Ulf Stolterfoht: Zu Friederike Mayröckers Gedicht „Winter-Text mit Automatik“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Friederike Mayröckers Gedicht „Winter-Text mit Automatik“ aus Friederike Mayröcker: Tod durch Musen.

 

 

 

 

FRIEDERIKE MAYRÖCKER

Winter-Text mit Automatik

„… ehesten maurisch; ist bei weitem Dagobert; hängt hälsig;
aaafeuerschiffig; über Bord; hat auch Genie-Auge; betritt Almosen;
atemlos verhängt im Dreiklang; hast neunte serenade?
aaaSteinplatz
für Kinder: holz-klopf-Herz: ein Rumpf im neuen Maszstab;
ein Traktat: enormer Wintermorgen
Schnee; Schnee-Enklave; seit Scharen gerettet; ein Heimweh-Lorbeer
(ach Schaukelpferd; Mops; wacholdern struppig alt; mein Mops;
sitzt
aaawinterkalt an einer Straszenecke; liegt flach)
aaa(…)

 

Sollte es in der deutschsprachigen Literatur

jemals so etwas wie Pop-Texte gegeben haben, dann wurden sie, zumindest für mich, nicht von Rolf Dieter Brinkmann, Peter Handke oder Hubert Fichte, sondern von Friederike Mayröcker geschrieben, mit ihren beiden Prosabänden Minimonsters Traumlexikon (1968) und Fantom Fan (1971), sowie mit dem zweiten Teil ihres Gedichtbands Tod durch Musen (1966/1973), den der anzitierte „Wintertext mit Automatik“ beschließt. Nun soll Pop hier aber nicht oder nicht nur heißen, dass in diesen Texten populäre Phänomene auftauchen und verhandelt werden (das geschieht in den Prosabüchern durchaus, in der ersten Strophe des Wintertextes begegnet uns immerhin noch ein Dagobert), Pop soll vielmehr heißen, dass sich Friederike Mayröcker (die, soweit ich weiß, der Pop-Musik gar nicht so besonders viel abgewinnen kann) bewusst oder unbewusst popmusikalischer Verfahren bedient, um daraus, und in Verbindung mit den ganzen formalen Errungenschaften der literarischen Avantgarde, etwas zu bauen, das für mich deshalb so einzigartig dasteht, weil es den Leser intellektuell UND körperlich packt und, zumindest in meinem Fall, überwältigt. Und wie sie das macht, das hat ganz wesentlich mit den von Diedrich Diederichsen zu Beginn beschriebenen Schreien Johnny Winters zu tun:

Diese Schreie waren keine expressiven Kitschschreie authentischer Individualität, sondern pure Soundeffekte, ein Erkennungszeichen.

An anderer Stelle (einer Stelle, die ich bezeichnenderweise nicht mehr finden kann, auch nach dreimaligem Durchblättern des kompletten Buchs nicht) spricht Diederichsen davon, dass sich das Begehren des Hörers in der Regel nicht auf einen ganzen Song richtet, sondern auf kleine, diskrete Momente, das kurze Umkippen der Stimme, das Erklingen eines Glöckchens im Hintergrund, auf marginale Phänomene, die gleichwohl als Fetisch funktionieren und derentwegen man das ganze Lied immer wieder hören möchte – während man tatsächlich doch nur diesen einen Effekt wieder und wieder erleben will. So geht es mir mit den Texten in Friederike Mayröckers Tod durch Musen: Ich lese sie seit vielen Jahren immer wieder aufs Neue, aber eigentlich will ich nur die Kicks, die mir diese Fetische verschaffen: „ist bei weitem Dagobert“, „hat auch Genie-Auge“, „hast neunte serenade?“, „seit Scharen gerettet“, oder, ein Beispiel aus dem vorletzten Gedicht des Bandes mit dem Titel „Text mit den langen Bäumen des Webstuhls“, das beginnt mit „… stokowski signalisierte tropfenweis / sigmaringen“ – für mich der Inbegriff des lyrischen Fetischs und Objekt der allergrößten Begierde. Ich sage es mir immer wieder vor, und verstehe nichts – und verstehe doch alles.Vor allem verstehe ich, dass mich diese vier Wörter unglaublich glücklich machen. (Adorno got it right, unfortunately!)
Es gibt nun allerdings einen wesentlichen Unterschied: Während es in der Konzeption Diederichsens, der Pop-Konzeption, solche Fetische nur vereinzelt gibt und geben kann, bestehen die Mayröcker-Gedichte dieser Phase fast ausschließlich aus Fetischen – gerade die oben zitierte Strophe scheint mir dafür ein gutes Beispiel zu sein – so dass uns, ähnlich dem Bahnwärter bei Glenn Gould, dem mehr als das fahrplangemäße Vorbeirauschen der Züge ihr Ausbleiben (als Nicht-Geräusch) auffällt, sogar die blinden, nicht-fetischisierten Sequenzen zum Fetisch werden. Und wir uns, da nun glücklich alles zum Fetisch geronnen ist, schon wieder vom Begriff des Fetischs verabschieden. Er ist uns Rübe geworden.

Ulf Stolterfoht, aus Ulf Stolterfoht: Wurlitzer Jukebox Lyric FL – über Musik, Euphorie und schwierige Gedichte, Stiftung Lyrik Kabinett München, 2015

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