Ulf Stolterfoht: fachsprachen XIX–XXVII

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ulf Stolterfoht: fachsprachen XIX–XXVII

Stolterfoht-fachsprachen XIX–XXVII

DICHTER-LESER-BINDUNG

nie stärker ausgeprägt als jetzt. aggregatzustand text.
sätze aus resten von testosteron. singuläre
aaaaazeichenpro-
duktion. denn so weit sind wir schon: daß einer am
aaaaanach-
mittag aufsteht ausgeht und seelenruhig schuß.
aaaaaschluß.

Ich entlasse sie mit einer aufnahme aus dem jahre
aaaaa’56:
„die bübin und herr lazarus“. mehr war es einfach nicht.
und wir sind längst im nächsten gedicht: „wo immer na-
belschnüre pulsen bin ich (zwilling vollschlank ungebun-

den) hellwach bzw. leicht devot“. puls wird flach. dann
neuerliches ende. die linguistische wende. zum guten. aus-
bluten. name geschützt. eine adresse die nützt: schwarze
hilfe berlin bei den fischgärten 3 in 10822. eine andere

anschrift von klasse: wien negerlegasse. so verläuft sich
schließlich auch dieses gedicht. im vierten wird die bin-
dung enger. strenger. schmeil / fitschen erheben gewisse
lebensformen zur norm. namentlich galle qualle hallimasch.

sowie nicht ohne emphase: elektro schmarotzke (hochkirch-
straße). nun muß es sich weisen / endet nach achtzehn zei-
len der zwang: welcher leser bleibt dran / begleitet uns ohne
rümpfen zum fünften? die durchtriebenen sechs oder sieben.

lyrikkonstante „plus / minus x“. macht aber nichts. wir ziehen
das durch. richtig geschlacht wird in acht: gedankliche maus
auf dem langen marsch durch die schlange. peristaltik gewal-
tig. apfel und wurm. mutierte klemme / zange-konstruktion.

 

 

 

Ulf Stolterfoht beherrscht das Kunststück,

Gedichte zu schreiben, die mit allen Wassern der philosophischen und poetologischen Mühlen gewaschen sind – und uns doch zu unterhalten – oder gerade deshalb: weil er sie auf eine Mühle leitet, mit der er nicht einfach zum Klappern beiträgt, sondern zu dessen Erkenntnis. Die dritte Lieferung der „fachsprachen“ traktiert ihre Gegenstände – Petrarca und Hamann, Gertrude Stein und Reinhard Priessnitz, deutscher Aberglaube und Elektrotechnik, Satz- und Metapherntheorie – mit dem respektvollen Witz desjenigen, der Sinn und Unsinn zu scheiden trachtet und fasziniert beobachtet, wie eines ins andere umschlägt.

Urs Engeler Editor, Ankündigung, 2005

 

doctor dre im blütenschnee

− Was Sie schon immer über Lyrik wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten. Ulf Stolterfoht gibt die Antworten und wird zum Glück nicht müde, die Arbeit an den „fachsprachen“ fortzusetzen. −

fachsprachen X-XVIII – was für ein trockener, diskreter und wenig anschaulicher Titel für ein Projekt, das vor Ideenreichtum nur so sprüht. Und was für ein Ausdruck für eine Sammlung von Gedichten, die so wortreich und so sinnlich, so reglementierend und trotzdem so anarchistisch daherkommen, dass man meinen möchte, es sei sich jemand im Fach des Gedichteschreibens besonders sicher gewesen. Hier haben wir es mit einem ganz und gar speziellen Projekt zu tun, nicht für jeden zugänglich, nur für die, die sich in den Duktus der jeweiligen „fachsprache“ einarbeiten möchten.
Ulf Stolterfoht hat – wie so viele andere Schiftsteller vor ihm – entdeckt, dass man in Gedichten auch ganz wunderbar über Gedichte schreiben, die schwierige Geburt eines Textes selbst in Verse übersetzen und all den Gefühlen und Gedanken, die im Kampf mit dem leeren Blatt sich in der Seele des Dichters ausbreiten, Ausdruck verleihen kann. Aber damit nicht genug, denn es geht nicht nur um den Akt des Schreibens selbst; vielmehr franst das ganze Projekt der „fachsprachen“ in etliche Richtungen aus. Ganz ungeniert wird über das gesprochen, was in vielen Fällen der Text verbirgt: Über Vorbilder, über die Arbeiten und Autoren, die den Schriftsteller Ulf Stolterfoht zu seiner Lyrik gebracht haben. Das hat nichts mit einer verklärenden, bauchpinselnden oder beweihräuchernden Verehrung der literarischen Ahnen zu tun. Zum einen, weil Stolterfoht über den Bereich der Literatur hinausgeht und auch Theoretiker wie Adorno oder Komponisten wie Luigi Nono mit ins Spiel bringt, zum anderen aber auch, weil in den Gedichten enorm offen und unprätentios der „state of the art“ verhandelt wird. Zwischen den Zeilen versteckt sich die Auffassung, dass Kunst immer etwas unmittelbar Neues präsentieren muss, und jede plumpe Wiederholung oder jeder naive Rückgriff auf die tradierten Methoden jedenfalls ästhetisch zum Scheitern verdammt ist.

Weite Welt aus Sprache
Damit ist eigentlich auch klar, womit man bei fachsprachen XIX–XXVII zu rechnen hat. Hier geht es um Sprache und um all das, was man mit der Sprache so anstellen kann. Wenn man also mal nicht versucht ist, in einem Gedicht schnöde Sozialkritik zu üben, die Verfallsdaten unserer Kultur zu benennen oder über die Vergänglich- und Vergeblichkeit des Lebens ostentativ zu jammern, sondern die Sprache selbst zu Wort kommen lässt, das einzelne Wort nimmt, damit es von anderen Wörtern, die einen ähnlichen Klang oder ein ähnliche Bedeutung oder sogar beides besitzen, angezogen und modifziert wird, dann taucht man in eine ganz eigene Wirklichkeit, einer Welt aus Sprache ein. Stolterfoht verabsolutiert das Wortmaterial nicht. Die Arbeiten zerbröseln einem nicht im Kopf, da er in vielen Fällen auf intakte, fast vollständige Sätze zurückgreift, die in ihrem sprachlichen Witz einfach wunderbar sind:

zeugma deutma hermesei – da muß ein schleiermacher langen
scheidt für klöppeln. flicht sich den wirren bart zurecht und
krault. dem großen protestierenden wuchs diese zeile einfach
zu. um 1808. noch friedrich ast verstand sie fast.

Wie erstaunlich mutet es da an, dass diese Texte ihre Stabilität vor allem auch aus der Tatsache gewinnen, dass Verse und Strophen, ja auch etliche Gedichte, die gleiche Länge besitzen. Blättert man den Band einfach durch, so fallen die vielen wohlvermessenen Strophenblöcke ins Auge und natürlich auch die permanente Kleinschreibung, die ein Hinweis ist auf Stolterfohts literarische Vertrauensleute aus der experimentellen Poesie. Warum auch nicht? Wieso sollte das Substantiv dem Verb überlegen sein, nur weil es großgeschrieben wird? Außerdem fällt es bei konsequenter Kleinschreibung schwerer, die Wortklassen zu bestimmen, und es bedarf der Interpretation. Der Leser als Interpret – was will man mehr als Lyriker.

Thomas Combrink, www.titel-forum.de, Dezember 2004

Hermeneutik hat einen Knall

− Hase und Igel: Neues vom Experimentaldichter Ulf Stolterfoht. −

Elektrotechniker, Viehschlächter Linguisten haben eines gemeinsam: sie verwenden Terminologien. Darin manifestiert sich das enge Verhältnis von Wörtern und Sachen aus der Sicht des Experten, was Laien oft befremdet. Diesen Effekt erforscht der aus Stuttgart stammende Dichter UIf Stolterfoht im nunmehr dritten Band seiner „fachsprachen“ (FAZ: vom 19. September 2003). Naheliegenderweise gerät auch der lyrische Jargon der Literatur-Häuser und Poetry-Slams in den Blick. Der entsprechende Gedichtzyklus heißt „handbuch des deutschen aberglaubens“ und verknüpft Funde aus dem gleichnamigen Volkskunde-Lexikon mit dem Slang von Computerpoeten und „jungen schwäbischen künstlern“. Unüberhörbar ist Stolterfohts Ironie, doch unversehens wird ein Gedicht über allzuschicke Metapherntheorien persönlich:

du hörst dich in den ranken rascheln,
dir haften die dinge wie namen am kleid. bist du bereit
für den satz? nun: auf dem acker liegt der bube und. strahlt aus. war
das so schlimm? allerdings UND: ihm wohnen igele im mund.

Diese Metapher für einen auf dem semantischen Feld gefallenen Dichter ist zu schön, um sie nicht dem Dichter Stolterfoht selbst in den Mund zu legen. Ja, „ihm. wohnen igele im mund“.
Bedenkt man, daß zwei Gedicht-Zyklen des Bandes dem Dichter Petrarca und dem Sprachphilosophen Hamann gewidmet sind, so darf man fragen, worin denn Stolterfohts eigene Fachsprache besteht. Es kann nur eine Sprache zweiter Ordnung sein, in der Sinn und Wesen, der Sprache mit jedem Wort und jedem Satz neu auf dem Spiel steht. Schon bei Einzelwörtern können wir uns ja nie sicher sein, ob sie überhaupt etwas bedeuten. Dies zeigen die unter „lyrikbedarf 2“ alphabetisch angeordneten Wörter, unter die zahlreiche Wortattrappen gemischt sind. „aminok“ ist ein solches Unding aus „amino“, „amok“ und einer Verschreibung von „amoniak“, und trotzdem scheint „aminok“ etwas bedeuten zu wollen. „denktasch“ und „dschumblat“ sind hingegen die realen Namen zweier levantinischer Politiker; „föderasmus“ klingt nach wortgewordener Staatskrise; „monstrus“ ist monströs und abstrus in einem.
Ein „wulst“ aus Sinn und Unsinn zwingt dazu, in Hinkunft bei jedem Wort nachzuschlagen, ob es überhaupt existiert. Denn schon ein Buchstabe genügt, und der „Hybrid-Generator“ Sprache verleiht etwa dem Wort „Kopula“ einen aus dem Lateinischen, stammenden Körper: „korpula! korpula! das fleischgewordene UND ist da.“
Dies scheint gereimter Unsinn, doch wie in „Finnegans wake“ von James Joyce taucht etwas Ungeheures hinter und in der Sprache auf, wovon regelfürchtige Gemüter sich nichts träumen lassen. Stolterfoht hat auch schon einmal ein Gedicht über die DIN-Norm 2330 zur deutschen Wortbildung geschrieben, doch Normen neigen dazu, jede Abweichung auch noch im nachhinein zu unterdrücken. Demgegenüber setzt er das schöpferische Potential allen Verstehens und Mißverstehens frei. Die Buchstabenfolgen und Klangmuster der Wörter werden im Verlesen von Sätzen meist gar nicht aktuell wahrgenommen. Auf der Suche nach Sinn hören wir immer schon über die Sprache hinweg und hoffen, daß uns der „bewandtnisblitz“ trifft. Wenn es funkt, glauben wir zu verstehen. Stolterfoht widmet die Verfallsgeschichte dieses „leistungsdeutens“ seinem Dichtervorbild Oskar Pastior in Gedichtform: Schleiermacher, Ast, Husserl und Gadamer haben sich vergebens gemüht, „hermeneutisch knallt alles runter auf / null“.
Stolterfoht ist durch seinen anschaulichen Sprachwitz jeder glatten Post-Postmodeme voraus. Wer wie er die neuesten Theorien nach Wittgenstein und Chomsky in poetischen Sätzen reflektiert, verkörpert und beim Wort nimmt und also weiß, wohin der Hase theoretisch läuft, der hat als Dichter gut reden.

Thomas Poiss, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.5.2005

Original und Fälschung

− Ulf Stolterfoht: fachsprachen XIX–XXVII. −

Fachsprachen entstehen aus dem Bedürfnis heraus, einen Sachverhalt präzise mitzuteilen. Für uns Außenstehende gleichen die angewendeten Spezialtermini oft böhmischen Dörfern. Oder wissen Sie, was eine Rauhbank ist? Das ist mitnichten ein unbequemes Sitzmöbel, sondern der überdimensionierte Hobel eines Tischlers, mit dessen Hilfe er große Bretter gleichmäßig glätten kann. Sogenannte Eingeweihte, also Fachwerker oder gar Fachwissenschaftler, sind Informierte erster Hand. Der Sinn vieler Begriffe bleibt für die anderen, die Ausgeschlossenen, im Dunkel des Unverständnisses verborgen. Und das, obwohl man einzelne Worte wiederzuerkennen glaubt.
Der Berliner Dichter Ulf Stolterfoht nennt seine Gedichtbände ebenfalls Fachsprachen. Zum einen deshalb, weil sie tatsächlich fachsprachliche Begriffe enthalten, die aus ihrem ursprünglichen Zusammenhängen gelöst und in neuen, schwebenden, auf merkwürdige Weise immer noch sinnfälligen Kombinationen wieder zusammengesetzt wurden. Zum anderen aber auch, weil sie gleichermaßen Fachsprachenimitate enthalten. Das sind bizarre Sprachschöpfungen, die den Gestus von Fachsprachen nachahmen, aber in Wirklichkeit der Phantasie des Autors entstammen.
Der Gedanke liegt nahe, daß Ulf Stolterfoht, aus welchen Gründen zunächst auch immer, die für manche kompliziert anmutende Gattung Poesie vorsätzlich verschlüsseln will. Doch im Gegenteil, Ulf Stolterfoht geht es um einen schon lange fälligen Klärungsprozeß:
Wenn mir das keinen Spaß gemacht hätte, dann hätte ich sicher früher aufgehört damit. Viele Teile sind so entstanden, daß ich tatsächlich mir die Literatur besorgt habe aus der Bücherei und dann einige Zeit nur damit verbracht habe, wirklich nur die Bücher durchzulesen und mir dann alles rauszuschreiben, was mir in irgendeiner Form verwertbar erschien. Oft im Freien, im Sommer, oder… also da braucht man keine Ruhe oder so, das kann man auch im Biergarten machen oder so was. Das macht großen Spaß. Ich hab selten so gelacht wie bei diesem, bei dem vielen Rausschreiben. Und dann natürlich dieses Material dann wieder zu verwursten und daraus wieder was zu machen, macht natürlich fast noch größeren Spaß.
In fast anderthalb Jahrzehnten entstanden so drei poetische Fachsprachenkompendien, die es in sich haben. Zunächst war es als zurückhaltende Startposition eines angehenden Dichters gedacht, der sich hinter den Worten verstecken und diese für sich sprechen lassen wollte. Doch was macht man, wenn man aus dieser verborgenen Ecke heraus entdeckt, daß Worte ein Schein- oder Doppelleben führen? Und daß die eindeutig in Worten ausgedrückte, vermeintliche Erkenntnis der Welt demzufolge ein Irrtum sein könnte? Ulf Stolterfoht versuchte zunehmend, diese Entdeckung in die Grundlage seines Schreibens zu verwandeln.
Ich glaube, daß es in Sachtexten, oder in Texten, mit denen man umgeht, natürlich durchaus erlaubt ist so zu tun, als wäre alles klar. Als würde man das und das Wort benutzen und würde den und den Gegenstand und die und die Sache damit meinen. Egal ob es zutrifft oder völliger Unfug gesagt wird, es spielt ja nur der Erfolg die Rolle. Die wichtige Rolle. Also ich sage jemand, das verhält sich soundso oder du hast das soundso zu machen, und wenn das funktioniert, dann ist alles in Ordnung. Aber wenn ich Gedichte schreib, dann spielt diese Kommunikationsebene überhaupt keine Rolle mehr. Gelingen von Lyrik hat damit auch nichts zu tun, ob die Dinge exakt bezeichnet werden. Ganz im Gegenteil glaube ich, daß Erfolg, wenn’s so was gibt, Erfolg von Poesie damit zu tun haben muß, den Zweifel und die Unsicherheit abzubilden, die es gibt, was die Beziehung zwischen Wörtern und Dingen betrifft. Weil, die Dinge ja eben unsicher sind und die Wörter sind sicher.
Ulf Stolterfohts Dichtung schlüpft in die Haut von Fachsprachen, ohne wie diese dem Zwang zur Mitteilung erlegen zu sein. Seine Poesie versucht durch eine Art Mimikry, also Nachahmung, auf die Dissonanz zwischen Welt und Sprache aufmerksam zu machen. Sie verweist auf einen generellen Spalt im Gefüge: die Strukturiertheit und Klarheit von Sprache muß noch lange nicht bedeuten, daß Sprache jederzeit und unmittelbar einer Verständigung dienen kann. Die Welt, um die es in den Worten oft geht, scheint sich nicht selten uneinsehbar ganz woanders zu befinden.
Diese Erfahrung läßt sich auch jederzeit im Alltag machen. Es genügt, die in den Medien präsente politische Kommunikation sich einmal näher anzuschauen.
Ich glaube, das ist eher ein erkenntniskritischer Anspruch als ein sprachkritischer. Mir kommt es eben komisch vor, gerade in der Gedichtsprache auf einmal so zu tun, als wäre Referenz etwas ganz einfaches, als wäre das alles geklärt. Man könnte vielleicht sogar sagen, daß die Erkenntnistheorie in den letzen hundert Jahren nichts weiter nachgewiesen hat als die Unsicherheit der Erscheinung und der Dinge. Und wenn mir praktisch die Basis des Schreibens, die Welt, wegbricht durch diese Erkenntnistheorie – das hat jetzt nicht mit dem Sprachversagen oder mit Sprachzweifel zu tun, das ist Weltzweifel oder Erkenntniszweifel, dann kann ich halt… also, mir fehlt praktisch das Thema, also ich habe keinen Referenten mehr für meine Wörter oder für meine Sätze. Also helfe ich mir dadurch, daß ich, ja, daß ich versuche, die Wörter über sich selbst sprechen zu lassen.
Literatur und hier vor allem die Poesie ermöglichen, gewisse Versuchsanordnungen zu starten. Ohne daß die Dichtung von einem Zweck gebunden und reduziert wird, kann sie auf einem losen Experimentierfeld und im Moment schöpferischer Freiheit die unterschiedlichsten Möglichkeiten erkunden. Vor allem die der Sprache selbst – wieweit trägt eine Sprache, wie klar kann sie vermitteln, wo beginnt sie zu täuschen?
Wenn das gelingt, durch diese kleinen Drehungen und Wendungen, die Sprache zu entfunktionalisieren von ihrem normalen Gebrauch und die dadurch wieder fähig zu machen, vielleicht wirklich was zu erschaffen, was vielleicht auf nichts anderes verweist außer als auf sich selbst, das wär schon toll. Ich hab vor allem ein ganz anderes Sinngefüge. Ich kann das im Alltag auch machen, bloß hilft mir das nichts. Aber in diesem verschobenen Sinngefüge, in der Lyrik, kann ich es machen und hab vielleicht sogar irgendeine Erkenntnisgewinn. Im Alltag habe ich eher kein Erkenntnisgewinn, wenn ich anfange zu zweifeln an der Existenz der Dinge.
Was als anfängliches Verstecken hinter den Worten gedacht war, entwickelte sich über die Jahre des Schreibens zu einem Klärungsprozeß über die Eigenheiten von Sprache. Ulf Stolterfoht versucht, hinter die geschlossene Türen der Fachsprachen zu schauen. Deren Unverständlichkeit nach außen wird kurioserweise durch ihr Gegenteil erzeugt – durch Exaktheit innerhalb des geschlossenen Kreislaufes einer Fachsprache.
Faszinierend ist natürlich auch diese Scheingenauigkeit, daß man den Eindruck hat, wenn man solche Texte liest, die treffen genau den Punkt. Diese Scheingenauigkeit ist natürlich auch was wunderbares, weil ich sicher bin, das Fachsprachen genau die gleichen Probleme haben, Sachen genau zu benennen, wie Alltagssprache. Das ist ja eher so, Fachsprachen geben sich nur den Anschein, so exakt zu arbeiten. Ich hab noch keine Untersuchung gelesen, aber es gibt garantiert Untersuchungen darüber über das Scheitern von Fachsprachen. Oder über die Hybris der Fachsprache wahrscheinlich sogar.
Hybris wurde jener Übermut, Stolz oder gar frevelhafter Trotz bezeichnet, der aus der Selbstüberhebung des Menschen gegenüber den Göttern resultierte. Der Dichter kommt, wenn man so will, in seinen poetischen Versuchsanordnungen modernen Freveleien auf die Spur. Denn was in den alten Mythen noch das Format einer wirklichen Tragödie hatte, kommt im Umgang mit den Fachsprachen oft nur noch als Schlagschatten einer Tragödie, als Slapstick daher.
Hinter dem Wittenbergbergplatz ist die DIN-Zentrale, die Deutsche Industrie Normierung, Normzentrale, also da gibt es diese DIN-Normen, das sind Faltblätter, … wo es darum geht, wie zum Beispiel neue Suffixe gebildet werden oder wie Wörter eingesetzt werden müssen um anerkannt zu sein für Produkt. Das ist genau vorgeschrieben, … Von Celan weiß man ja, das er ja diese Wortlisten gemacht hat, wenn er diese Normierungsbögen zur hand gehabt hätte, hätte er da um ein vielfaches mehr sammeln können. Zum Beispiel gibt es ein Normblatt, da geht es nur um: arm, frei und los… also eisenarm, eisenfrei eisenlos zum Beispiel. Das ist genau festgelegt, ab wann was eisenarm ist und ab wann es dann zum eisenlosen wird. Ab wann man dann los sagen darf, also da dürfen dann natürlich immer noch spuren von eisen drin sein, und alles, alles ist geregelt.
Ulf Stolterfohts Lyrik baut seine Faszination auf dem Spiel mit dem Nichtverstehen auf. Und auf der kuriosen Tatsache, daß das Nichtverstehen gerade dort am größten ist, wo alles bis ins wortwörtliche Detail geklärt scheint.
Dass man wohlgeformte Texte liest und man merkt, die Syntax ist in Ordnung und es gibt eine Semantik und man versteht absolut nichts. Das fasziniert mich immer noch, das finde ich unglaublich. … Und ich denke, daß dieser Effekt bei den Leuten, die womöglich meine Gedichte lesen, ein ähnlicher ist, daß die denken, das läuft irgendwie alles, wird einmal aufgezogen und rattert da ab, aber verstehen tu ich eigentlich nix. Und die Fachsprachen haben mir eigentlich gezeigt oder den Eindruck gegeben, man darf das trotzdem machen. //

Cornelia Jentzsch, Deutschlandfunk, Büchermarkt, 24.11.2004

Der endlichen Wähnung geharrt

− Tischlerhandwerk trifft Erkenntnistheorie: fachsprachen XIX–XXVII, der neue Gedichtband des Berliner Lyrikers Ulf Stolterfoht. −

Fachsprachen versuchen seit je, eine objektive Eindeutigkeit, die Präzision einer Bezeichnung zu simulieren. Mit der Lyrik verhält es sich umgekehrt. Sie weiß um das Vergebliche jeder Bemühung um Eindeutigkeit und schöpft gerade daraus ihr Potenzial. Wenn der Berliner Lyriker Ulf Stolterfoht nun seinen dritten Gedichtband unter dem lakonisch nummerierten Titel fachsprachen XIX-XXVII vorlegt, so ist das weit mehr als Ironie, mit der sich Lyrik selbst als Randgruppenidiom versteht. Es ist ein seit mittlerweile sieben Jahren strikt verfolgtes ästhetisches Programm.
Auch in der jüngsten Lieferung plündert Stolterfoht professionelle Lexemarchive vom Tischlerhandwerk bis in die Erkenntnistheorie. Er weiß, dass die Wörter allenfalls umkreisen, keinesfalls exakt bezeichnen. Also löst er sie aus ihrem angestammten Kontext und lässt sie sprechen: untereinander, mit sich selbst. Was dabei herauskommt, sind komplexe Geflechte, in denen Tiefgründiges ebenso Platz findet wie rein lautlich motivierter Unsinn, zum Beispiel ein „in ibis verbissenes possum“. Die thematische Spannweite ist enorm: ein üppiger Hamann-Zyklus, eine so lässige wie intelligente Um- und Fortschreibung von Petrarcas „Trionfi“, Erörterungen zur „dichter-leser-bindung“ sowie mehrere Versuche über „das große deutsche verschrobenheitsgedicht“.
Wie gehabt schreibt Stolterfoht zumeist eher prosaische Langzeilen, die sich das Lyrische auf Umwegen erarbeiten. Nicht primär über die Metrik, sondern über die Semantik. In assoziativer Reihung und Schichtung entstehen dichte Lautgebilde, die immer wieder auch ihr eigenes Zustandekommen mit bedenken:

so was wie silbe kommt selten allein. will gestrie-
gelt
von pulsendem metrum beflügelt sein. der autor
wirkt müde. vorschlag zur güte: faß ab! das sitzt. das
paßt. ist stark. das hat der endlichen wähnung geharrt.

Das ist mehr denn je beeindruckend in der Kunstfertigkeit technischer Beherrschung, kurzweilig in der Originalität der Montagen, im gleichermaßen abgehobenen wie geerdeten Humor, inspirierend über den stofflichen Reichtum. Aber es ist auch traurig, weil dieser dritte Band nun beinahe stoisch auf ein Ende zusteuert. Selbstreferenziell waren Stolterfohts Texte schon immer. Ein Dichter, der mit seinen Objekten spielt und sich im Spiel als regelgebende Instanz stets neu verortet. Aber die existenziellen Verweise auf das mitunter schneidend Absurde eines heutigen Dichterdaseins zwischen Schreibtischisolation und den punktuellen Exponiertheiten von Stipendien und Preisgaben sind dominanter als in früheren Texten:

den obligaten lyrik-groschen. er-
hoben fein. Gegeben drein: den mecklenburger dichter-

rochen (undotiert) im zweijährigen wechsel mit alt-luruper
entschupper … wems alles um die hüften hing – ein wahnsinn. nichts-
destotrotz auch dafür aufnahmebereit. tag und nacht. jederzeit.

Dahinter lauert die alte Beckett-Frage: „Wen kümmerts, wer spricht?“
Konsequent endet der Band in einem poetischen Zettelkasten: einer Sammlung von Einzelzeilen, aus denen man bei Gelegenheit und Motivation noch hätte etwas machen können, einer alphabetisch geordneten Liste von Begriffsblüten, Neologismen, Fundstücken, summiert unter der Überschrift „lyrikbedarf“; als Geste ein sarkastisches Abwinken. Auf der letzten Seite dann das handschriftlich vom Autor eingetragene, für jedes Exemplar dieser Auflage eigens entworfene „schlußwort“.
Dasjenige des Rezensenten mag dieser nicht verraten, wohl aber die Hoffnung, es möge nicht das letzte Wort gewesen sein.

Nicolai Kobus, tageszeitung, Magazin, 22.1.2005

Ulf Stolterfoht, fachsprachen XIX–XXVII

Ulf Stolterfoht wurde 1963 in Stuttgart geboren, lebt aber schon geraume Zeit in Berlin. Für seine wort-listige sprach-stimuliernde Lyrik erhielt er manche Auszeichnung, darunter 2001 den Christine-Lavant-Preis. Vor kurzem ist sein dritter Gedichtband erschienen, der ebenso wie die ersten beiden den Titel „fachsprachen“ trägt und sich damit auf das enge Verhältnis von Wörtern und Dingen in jenen Sondersprachen bezieht, wie etwa Elektrotechniker, Viehschlächter und Linguisten sie verwenden. So ist es naheliegend, daß auch die Varianten des lyrischen Jargons, wie er die deutschen Literaturhäuser und Poetry-Slams beschallt, von Stolterfoht in die Fachsprachen aufgenommen wurden. Der lyrik-kritische Gedichtzyklus heißt „handbuch des deutschen aberglaubens“, und verknüpft Fundstücke aus dem gleichnamigen Volkskunde-Lexikon mit dem Slang von Computerpoeten und „jungen schwäbischen künstlern“. Unüberhörbar sind die ironischen Töne dieses Verfahrens, doch ebenso unmerklich läuft die zitierende Sprache auf die andere Seite über. Ein Gedicht über schicke Metapherntheorie endet in der zweiten Person, die auch den Sprecher meinen kann: „du hörst dich in den ranken rascheln, / dir haften die dinge wie namen am kleid. bist du bereit / für den satz? nun: auf dem acker liegt der bube und strahlt aus. warf das so schlimm? allerdings UND: ihm wohnen igele im mund“. „Igel im Mund“: diese eine Kette von Stab- und Binnenreimen beschließende Metapher für einen auf dem semantischen Feld gefallenen Dichter ist zu schön, um sie nicht dem Dichter Stolterfoht selbst in den Mund zu legen: ja, „ihm wohnen igele im Mund“.
Zwei Gedicht-Zyklen des Bandes sind auch den jeweiligen Eigensprachen des Dichters Petrarca und des Sprachphilosophen Hamann gewidmet sind, und so darf man fragen, worin denn Stolterfohts eigene lyrische Fachsprache besteht. Es kann nur eine Sprache zweiter Ordnung sein, in der die Fragen nach dem Sinn, vielleicht auch nach dem Wesen der Sprache mit jedem Wort und jedem Satz sich neu stellen. Schon bei Einzelwörtern können wir uns nie sicher sein, was und ob sie überhaupt etwas bedeuten. Dies zeigen die unter „lyrikbedarf 2“ alphabetisch angeordneten Wörter, unter die zahlreiche Wortattrappen gemischt sind. „aminok“ ist ein solches Unding aus „amino“, „amok“ und einer Verschreibung von „amoniak“, und trotzdem scheint „aminok“ etwas bedeuten zu wollen. „blutarche“ ist eine Verschreibung der makaberen „blutrache“, hingegen sind „denktasch“ und „dschumblat“ die Namen zweier levantinischer Politiker wie „ilse“ und „imogen“ weibliche Vornamen aus dem Norden; „föderasmus“ klingt nach Staatskrise, „monstrus“ ist monströs und abstrus in einem; „schladming“ ist kein schlampiges „schlampig“, sondern ein Ort in Österreich, und „wuchterl“ heißt ein Philosophieprofessor. So türmt sich ein schwindelerregender „wulst“ aus Sinn und Unsinn auf, daß man glaubt, in Hinkunft bei jedem Wort nachschlagen zu müssen, ob es überhaupt existiert. Vom Sinn zu schweigen, denn ein Buchstabe genügt, und der „Hybrid-Generator“ Sprache verleiht dem Wort „Kopula“ (also „Bindewort“) einen aus dem lateinischen stammenden Körper: „korpula! korpula! das fleischgewordene UND ist da.“ Das scheint gereimter Unsinn, hat aber Methode: Wie in „Finegans wake“ von James Joyce taucht etwas Ungeheures hinter der Sprache auf, wovon regelfürchtige Gehirne sich nichts träumen lassen.
Normen Ulf Stolterfohht hat schon einmal ein Gedicht über die DIN-Norm 2330 zur deutschen Wortbildung geschrieben – Normen neigen dazu, jede Abweichung auch noch im Nachhinein zu unterdrücken. Demgegenüber setzt Stolterfoht das schöpferische Potential jedes Verstehensaktes und zugleich jeden Mißverständnisses frei. Die Buchstabenfolgen und Klangmuster der Wörter werden im Verlesen und Verstehen von Sätzen meist gar nicht aktuell wahrgenommen, auf der Suche nach dem Sinn hören wir immer schon über die Elemente der Sprache hinweg und hoffen, daß uns, mit Stolterfoht zu sprechen, der „bewandtnisblitz“ trifft. Nachher nennen wir’s dann verstehen. Die 200-jährige Verfallsgeschichte der Hermeneutik, sozusagen des „leistungsdeutens“, wird dem Dichtervorbild Oskar Pastior in Gedichtform zugeeignet: Schleiermacher, Ast, Husserl, Gadamer mühten sich vergebens: „hermeneutisch knallt alles runter auf / null“. D.h. genaugenommen verstehen wir das Verstehen nicht, doch: „allein das äußern endet nicht“. Daher muß jedes Kind von neuem anfangen: „so obliegt es kleinen bienen- / frauen (sog. josefinen) die sayings erst mal zu sichern“. Die Sprache ist ein Spiel: wir bringen sie Kindern bei – und die Kinder uns: „abso- / lut rare auslegeware“. Der hintergründige Kalauer faßt Philosophie und jenen Teppich, auf dem wir bleiben müssen, um mit Sprache umzugehen, in ein einziges Wort zusammen.
Stolterfohts Sprachwitz verleiht den Wörtern anschauliche Pointen, und durch solche Zuspitzung ist er jeder glatten Post-post-Moderne voraus. Wer aber dazu noch wie Stolterfoht die neuesten Theorien nach Wittgenstein und Chomsky in seinen poetischen Sätzen reflektiert, verkörpert und beim Wort nimmt, wer also weiß, wohin der Hase theoretisch läuft, hat als Dichter gut reden: Ja, „ihm wohnen igele im mund“.

Thomas Poiss, Westdeutscher Rundfunk 3, Gutenbergs Welt, 30.1.2005

pausen, plotten, schrotten

− Fortsetzung folgt nicht: Ulf Stolterfoht hat den dritten und letzten „fachsprachen“-Band vorgelegt. −

Wer heute Lyrikanthologien oder auf Gedichte spezialisierte Literaturzeitschriften zur Hand nimmt, der wird schwerlich den Eindruck gewinnen, auf diesem Feld passiere sonderlich viel Beachtenswertes. Während das in die Jahre gekommene Experiment auf Klassizität und „überzeitliche Relevanz“ schielt und in Sonetten macht, hat die jüngere Generation formale Ansprüche gleich ganz über Bord geworfen und reportiert Autobiographisches in stümperhaft zusammengestoppelten freien Versen. Wo so wenig gewollt und geboten wird wie von der Lyrik von jetzt-Lyrikern, wendet sich der Leser gelangweilt ab und wird doch die Frage nicht los, ob es nicht Alternativen zu dieser fröhlichen Regression einerseits und einem neu errungenen Glauben an das Wahre, Gute, Schöne auf der anderen Seite geben könnte? Er stößt dann vielleicht auf die Arbeiten des Berliner Lyrikers Ulf Stolterfoht, dem es gelungen ist, ein zeitgenössisches lyrisches Sprechen zu entwickeln, das das Erbe der sprachexperimentellen Avantgarden nicht zwanghaft verleugnet, sondern integriert und weiterentwickelt. Dabei hat er es nicht nötig, sich in klassische Formen zu flüchten und setzt dem Pathos vieler seiner Kollegen eine erfrischende Ironie entgegen.
Gut 15 Jahre hat Stolterfoht an dem Projekt „fachsprachen“ gearbeitet, nach dem Erscheinen des ersten Bandes 1998 vielbeachtet und preisgekrönt. Der dritte Band mit den fachsprachen XIX–XXVII bildet den Schlußpunkt der Unternehmung. Beim Lesen in den neuen „fachsprachen“ hat man keineswegs den Eindruck, hier sei eine Methode erschöpft oder zu Tode geritten worden – und was wäre das auch für eine Methode? Der nüchterne Arbeitstitel „fachsprachen“ zeigt an, daß Stolterfoht nichts mit Sentiment und Atmosphäre zu tun haben will, wie das bei vielen Lyrikern heute wieder der Fall ist. Auf eine allzu strenge Versuchsanordung darf daraus deshalb aber auch nicht geschlossen werden. Wenige seiner Gedichte, so Stolterfoht, kämen ohne fremde Hilfe aus, und damit ist gemeint, daß er sich an Material der unterschiedlichsten Provenienz abarbeitet, sich neugierig und mit beachtlichem Spieltrieb auf die unterschiedlichsten Textgelände begibt.
Wörterbücher und Rotwelsch können für ihn dabei ebenso zu Fundgruben werden wie Musiktheorie, Linguistik oder auch im Alltag Aufgeschnapptes und literarische Texte, Wittgenstein-Zitate können genauso einfließen wie „eine adresse die nützt: schwarze / hilfe berlin bei den fischgärten 3 in 10822“. „warum also noch dichten?“ wird in einem Gedicht rhetorisch gefragt, und die Antwort lautet: „ja nun: bü- / cher regieren die welt. tinte ist das fünfte element.“
Aus dem Archiv der Bibliotheken bedient sich Stolterfoht unsystematisch, spielerisch, und so sind diese Gedichte auch organisiert: In assoziativen Sprüngen oder durch Assonanzen und Binnenreime wird das heterogene Material miteinander verbunden, das nur auf dem Papier ebenmäßig in Strophen gegossen erscheint, werden überraschende Funken geschlagen: „pausen plotten schrotten. im besten fall andocken.“
Es gibt Texte, die sich am Exotischen, sozusagen unfreiwillig Poetischen einer Fachsprache entzünden, und Stolterfoht kokettiert auch gerne damit, die Texte, mit denen er arbeitet, häufig gar nicht zu verstehen. Die Gefahr, so ins Spielerisch-Unverbindliche abzudriften, wird mit Texten pariert, in denen sich Stolterfoht, sich Poetologisches und Sprachphilosophisches vornehmend, dichtend und denkend auf der Höhe seines Materials zeigt, dabei aber niemals didaktisch wird, seine Rolle als „Dichter“ immer ironisch in Frage stellt: „wir jungen schwäbischen künstler dürfen jetzt nicht nach- / lassen was das verfassen ungegenständlicher lyrik betrifft.“ Der Band endet mit Wortlisten und Wendungen aus einem „lyrikbedarf“ und entläßt den Leser mit einem handgeschriebenen „schlußwort“. Wie heißt es in einem Gedicht? „fehlt nur noch das signal für POEM OVER.“

Florian Neuner, Junge Welt, 1.4.2005

Ulf Stolterfoht: fachsprachen XIX–XXVII

Es ist schon etwas Besonderes, wenn ein Verleger seinem Autor ein eigenes Buchformat spendiert. Doch zu Ulf Stolterfohts Langzeilen gehört nun einmal die genaue Anordnung auf dem Blatt – und so ist sein dritter (und leider letzter) „fachsprachen“-Band ein wenig breiter geworden.
Fachsprachen bilden den Fundus, aus dem der in Stuttgart geborene Wahlberliner seine Gedichte gewinnt, Sprachen, die auf einen bestimmten Bereich funktional zugeschnitten sind und detaillierte Bezeichnungen versprechen. Das kann eine Gebrauchsanweisung sein oder medizinisches Vokabular, die Diktion von Prozessakten oder das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Stolterfoht nimmt solche Begriffsmonster beim Wort und verwendet sie als poetisches Material.
Aus ihren Kontexten gelöst, setzen die Fachsprachen vor allem eine lautliche Qualität frei. Meist sind es mehrere Töne, die Stolterfoht zusammenbringt. Es findet sich aber auch die umgekehrte Bewegung, daß er Textfiguren herstellt aus sprachlichen Mustern, die gar nicht auf Sinnhaftigkeit hin angelegt sind. All das lebt von einem feinen Ohr, für Klänge und Anklänge. So wie sich die Verse konvulsivisch über die Seiten schieben; in Reimen stocken, um sich gleich wieder zu lockern, so geraten immer wieder Sinngerinnsel ins Blickfeld, und lösen sich bald schon auf. Zum Abschied gibt es noch eine Botanisiertrommel kruder Wörter wie „klärschupp“ oder „knappsack“. Wer will, kann sich daraus seinen eigenen Vers basteln: auktion vorüber aber niemand spricht brett / verschwindibus? na, wir hoffen doch ned.

Nico Bleutge, Stuttgarter Zeitung, 8.4.2005

Ulf Stolterfoht: fachsprachen XIX–XXVII

Literatur, und zumal Lyrik, ist eine überaus freundliche Art miteinander umzugehen. Jemand schreibt ein Gedicht, einen Gedichtband gar, und überlässt ihn der Öffentlichkeit. Jedermann darf ihn lesen und jedermann steht es frei, damit zu machen, was er will. Keiner, und schon gar nicht der Autor, schreibt dem Leser vor, wie er die Sache zu verstehen hat. Gedichte sind immer ein Angebot, niemals eine Verpflichtung. Höchstens, dass der Dichter einige Hinweise gibt. Doch grundsätzlich gilt: „nichts muß / alles kann“. Das allerdings ist auch wieder nur ein Hinweis. Er entstammt Ulf Stolterfohts Gedichtband fachsprachen XIX–XXVII, dem dritten und leider letzten Teil einer Fachsprachen-Trilogie, deren erster Band vor sechs Jahren erschien. Die Offenheit und Vielbezüglichkeit allerdings ist bei dem in Berlin lebenden Stolterfoht Programm, denn: „immer stärkere lesergehirne bedrohen die wirkmacht der dichtung“. Darum gilt es, den immer stärkeren, durchs Internet rasenden Lesergehirnen, genügend Futter zu geben und genug, woran sie sich abarbeiten können. Ein Goethe-Gedicht lässt sich leicht auswendig lernen, aber versuche mal einer, einen Stolterfoht zu memorieren! Dabei ist jeder Fachsprachen-Text bis zum Bersten mit Reimen, Schüttelreimen und Assonanzen gefüllt, mal „kichert ein kiebitz in chemnitz“, mal sitzt „ein bussard zuviel auf dem draht. art über- / hangmandat“. Stolterfohts Dichtung ist nicht nur ein Füllhorn an sprachlichen Knalleffekten, seine „Fachsprachen“ bilden auch ein einzigartiges Versuchslabor, wie lyrisches Sprechen in deutscher Sprache heute aussehen und sich anhören kann. Bemerkenswert ist, dass er zwar allerlei Fachsprachen benutzt, vor allem Wörter also, die von bestimmten Berufsgruppen verwendet werden und in der Umgangssprache nicht bekannt sind oder dort einen anderen Sinn haben, dass er diese Wörter aber nie für sich alleine nimmt, sondern sie immer in einen Kontext stellt. Stolterfoht tanzt nicht wie ein Schamane um das einzelne Wort, er beschwört nicht die magische Energie des Zeichens. Für ihn ist die kleinste sprachliche Einheit der Satz: „weil: man welt im satz nur / probeweis zusammenstellt“. Spätestens hier wird der Einfluss von Wittgenstein, Gottlob Frege, Max Bense und einigen anderen Denker auf das Stolterfoht’sche Werk deutlich. Aber auch diese Paten bleiben von des Dichters Witz, von seiner Lust an der Verballhornung nicht verschont: „finales kurbeln / dann drehen: nie wird man / diese zeilen zur gänze verstehen“. Eindeutigkeit oder klare Botschaften wird man in den „fachsprachen“ vergeblich suchen. Finden wird man allerdings einen unermesslichen Schatz an klanglichen, rhythmischen und semantischen Möglichkeiten. Ein Abenteuer. Ganz große Unterhaltung. Und eine unerschöpfliche intellektuelle Herausforderung: „weshalb man nicht selten in brüten verfällt. welches immer noch anhält“, „gefällt? schon – aber! kein weiteres gelaber.“

Tobias Lehmkuhl, satt.org, September 2005

„das große deutsche verschrobenheitsgedicht –

hier naht es / mit der walzkraft einer dommel.“ Der Berliner Lyriker Ulf Stolterfoht ist eine harte Nuss. Zu anstrengend, zu abstrakt, urteilen viele Leser – nicht ganz zu Unrecht, denn die Lektüre belohnt vor allem diejenigen, die bereit sind, ein verstiegenes Kompositionsprinzip zu enträtseln, und das kann schon ein paar Tage Kopfzerbrechen in Anspruch nehmen. Die Fachgemeinde hingegen ist hin und weg von Stolterfohts präzisen Wortsysteme, die den Gesetzen und Funktionsweisen der Kommunikation sprachhistorisch, philosophisch und vor allem so komplex auf den Grund gehen, wie es dem Thema entspricht.
„Fachsprachen“ nennt der Außenseiter unter den wichtigen Gegenwartsdichtern sein bis zu den Folgen XIX–XXVII vorangetriebenes Großprojekt, das an der Oberfläche vorexerziert, wie ein Text entsteht, und zwischen den Zeilen die fragile Interaktion zwischen Autor und Adressat beschreibt – quer durch die Zivilisationsgeschichte. Stolterfoht dockt Wörterbücher randständiger Verständigungsformen wie des Rotwelsch oder der Idiome der Computerfreaks an das Hochdeutsch des Duden an. Das Ergebnis ist ein Vokabular- und Grammatikbestand, der zum einen die Verständigungsrealität der Gegenwart repräsentiert, zum anderen vorführt, wie schnell man in einer von Spezialisierung geprägten Hightech-Zeit auf dem Schlauch steht. „während früher ein gedicht nur einige wenige informationen enthielt / vermittelt heute das laden von großen dateien ein neues lyrik- / gefühl. (…) icon-gewitter / morphischer bums. TEXT schiebt / beharrlich klone nach.“ Die Lektüre wird atemberaubend, sobald man sich an den eigenwilligen Stil gewöhnt hat.

Martin Droschke, Falter 45/2005

Ulf Stolterfohts „fachsprachen“

fachsprachen I–IX, fachsprachen X–XVIII und fachsprachen XIX–XXVII lauten die sachlichen Titel von Ulf Stolterfohts drei Gedichtbänden.1 Jeder Band besteht aus neun nummerierten fachsprachen-Gruppen, von denen jede ihrerseits neun Einzelgedichte zählt. Jedes Gedicht ist auf genau einer Seite abgedruckt und umfasst Strophen von je gleicher Verszahl. Die Gedichte einer Neunergruppe haben denselben Aufbau, was ihre Strophen- und Verszahl betrifft. Dem einzelnen Gedicht wird innerhalb des theoretisch endlos erweiterbaren fachsprachen-Projekts sein Individualstatus genommen, in den Vordergrund gerückt wird der Ton. Ulf Stolterfohts Idiolekt besteht aus unterschiedlichen Fachsprachen. Versatzstücke aus literarischen Werken, aus fachlicher und aus Fachsprache untersuchender Literatur baut Stolterfoht so in seine Texte ein, dass zwischen Eigenentwurf und Fremdzitat nicht zu trennen ist. Das Material stammt aus Fachbüchern, etwa zu Schweinezucht, Radiotechnik oder Geologie:

wir beobachten unfrisches feinste zerreibsel
bankig-plattig oder flach abgeböscht unter
stauchraum
2

Auch ein Rotwelsch-Buch kann als Ausgangspunkt dienen:

„kenn“ raunzte er schrill und trillte sich tief in den
flöhfang. der angeruderte. der ottemschleim. muck
es bald hack. als solches kämmten sie wurstwohin
3

Daneben sind Übungsbücher zur Rhetorik und Fremdsprachenwörterbücher zu nennen; in folgendem Ausschnitt ein polnisches Wörterbuch:

aaaaaorder: fabularny desen plot! Ana-
liza damski daktyl-klomb. komplet ko-
deks aby one literacki topic kanonik.
typ poemat/emblemat. cyfra meta-werk

syn data – kurz: absolutny babel.4

Das polnische Deutsch klingt wie die Anweisung, eine Geschichte zu fabulieren, die ein vollständiges Buch sein soll, aber ohne Thema aus dem literarischen Kanon und nicht vom Typus Symbolgedicht; ein Metawerk, ein absolutes Babel. Das deutsch klingende Polnisch ist vom Wortschatz her korrekter als sein Pendant, ergibt allerdings zusammenhanglose Wörter (übersetzt man Wort für Wort erhält man: ,Orden: Spielfilm Muster Zaun! Damenanalyse Dattelknolle…‘). Stolterfohts fachsprachen befolgen die „order“ aus der ersten Lesart bestens. Abseits vom Sinnbildlichen thematisieren sie das Sprachmaterial und seine Machart. Linguisten und Sprachphilosophen geben die Stichwörter für poetische und poetologische Reflexionen über das Dichten.5

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaader apfel als ein bild
für trug. gemeint sei aber straffer lug. verun-
glückte metapher. es findet kein bedeuten statt.
aaaaaaaaaaaaaaaaa
[…] der apfel als ein bild für
bild. zwanghaftes geschachtel: er stehe dann für
die idee von x. im alltag deute er auf nichts. be-
schneiter zweig mit leerem stiel. unbehangen. und
doppelt im problem gefangen. haben wir doch bisher
bestritten der lyrische apfel hätte ein denotat in
der welt
6

Die Grundlage von Stolterfohts Gedichten ist der Satz. In Prosasätzen ohne Kommata (in den fachsprachen gibt es kein einziges Komma) wird beschrieben, dass das metaphorisch aufgeladene Einzelwort, hier der „apfel“, ein problematisches Konzept ist. Dazu finden sich auch unverständliche Sätze:

selten gehörtes zum thema metapher. die roggenmuhme etwa
in ihrer darstellung des erbsenweibs.
[…]
der schotenmops als weizenbeller. Als
erbhans oder truebi. literatur als schrunst. die wachtel schließlich als wachtel
.7

Der Leser kann seine Fantasie spielen lassen und wird von den Texten in vielen Hinweisen ausdrücklich davon befreit, hinter jeder Konstruktion anderes zu suchen als ein Spiel mit Lauten und eine Lust am Komischen. „absolutny babel“ sind die Gedichte dennoch nur auf den ersten Blick. Wie in jede Fachsprache kann man sich in sie einarbeiten. In einigen Gedichten, in denen Stolterfoht keine Fachsprache benutzt, schreibt er darüber, dass auch seine Lyrik eine erlernbare Fachsprache ist. Spöttisch gibt er in „dogma für dichtung“ eine Anleitung zum Dichten:

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaader schrieb erfolgt
am original-schauplatz (schreibtisch). elektrische be-
leuchtung stellt eine ungeheure erleichterung dar. für

umstände wie inhalt gilt: hauptsache anstrengend. be-
drängend.
[…]

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaawo tiefere bedeu-
tung fehlt hilft reim. notfalls kanns assonanz. sprache
gerinne zum tanz. gefrorener plantsch. dafür die axt.

Das beil. Das steif geseifte weil: man welt im satz nur
probeweis zusammenstellt
.
8

Allmählich setzt der Leser das gewünschte Ergebnis mit dem vorliegenden Text und den anderen fachsprachen gleich. Der unregelmäßig verteilte „reim“ und die „assonanz“ sind allgegenwärtig. Typisch für die fachsprachen ist der Umgang mit Fremdmaterial auch in diesem Beispiel. Franz Kafka schreibt, ein Buch müsse „die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“,9 in „dogma für dichtung“ ist das Meer zu einem Wasser geworden, in dem man sich unbeschwert vergnügt:

gefrorener plantsch. dafür die axt.

Die Dichtung legt einen Ort der Kinderspiele frei, keine Tiefe der Persönlichkeit, in die es hineinzuschauen gilt. Goethes Faust wünscht sich:

Daß ich erkenne was die Welt
Im Innersten zusammenhält,
Schau’ alle Wirkenskraft und Samen
Und tu’ nicht mehr in Worten kramen
10

,bescheiden‘ kontert Stolterfoht nach derselben ,Melodie‘, dass „man welt im satz nur probeweis zusammenstellt“. Gegen die Frage nach dem Sinn in der Welt setzt er die nach der Welt in der Semantik; „in worten kramen“ ist der Zweck seiner Dichtung. Vollends verrät das lyrische Ich seinen Autor in der vierten Strophe der Dichtungsanleitung:

wie
nun die passenden formate finden? das schmalbuch-
analog-system mit minion-optik bietet bestmögliche
textwiedergabe auf allerengstem raum
.11

Stolterfohts fachsprachen sind nämlich alle aus der Schrifttype Minion gesetzt. Die vielen Aussagen zur Dichtung reflektieren auch ironisch ihr eigenes Dilemma:

jeder kann heute (12. februar 2004) dichter werden. und viele
werdens dann tatsächlich.
[…]
überhaupt (vorausjaulendes klagen): du kannst heute lautstark
sagen „bumm“ und keine sau kümmert sich drum. setzt du dich
aber vor publikum und liest unter titel wie folgt: „grauhudl ante
schwalminger durch dircks. schom erklatanter strusebert. bie-

nemann. wranck. tran stupferich / gegenstrotz / gschnür“ – so
wirst du wut und tränen sehen.
[…] doch
halt: bald verleiht die staatsgewalt auch diesen zeilen gewicht.
schade. und zugleich egal
. […]12

Selbstironisch karikiert Stolterfoht die Sprechweisen, die bei ihm selbst zu finden sind, und ihren gesellschaftlichen Assimilierungsprozess, den schließlich auch der „dichter“ hinnimmt. Für den Dichter der fachsprachen ist das kein Grund zur Resignation. Er kombiniert und erfindet Sprachkonstruktionen, die er auch dann noch im Gedicht zu durchschauen versucht, wenn diese Reflexion seine eigene Arbeit wieder dekonstruiert. Sebastian Kiefer lässt die Interpretation eines Stolterfoht-Gedichts13 zu dem Schluss kommen, das Gedicht demonstriere, dass man „nicht anders könne[], als fortlaufend Sinn zu produzieren“ und es sei „atemlos im Sinnschöpfen wie im Sinnvertilgen“.14 Auch diese Einsicht wird in den fachsprachen schon erklärend vorweggenommen:

echtes erstaunen: daß
selbst bei unzureichender motivierung versprechende

seme entstehen.15

Indra Noël, in Indra Noël: Sprechreflexion in der deutschsprachigen Lyrik 1985–2005, Lit Verlag Dr. W. Hopf, 2007

 

Marcel Beyer trifft im Rahmen der Liliencron-Poetik-Dozentur auf Ulf Stolterfoht. Ein Gespräch über selbstauferlegte Fesseln, Authentizitäts-Signale und den Neid auf fremde Wörterbücher.

Ulf Stolterfoht – Fachsprachen oder die universale Sprache der Poesie im Rahmen der Frankfurter HausGespräche 2014: Nach Babel – Sprache und Sprachen.

Ulf Stolterfoht mit Steffen Popp im Parlandopark: Liebes System: nicht ohne Axt!

Ulf Stolterfoht – Oskar Pastior. Theorien der Literatur II, Episode 4. Guido Graf im Gespräch mit Ulf Stolterfoht, Litradio 29.11.2021

 

 

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Ulf Stolterfoht liest 2009 im Aufnahmestudio von lyrikline.org.

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