Tomaž Šalamun: Wink an die Sphinx

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Tomaž Šalamun: Wink an die Sphinx

Šalamun: Wink an die Sphinx

DICHTERLEBEN

Die Liebe zerriss all meine Theorien.
Die Sterne verzehrten mich.
Ich bin anonym, was ich immer so furchtbar
aaaaagewünscht hatte.
Ich bin ein Licht, ein unscheinbares Streiflicht.
Es ist wirklich phantastisch, wie mich die Sterne
aaaaaverzehren.
Noch und nöcher, was für eine unendliche Nahrung bin ich.
Und dann: pink!
berühre ich Haare,
pink! schreibe ich ein Gedicht, weite die Ewigkeit.
Wie jetzt hier: Das Schloss Yaddo ist ein Stützpunkt für die
Erneuerung der Welt.
Ich sehe einen Baum: ich sehe, ich fühle, ich weiß,
ich liebe Maruška, Maruška liebt mich.
Ein Marienkäfer fliegt auf meine Schulter.
Das ist Ana.
Jetzt tüncht sie oder spaziert mit ihrer Mutti
durch Pfützen und sagt:
„Ich habe keinen Geburtstag, bevor Tomaž zurückkommt.“
Und ein schöner, bunter Vogel fliegt gegen mein Fenster,
die Seelen von Freunden, verbunden zu einem zarten Netz
rund um den Planeten,
denn wir sind alle Liebhaber.
Dann gebe ich zehn Briefe auf, lauter Love letters.
Nach Übersee, hierher.
Wir Dichter entstehen durch physische Berührung und durch Lektüre.
Tschung! Tschung! patschen wir in die Sonne.
Für Philosophen geht das alles zu schnell.
Sie glauben, wir seien ein bisschen verrückt und zu einfältig,
weil wir dieselbe Sprache verwenden wie die Kinder.
he, ihr, Trottel, ihr langweiligen Dichter!
Wäre die Welt nicht viel prächtiger,
wenn auch ihr mit euren Meistern physischer umginget?
Bum! Bum! Die Küsse des Volkes fallen auf meinen Kopf.
Dass es knallt!
Ich hoffe, dass ich es ertragen,
dass ich diese Liebe ewig erstatten kann.

 

 

 

Begründung der Jury

Tomaž Šalamun und sein Übersetzer Fabjan Hafner erhalten für die Bände Ballade für Metka Krašovec und Lesen: Lieben den mit 15.500 Euro dotierten Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie 2007.
Beide – der 1941 in Zagreb geborene, in Koper/Slowenien aufgewachsene und heute in Ljubljana lebende Tomaž Šalamun ebenso wie der 1966 in Klagenfurt geborene Fabjan Hafner – sind Dichter und Übersetzer; für einen Preis, der gleichermaßen einen Dichter und seinen Übersetzer auszeichnet, eine glückhafte Konstellation.
Für die Jury besteht kein Zweifel: Tomaž Šalamun ist der bedeutendste slowenische Lyriker seiner Generation! Er begann in den sechziger Jahren als Konzeptkünstler und war Mitglied der multimedialen Gruppe OHO- Kollektiv. Als Redakteur der Literaturzeitschrift Perspektive wurde er 1964 zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt, kam nach fünf Tagen wieder frei – und wurde zum Helden. „In der Folge“, schrieb er, „mußte ich meinen Gedichten alles geben, um diesem unverdienten Ruhm gerecht zu werden.“
Poker, sein 1966 im Samisdat erschienener Erstling, war folglich eine bewußte ästhetische Provokation. In der Tradition der poètes maudits, vor allem Charles Baudelaires, aber auch des russischen Futuristen Velimir Chlebnikov, sprengte er alle Regeln seiner Sprache, überschritt poetische Geschmacks- und Tabu-Grenzen, suchte die Verbindung von Schönheit und Schock.
Bis zum heutigen Tag ist das Rebellische dieses Debüts die künstlerische Haltung Šalamuns geblieben – die Gedichte aus vierzig Jahren in Lesen: Lieben stellen dies unter Beweis. Auch in seinen neuesten Gedichten ist Šalamun auf der (offenen) Suche nach poetischen Möglichkeiten des Aufbegehrens.
Erstaunlich ist dabei der nicht nachlassende stilistische Erfindungsreichtum. Šalamun beherrscht mit größter Souveränität die unterschiedlichsten Register, Tonlagen und Sprechweisen – sei es das offene, weitausschwingende, rhapsodische oder das kurze, strenge Gedicht, sei es der hohe oder der sarkastische, auch schrille Ton, sei es der existentielle Ernst oder das spöttische, flapsige Sprechen…
Eine große Herausforderung für einen Übersetzer! Doch Fabjan Hafner hat bei seinem jahrelangen Zwiegespräch mit den Gedichten Šalamuns einen untrüglichen Sinn für ihren Sprachgestus, Rhythmus und Klangfarbe und nicht zuletzt für ihre unorthodoxen Bildfindungen entwickelt. Es ist ihm dank seiner genauen und einfühlsamen Lektüre gelungen, überzeugende deutsche Äquivalente für die poetische Kraft der Originale zu finden.

Urs Allemann, Michael Braun, Cornelia Jentzsch, Joachim Sartorius, Norbert Wehr

„Atmen mit dem Ohr“

− Laudatio von Urs Allemann auf Tomaž Šalamun und Fabjan Hafner. −

Als genügte es
seine Leier
zu erheben

und
die ganze Stadt
stünde in Flammen!

Ein Gedicht von Fabjan Hafner. Wenn man es SO liest, ein skeptisches Gedicht. Es steht in Gelichter + Lichtes, Hafners erstem deutschsprachigen Gedichtband, erschienen 1991 bei Droschl. Ein Jahr vorher waren dort unterm Titel Wal Gedichte von Tomaž Šalamun erschienen, zweisprachig, slowenisch/deutsch, Auswahl und Übersetzung: Fabjan Hafner.

Als genügte es
seine Leier
zu erheben

und
die ganze Stadt
stünde in Flammen!

Wenn man es SO liest, ein enthusiastisches Gedicht, das ernsthaft mit der Rauschphantasie vom Dichtungszauber spielt.
Angespielt wird aufs Nero-Event. Sie erinnern sich: 64 nach Christus, Rom brennt, der Kaiser greift in die Klampfe und liefert zum Brand, den er möglicherweise selber hat legen lassen, gleich noch den passenden Song ab, Thema: Trojas Zerstörung.
Den Dichter Hafner interessiert der historische Nero nicht. Er hört einen anderen Nero, der Hölderlin variierend behauptet:

Was brennet aber, stiften die Dichter.

Ist das wahr?, fragt Hafner. Brandstiftung durch Gesang – kann das gelingen? Ist es Dichtern gegeben, bloss die Leier heben zu müssen und ganze Städte, Städte wie Rom oder Münster, stehen in Flammen?

Was sagt Tomaž Šalamun dazu? Er sagt:

Alle wissen: Was ich
schreibe,

passiert wirklich.

Und statuiert ein Exempel:

Sein Köpfchen wäre gleich
ab.

Das Köpfchen dessen, der es wagen wollte, mit dem Dichter sich anzulegen. Nur „Kopf ab!“ muss der Dichter schreiben – schon ist er enthauptet, der Feind. Dass er nicht „Kopf“ schreibt, sondern „Köpfchen“, ist schon die halbe Enthauptung. Wundersame Macht der Sprache, die uns via Diminutiv den Feind nach allen Regeln der Kunst zu depotenzieren gestattet. Wenn ich, den Politkoller kriegend, von der Bühne des Erbdrostenhofs aus ein „Putinchen!“ in Richtung Moskau, ein „Bürschlein!“ in Richtung Washington schleudern würde, dürfte ich dann nicht, Brechtisch gesprochen, hoffen, die Herrschenden sässen kraft meiner Worte unsicherer da?
Sie tippen mit dem Finger gegen die Stirn. Halten mir vor, mit „Was ich / schreibe, // passiert wirklich“ sei doch, ganz klar, das Gegenteil des scheinbar Gesagten gemeint. Zum Allmachtsanspruch seines Metiers gehe der Dichter mit diesem Satz doch selbstironisch grade auf Distanz. Ironisch? Da sei Gott vor. Gott, ja, denn Šalamun warnt uns:

Wer mich ironisch
liest, macht sich
schuldig

vor Gott.

Wobei allerdings zu bedenken ist, dass niemand uns hindern kann, auch diesen Satz ironisch zu lesen. Und dass es sich bei Gott um niemand anders handelt als Tomaž Šalamun selber. Doch so weit sind wir noch nicht.
Zunächst gilt es mit Šalamuns „Volkslied“ festzuhalten:

Jeder echte Dichter ist ein Ungeheuer.

Denn, so geht das Volkslied in Hafners erster Übersetzung für den Wal weiter:

Er vernichtet seine Stimme und die Menschen.
Sein Gesang errichtet eine Technik, welche
die Erde vernichtet, damit uns die Würmer nicht fressen.

Sechzehn Jahre später, in seiner Überarbeitung der Übersetzung für den Suhrkamp-Band Lesen: Lieben heisst es dann:

Er ruiniert seine Stimme und die Menschen.
Sein Singen entwickelt eine Technik, die die Erde
ruiniert, damit uns die Würmer nicht fressen.

Die neue Fassung ist eleganter, näher an heutiger Alltagssprache. Allerdings: Genügt es wirklich, die Erde zu RUINIEREN mittels Gesang, damit uns die Würmer nicht fressen? Muss sie dazu nicht doch buchstäblich VERNICHTET, durch Buchstaben entstofflicht, immaterialisiert werden zu Poesie?

Nur ein Dichter verkauft seine Seele, um sie
vom Körper, den er liebt, zu lösen.

Indem er sie als Lyrikband auf den Markt wirft – und wenn wir, die Leser, das Volk des „Volkslieds“, drin sind im Buch, dann hörn wir auf Wurmfrass zu sein. DichterKÖRPER, LeserLEIBER frisst er, der Wurm, und auch das Papier, auf dem das Gedicht steht, ist nicht gefeit gegen ihn. Es selbst aber, das immaterielle Gebilde Gedicht, sehr wohl. Würmer sind absolut unfähig dazu, Gedichte zu fressen. So dass, wer und was immer es ins Gedicht schafft, fortexistiert. Sogar der Wurm selber, wenn er es hineinschafft, ist vor sich sicher.
Dichtermonster wie Šalamun und Realunholde vom Schlage des Nero haben nichts gemein. Die Neros sind gescheiterte Künstler, die, da es ihnen nicht gelingt, in ihrer Kunst Welt zu verwandeln, beschliessen, Politiker zu werden, um die Welt zur Strafe in Schutt und Asche zu legen. Der „echte Dichter“ sensu Šalamun träumt nicht von Schutt und Asche, sondern vom Phönix. Der, aus dem Schuttplatz Erde steigend, den Doppelnamen Leben und Poesie trägt.
Poesie als Fortsetzung des Lebens mit anderen Mitteln. Poesie als Verführung zum wirklichen Leben – zur Poesie.
Nirgends hat Šalamun seine Vision von der Verführung zum Leben so verstörend in Szene gesetzt wie im Gedicht „Epitaph“. Es knüpft an biblische Szenen an, in denen Wunder gewirkt und Tote zum Leben erweckt werden. Hier aber ist es ein – vermeintlich – Toter, der vom Grab, vom Grabstein aus einen – vermeintlich – Lebenden zum Leben erweckt:

Wer immer auch niederkniet an meinem Grab,
die Erde wird erbeben. Ich werde dir den süssen Saft aus
dem Nacken und den Genitalien saugen. Gib mir deinen Mund.
Gib acht, dass dir kein Dorn das Trommelfell
durchbohrt, wenn du dich wälzt wie ein Wurm,
lebend vor einem Toten. Sanft, sanft soll dich diese
Sauerstoffbombe waschen. Sie soll dich nur so viel zerreissen,
wie es dein Herz erträgt. Steh auf und
merke dir: Ich liebe jeden, der mich erkennt.
Immer. Steh jetzt auf. Du hast dich ergeben und bist erwacht.

Sogar als Bombenschmeisser outet das Ungeheuer sich hier. Aber:

Sanft, sanft soll dich diese
Sauerstoffbombe waschen.

Sprachlich ist die Sauerstoffbombe nach dem Vorbild der Wasserstoffbombe gebaut. Wo diese auf die totale Eliminierung von Leben abzweckt, ist jene poetisches Gegenprogramm, verheisst Leben. Das „Wasser“ als Bestandteil des überschriebnen Worts „Wasserstoffbombe“ ist erinnert im Wort „waschen“ – erinnert und als Lebenselement rehabilitiert. „Sie soll dich nur so viel zerreissen, // wie es dein Herz erträgt“: Nur wenn herzzerreissende Verse dem Herzen die Kraft zurückgeben, es, mit Tomaž Rilke gesprochen, „gerade noch“ zu „ertragen“, von Versen zerrissen zu werden, kann das dem Realitätsinfarkt erlegene Herz wieder schlagen.

Nur Gott ist.

Mein Tod ist mein Tod, Ihn teile ich nicht mit dem
dumpfen Frieden anderer Vernichteter unter der Erde.

Was unterscheidet (in der ersten Strophe des „Epitaphs“) den Tod des toten Dichters, der spricht, vom Tod der „andere(n) Vernichtete(n) unter der Erde“? Dass er NICHT tot ist. Dass seine Seele, gelöst „vom Körper, den er liebt“, der aber im Grab verwest wie die Körper der anderen, weiterlebt IM, besser ALS „Epitaph“. „Nur Gott IST“ Das Epitaph IST. Also ist das Epitaph Gott. Also ist, wenn das Epitaph die Seele des Dichters ist und wenn wir in dem Dichter, der sich hier ins Grab gelegt UND unsterblich gemacht hat, unseren Europäischen Poesiepreisträger Tomaž Šalamun persönlich erkennen dürfen (und ich glaube, wir dürfen, denn: er liebt jeden, der ihn erkennt), also, sage ich, ist Tomaž Šalamun Gott.
Starker Tobak. Ich hatte Sie vorgewarnt. „Ich bin Gott und Mensch in einem,“ „Ich bin ein Wasserschlauch. Ich bin Gott, weil / ich liebe.“ O-Ton Šalamun. Blasphemisch? Nein. Allerdings: Šalamun liebt es, Missdeutungen zu provozieren, die er dann im angetäuschten Brustton entrüstet zurückweist. Er mag es, blasphemisch zu KLINGEN. So wie ihm der Exzess, das Obszöne, die Masslosigkeit eine Lust sind. Understatement ist nicht im Repertoire des Entgrenzungskünstlers. Die Tonart ist hyperbolisch. Der Šalamun-Sound hat häufig einen Beiklang von Exaltation. Dem Feuer dieser Poesie tuts keinen Abbruch, dass es sich gern als bengalisches Buntfeuer tarnt.

Schön und gut, aber „Ich bin Gott“ – ist das nicht doch schierer Nero, poetisches Gottkaisertum? Weiter helfen Verse aus dem Gedicht „Brief“:

Du hast mich verworfen, weil…

… ich behauptet habe, ich sei
Gott, und du es geglaubt hast. Du dachtest, es sei
Grausamkeit, doch es war
Feuer, Wasser, Luft.

Es ist die Energie der Elemente, die Šalamun als göttliche usurpiert. Er will Feuer sein, er will brennen:

Nicht nur ich.
Jeder, den ich berühre, wird zur
Nahrung dieser Flamme.

Dieser als Gedicht lodernden Flamme.

Ich nehme Nägel,
lange Nägel,
und treibe sie in meinen Leib.

Dann stecke ich alles in Brand.
Es brennt lange,
es brennt sieben Tage lang. Übrig bleiben nur die Nägel,
verlötet und rostig allesamt.
So werde ich bleiben.
So werde ich alles überstehen.

Als Gedicht, versteht sich. Mit Gott ists genauso:

Gott ist aus Holz geschnitzt und mit Benzin übergossen.

Also: Leier heben, Holzklotz anzünden, Gedicht abbrennen!
Šalamun will Wasser sein, will fliessen: „Mein Element ist das Meer, wenn ihr keins habt, gebe ich euch eins.“ „Gott trage ich im Herzen und verschenke ihn, / wie Wasser für jene, die schon lange nicht getrunken haben.“ Šalamun IST Wasser, ist sogar Überwasser:

Manchmal zerfliesse ich
mehr als Wasser, denn das Wasser liebt am meisten.

Und:

Die Liebe ist alles.

Warum nicht „Gott“ sagen zum Überwasser, zur Liebe, zu Šalamun.
Wir dürfen uns den Energieverbund aus Šalamun, Gott und den Elementen als ziemlich heilige Grossfamilie vorstellen, wie uns das von der zwar kleinfamilial und männerlastig angelegten Dreieinigkeit her schon bekannt ist. „Das Feuer ist mein Bruder. / … / Die Luft ist mein Bruder. / Doch der älteste Bruder ist mein / Körper, der bin ich selbst. / Ich selbst bin der Bruder, / Ich habe unzählige Schwestern: die Regentropfen.“ „… die Scheisse ist mein Bruder…“ Familienname: Gottšalamun. Und jedes Familienmitglied, ob es nun Tomaž, Feuer, Regentropfen, Samen, Ei oder Rosenblatt heisst, ist zugleich die ganze Familie, die allein und mit allen und allem zusammen in der immer gleichen, immer anderen Wohnung Gedicht lebt: mal einer Ein-Zeilen-Wohnung, mal einem Fünf-Seiten-Appartement.

Ich fahre den Leuten
mit dem Kopf voraus in den Mund und töte und
gebäre sie, töte und gebäre, weil ich schreibe.

Der Dichter als Gott. Der Dichter als Überwältigungs- und Gebärmaschine. Der Dichter am Stirb-und-Werde-Pult. Der Dichter an der Metaphern-Schleuder (Was ist das Elementespektakel, wenn nicht Metaphernshow?). Der Dichter, auf die quasi serielle Fertigung von AlIeinigkeit spezialisiert, alles mit allem mischend, alles in alles verwandelnd: Non-Stop-Metamorphose, Welt, Leben, (Literatur!) einatmen, Gedicht ausatmen: Metabolismus total.
Ist das alles ernst gemeint? Ja – und dann wieder nein. Im Dichter steckt šalamunseidank auch ein Slapstickartist. Er will die Ekstase, aber er lässt auch mal durchblicken, dass es ihm grad beliebt, sie zu inszenieren, Im Gedicht „Erziehung“ teilt der Dichterproteus in einer über zig Verse sich verströmenden Flut von Nomina mit, welche Gestalten (nebst Gott, Feuer, Wasser) er noch alles annehmen kann.

Ich bin ein Rosenblatt.
Luchs, Rasen, Spinne, Gold, Uhr, Tod,
Vater, Mutter, Knabe, Greis, Wand, Frosch,
Brotrinde

usw. ich überspringe ein paar Verse, „Amsel, Zuber, Brücke, Sieb, Apfel, Brot / die Brotrinde werfe ich weg, Kopf, Siegel“ usf. Der Einschub „die Brotrinde werfe ich weg“ ist umwerfend komisch: „Brotrinde war ich schon, jetzt bin ich Brot, also ist hier eine Brotrinde zuviel auf der Bühne“ – heilige Dinge, Hostien eines poetischen Transsubstantiationsrituals, werden durch ein secces Apart entzaubert zu beliebig entsorgbaren Requisiten eines Variétéauftritts.
Šalamuns theatralische Kommunionspoesie hat keine Scheu vor den Grossvokabeln wie „Gott“ und „Wahnsinn“ und „Leere“. Und keine Scheu vor den kleinen, niederen Mitspielern im Ensemble: „ich will, dass alle atmen, die mäuse, die scheisse“ Keine Scheu vor der spätsurrealistisch geschliffnen Preziose („Von allen Formen des Glases ist das Lachen dem Tod am nächsten.“), keine Scheu vor der unverschlüsselt an die Menschheit abgesandten Depesche:

Die Seele ist ewig, wisst ihr das nicht?

Und keine Scheu vor der Selbstdemontage:

Meine Dichtung ist schon längst nicht mehr
glaubwürdig.

Vor lauter Glühen verfault sie.

Stimmt nicht. Aber es glüht sich besser, wenn die Flamme zwischendurch runtergedreht werden darf. Kein Dichter, keine Stadt steht IMMER in Flammen. Dauerglühn ist Scharlatanerie. Gibt sich diese als solche zu erkennen, zündet Komik den Funken, der weiterzuglühen gestattet. In dem Gedicht, das mit der Selbstbezichtigung „Fäulnis“ schliesst, stehn unmittelbar vorher folgende Verse:

Du bist fern und die Sprache ist nah. In der Herde verschlingt sie mich.

Sie wälzt sich auf mich wie Hannibal mit seinen Eseln.
(Die Elefanten habe ich schon zu sehr bemüht;
ich hoffe, er hatte auch Esel.)

Dass Šalamun uns die Esel erst vorführt, dann den Trick verrät, beschert dem Gedicht die Glaubwürdigkeit, die es sich, kokett verzweifelnd, abspricht.
Meine Damen und Herren, ich hab Ihnen kaum was gedeutet. Bloss zitiert und bisschen paraphrasiert. Nicht NUR aus Denkfaulheit, hoff’ ich. Tomaž Šalamun ist kein Dichter, der verstanden im Sinne von: ausgelegt, werden will. „Ich bin / wahnsinnig im // Schnee. Meine / Schritte attackieren / den Verstand // der Herren.“ heissts in Erinnerung. Šalamun liest nur mit Gewinn, wer sich, ob Herr oder nicht, diese Attacke gefallen lässt – und Lust empfindet dabei. Šalamun lesen, das funktioniert wie die Fortsetzung von Atmen mit anderen Mitteln. Wie, sagen wir, Atmen mit dem Ohr.
Keiner hat das so beherzigt und zur eigenen Sache gemacht wie Šalamuns Übersetzer Fabjan Hafner. Und darum möchte ich schliessen mit einem Hafner-Gedicht aus dem Zyklus „Aus der Geschichte des Lauschens“, der 2006 im Heft 173 der manuskripte erschienen ist. Das Gedicht spricht aus, was zwischen dem Heben der Leier und dem In-Flammen-Stehen passiert. Es sagt, was In-Flammen-Stehen NICHT heisst (Kerze, 800 Grad) und was es heissen könnte. Es beschreibt, wie es kommt, das Gedicht, wies empfangen, übertragen wird. Machen Sie sich auf Engel gefasst. Und überhören Sie nicht die Stelle, wo vom „intakten Trommelfell“ die Rede ist. Erinnern Sie sich an Šalamuns „Epitaph“, wo es hiess: „Gib acht, dass dir kein Dorn das Trommelfell / durchbohrt H…“

Schliesse deine Augen. Und schon umhüllt
Nacht jedes Blutundwundenhaupt. Wittere
den Raum. Fahr mit dem Finger durch die
Kerzenflamme. Die 800 Grad tun nicht weh.

Ein Russfleck auf der Fingerspitze, keine
Wunde, fast kein Schmerz. Doch deshalb
sind die Ohren sperrangelweit offen. Und
schon Maria empfing bekanntlich durch

ihr Ohr. Und Beschwingte, Beflügelte
betreten den Leib durch den Gehörgang,
durchs intakte Trommelfell. Füllen
den Kopf, verscheuchen alle Gedanken,

schlagen sie in die Flucht. Jedes Verstehen
ist Abweg, jedes Denken Irrtum. Deshalb
zwinkere nicht. Schau nicht, kokettiere nicht.
Der Orgelton erfüllt die Brust, Lern endlich

atmen. Die Schultern sind von einem alten
Joch befreit. In diesem Augenblick wächst
du um einen Zoll oder zwei. Es fehlte noch,
dass du über Mosaikboden schwebtest. Und

ohne es zu merken, hast du begonnen zu singen.
Ja, singen. Du singst.

Zwischendurch aber, denn der Orgelton strengt auch an, dürfen wir lachen. Und dann und wann ein weisser Esel. Von allen Formen des Eises ist das Lachen dem Leben am nächsten.

Urs Allemann, aus: Hermann Wallmann (Hrsg.): Als ihr Alphabet mich in die Hand nahm. Daedalus Verlag, 2011

 

 

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Nachruf auf Tomaž Šalamun: NZZ

 

Tomaž ŠalamunLunch Poems an der University of California, Berkeley, 5.2.2009.

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