Ulf Stolterfoht: Zu Ernst Herbecks Gedicht „Die Wüste“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ernst Herbecks Gedicht „Die Wüste“. 

 

 

 

 

ERNST HERBECK

Die Wüste

Eisklapp die Stumme Sandweit war
so klar war auch mancher Soldat.
So einfach diese Sandwichs waren.
so weit war rauh auch diese Stadt.
der kurze Aufenthalt darin war blind
für den Soldat im „heißen Sund“
die Söhne – der Wüste – sind im Sand
wo eiskalt war so man minche
Stadt.
Auch ich war einst in dieser Kim.
wo auch.

 

Während nun Reinhard Priessnitz

daran arbeitete, als Mauern empfundene Strukturen einzureißen, ohne gänzlich auf sie verzichten zu können oder zu wollen, musste sich Ernst Herbeck in Gugging, nicht weit von Wien entfernt, und hinter ganz realen Mauern lebend, Strukturen erst erfinden, weil seine Gedichte sonst seinen eigenen Anforderungen nicht standgehalten hätten.
Ernst Herbeck a.k.a. Alexander verbrachte von seinen 70 Lebensjahren 45 mit dem Befund schizophrene Psychose in der Niederösterreichischen Landesnervenklinik Gugging, die letzten 14 Jahre als ein zumindest von den Kollegen anerkannter Dichter. Als ein Dichter allerdings, der nicht aus eigenem Antrieb schrieb, sondern zeitlebens des Zurufs seines Arztes und Förderers Leo Navratil bedurfte. Navratil gab einen Titel oder ein Thema vor, und Herbeck schrieb ihm ein entsprechendes Gedicht, so zum, Beispiel das Gedicht „Die Wüste“. Wenn ich hier noch einmal, ein allerletztes Mal, Max Benses Satz von der Literatur „als Sprache in einem unwahrscheinlichen Zustand“ zitieren darf, dann ist Ernst Herbecks Gedicht Sprache im unwahrscheinlichsten Zustand, den ich mir vorstellen kann. Und als ich es zum ersten Mal gelesen hatte, und völlig fassungslos war, und mir wünschte, ich könnte auch solche Gedichte schreiben, über diese anscheinend grenzenlose Freiheit verfügen, die sich doch der größtmöglichen Unfreiheit verdankte, da wurde aus der euphorischen Fassungslosigkeit eine große Ratlosigkeit. Kann es denn ein schlimmeres Missverständnis geben als das, ein „zustandsgebundenes“ Gedicht (Leo Navratil) als ein experimentelles oder avantgardistisches Gedicht zu lesen? Wahrscheinlich nicht. Andererseits sah und sehe ich doch, was Ernst Herbeck da macht, mit den Buchstaben A und S, mit den Reimen, Halbreimen und Assonanzen, mit den Oxymora, mit dem seltsamen Fremdkörper der einfachen Sandwichs, mit den Anführungszeichen am „heißen Sund“ und den Gedankenstrichen in „– der Wüste –“, das alles machte ich doch auch, aber eben höchstens halb so gut. Oder anders gefragt: Wenn sich jemand, gänzlich ohne literarische Vorbildung und mit dem Stigma ,schizophren‘ behaftet, ganz eigenständige Systeme baut, die höchst elaborierten und extrem reflektierten Strukturen nicht nur zum Verwechseln ähnlich sehen, die vielmehr und tatsächlich elaboriert und reflektiert sind, und wenn hier ganz offensichtlich eine Welt nicht beschrieben oder behauptet, sondern konstruiert und konstituiert wird – worin soll denn dann, um Gottes Willen, das Missverständnis bestehen? Ich fürchte darin, dass Ernst Herbeck wahrscheinlich ganz normale, konventionelle, illustrierende Gedichte hatte schreiben wollen. Und wohl auch der Meinung war, das sei ihm ab und zu gelungen.

Ulf Stolterfoht, aus Ulf Stolterfoht: Wurlitzer Jukebox Lyric FL – über Musik, Euphorie und schwierige Gedichte, Stiftung Lyrik Kabinett München, 2015

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00