend wissen wir auch, daß Celan in der Bibliothek des Germanisten Dr. Horowitz bereits als Schüler Bekanntschaft mit einem Prosaband Hofmannsthals machte, der den „Brief des Lord Chandos“ und die Rede „Der Dichter und diese Zeit“, „Das Gespräch über Gedichte“, sowie „Shakespeares Könige und große Herren“, enthielt (wahrscheinlich: Hugo von Hofmannsthal: Die Prosaischen Schriften gesammelt. Band I. Berlin: S. Fischer 1907). Über den Chandos-Brief sei im Hause Horowitz viel diskutiert worden. Er habe, meint Chalfen, Celans frühe Dichtung beeinflußt (Israel Chalfen: Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983 S. 67f.) Diese Fragen wird man nicht abschließend beantworten können, aber zumindest läßt sich zusammentragen, was sich zu Borchardt in Celans Briefen, Tagebüchern und Lektüreheften findet. Vor allem aber wird man jene Bücher aus seiner Bibliothek analysieren müssen, die Lektürespuren aufweisen.

(…)

Joachim Seng

 

 

 

Früher und nachhaltiger

als die „wissenschaftliche“ setzt eine produktive Rezeption Borchardts bei Autoren ein, die sein Werk nach 1945 zur Kenntnis nehmen: ohnehin bei Werner Kraft und Theodor W. Adorno, die ihn seit Jahrzehnten lesen, vor allem aber bei so unverbunden nebeneinander und nacheinander in der Epoche stehenden Figuren wie Paul Celan, Helmut Heißenbüttel, Friedhelm Kemp, Botho Strauß, Franz Josef Czernin, Martin Mosebach oder Martin Walser.
Der Auseinandersetzung Paul Celans mit Rudolf Borchardt in den Jahren 1954 bis 1960 geht Joachim Seng hier erstmals anhand bisher unbekannter Briefe, Entwürfe und der erhaltenen Arbeitsbibliothek nach. Dabei wird nicht nur die komplizierte Genese der Dankrede für den Bremer Literaturpreis vom 26. Januar 1958 rekonstruiert (der achtzigjährige Rudolf Alexander Schröder hätte die Zuerkennung gern verhindert), sondern auch die vielschichtige Entstehung des Gedichtes „Andenken“ aus dem Band Von Schwelle zu Schwelle sichtbar – als das Ergebnis einer intensiven Lektüre von Borchardts Altionischen Götterliedern aus dem Jahr 1924. Trotz einer Paul Celan jederzeit kritisch bewußten Distanz zu Borchardts Person und erst recht zu seinen Lebensthesen zeigt sich dabei, wie sehr diese punktuelle Wahrnehmung vor allem des Übersetzers nach Homer und auch Swinburne im Zeichen des von Celan auch sonst gern geübten „Zusammen-lesens“ für das eigene Dichten fruchtbar werden kann. „Dieser erstaunliche Rudolf Borchardt!“ lautet bezeichnenderweise sein wiederkehrender Ausruf. – Die Abhandlung erscheint zum 80. Geburtstag des mit Paul Celan befreundeten Dichters Klaus Demus, der ihn immer wieder auf Rudolf Borchardt hingewiesen hat.

Stiftung Lyrik Kabinett, Klappentext, 2007

Zu diesem Heft:

Die vorliegende Publikation geht zurück auf einen Vortrag während der Dritten Forschungsklausur über Rudolf Borchardt in Hombroich, 6–9. Oktober 2005. Nach einer anregenden Diskussion mit den Teilnehmern wurde er für die Druckfassung überarbeitet und ergänzt.

 

 

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