Uljana Wolf: kochanie ich habe brot gekauft

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Uljana Wolf: kochanie ich habe brot gekauft

Wolf/Töpfer-kochanie ich habe brot gekauft

DEUTSCHES LITERATURARCHIV MARBACH

diese kästen enthalten frauen
die nicht bearbeitet werden können

in dokumenten überwintern
widerrede ohne rede
rede ohne wiederkehr
blassgrau beschriftet
nutzbar : beschränkt

am namen liest sich
der zweifel nicht ab
nirgendwo steht

mein trotz ist mein werkzeug
und meine verstummung

uns anheim gegeben
verliert sich die spur

wer wollte sagen so und so
einen gehorsam verzeichnen
oder eine sture falte auf der stirn

 

 

 

Es sind knisternde, kristalline Momente,

denen Uljana Wolf in ihrem Debüt kochanie ich habe brot gekauft nachspürt, Momente der Überschreitung, in denen die Intimität des Vertrauten blitzartig umschlägt in die Erotik des Fremden. Als „reisende“ bewegen sich ihre Gedichte mit spielerischer Leichtigkeit von Land zu Land, von Frau zu Mann, von Zunge zu Zunge. Alles scheint hier übersetzbar.
Feinfühlig und mit bisweilen verschmitzter Verve gelingt es Uljana Wolf, Begegnungen mit Geliebten und Vätern, Holzfällern und bissigen schlesischen Dorfhunden im „aufwachraum“ der Sprache poetisches Leben einzuhauchen. In einer Welt, in der die Sprache unterwegs und das Unterwegs in der Sprache ist, entstehen Gedichte als Miniaturunterkünfte, die den Leser verführen – zum Verweilen, zum immer Wiederlesen.

kookbooks, Klappentext, 2005

 

Lyrikschreiben ist „Schrumpfarbeit“

Berliner Dichterin Wolf spricht über Dichtertricks

– Lyrik ist ein Medium, in dem jedes Wort für sich eine Bedeutung hat, sagt die in Berlin geborene Dichterin Uljana Wolf. In ihren Gedichten aus dem Debütband kochanie ich habe brot gekauft begibt sich die Autorin auf eine geschichtliche Spurensuche. Sie erzählt von Deutschland und Polen, von Vätern und Töchtern, aber auch von Liebe und Versöhnung. –

Jürgen König: Uljana Wolf, geboren 1979 in Berlin-Mitte, aufgewachsen in einem Neubaugebiet am Rande von Berlin. Mit zwölf Jahren schreibt sie ihre ersten Texte, lernt in einer Literaturwerkstatt ihr erstes literarisches Handwerkszeug, schreibt Prosa zunächst, dann merkt sie, dass ihre Sätze immer knapper werden, schließlich verlegt sie sich ganz und gar auf Gedichte, bekommt Preise für diese Gedichte. Für den im letzten Jahr veröffentlichten ersten Gedichtband kochanie ich habe brot gekauft, dafür bekommt sie gleich den Peter-Huchel-Preis – und das ist die höchste Auszeichnung für Lyriker, die es im deutschsprachigen Raum überhaupt gibt. Guten Tag, Uljana Wolf.

Uljana Wolf: Guten Tag.

König: Dass Sie sich über den Preis gefreut haben, lässt sich denken. Auch ein wenig gefürchtet, so viel Ehre?

Wolf: Ja, das war schon ein zweischneidiges Gefühl, als ich das erfahren habe.

König: Was ist die andere Schneide?

Wolf: Man kann es mit dem Wort „Ehrfurcht“ ganz gut beschreiben, weil da die „Furcht“ drin ist wie auch die „Ehrung“. Schon das Gefühl, jetzt auf einmal ganz viele Erwartungen vielleicht zu sehen, die an mich gestellt werden mit diesem Preis.

König: Es ist ja eigentlich auch schade. Sie haben im Grunde schon alles erreicht, was man als Lyriker in Deutschland erreichen kann – und Sie fangen gerade erst an. Wie geht es denn jetzt noch weiter?

Wolf: Na, jetzt bin ich ganz streng mit mir und mache einfach so weiter, als wäre nichts geschehen – was natürlich nicht geht. Also es ist natürlich ein ganz toller Fortschritt, der mit dem Buch, mit dem Preis erreicht ist. Aber ich werde einfach im kleinen Kämmerlein weiter schreiben.

König: Sie haben Literatur-, Kulturwissenschaften und Anglistik an der Berliner Humboldt-Uni studiert, arbeiten in einer Buchhandlung in Berlin-Mitte. Das ist aber alles nicht das Eigentliche, das ist nur so das Tun nebenbei für den schnöden Unterhalt.

Wolf: Ja, genau.

König: Was ist das Eigentliche?

Wolf: Das Eigentliche liegt irgendwo dazwischen, zwischen dem Gang vom Buchladen nach Hause oder an den Rändern von dem, was man normalerweise macht. Also gerade Lyrik zu schreiben, das kann man nicht einfach nur den ganzen Tag machen. Ich kann nicht den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen.

König: Lässt sich denken.

Wolf: Ja, genau. Also, alle Wege dazwischen, alles, was man mitnimmt, ist wichtig.

König: Wann schreiben Sie? Kommen sie morgens früh, abends spät, immer?

Wolf: Wann es kommt. Wann es mich überkommt. Im tiefsten…

König: Also es gibt ein „Es“, das da kommt?

Wolf: Ja genau, würde ich schon sagen. Genau. Ich brauche auf jeden Fall aber vorher und nachher ganz viel Ruhe, um mich einfach zu konzentrieren zu können auf diese andere Arbeit, diese andere Sprechweise, die dann sich im Kopf formt. Also es geht nicht, dass ich morgens noch arbeite irgendwo anders und mich dann abends hinsetze und umschalte.

König: Sie haben mit zwölf angefangen. Können Sie sich noch erinnern, wie das anfing mit dem Schreiben?

Wolf: Leider nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich diese ersten Texte irgendwann geschrieben habe. Und die waren natürlich ganz kitschig gereimt, ganz viel romantisches Zeug, was man irgendwo anders aufgeschnappt hatte. Aber warum ich eigentlich das machen wollte, das weiß ich nicht.

König: Nun schreiben ja viele in diesem Alter…

Wolf: Ja.

König: Sie haben aber nicht wieder damit aufgehört.

Wolf: Ja.

König: Warum nicht?

Wolf: Es wurde mir eine ganz wichtige Ausdrucksweise, eine ganz wichtige Art, die Welt durch diese Sprache zu sehen. Es hat mir einfach immer unheimlich viel Spaß gemacht und es war ganz wichtig, als ich gemerkt habe, dass ich da was gefunden habe…

König: Können Sie ein Beispiel dafür geben?

Wolf: Nee!

König: Vielleicht lesen Sie uns doch ein Stück oder mehrere, damit unsere Hörerinnen und Hörer auch wissen, wovon hier überhaupt die Rede ist, damit sie Uljana Wolf überhaupt mal hören. Sie haben ausgesucht „mein flurbuch“. Was ist das?

Wolf: Ja ein „Flurbuch“ ist ein altes Wort für ein Grundbuch, in dem Grundbesitz eingetragen wird, ein Katasterbuch. Und in dem Gedicht geht es eben um Spurensuche, um Generationen, sozusagen die Einschreibungen in die Geschichte.

König: Und es ist ein Zyklus aus acht Gedichten.

Wolf: Genau, acht kurzen Teilen.

König: Und den hören wir jetzt.

Wolf:

MEIN FLURBUCH
I
meine väter
sind einfache männer

sie haben töchter
wie ich eine bin

wir fragen geschickt
wir tragen gestickt

unseres vaters wort
noch in die dunkelsten wälder

II
meine väter
sind keine einfachen männer

sie haben töchter
wie ich eine bin

wir sagen geschickt
wir jagen gespickt

unseres vaters wort
noch in den dunkelsten wäldern

III
meine münder
sind keine einfachen väter

der erste spricht
ich habe vermessen 

der zweite schweigt
ich wurde vergessen 

der rest ist sich uneins
der rest setzt sich durch

IV
meine väter
sind einfache vermesser

der erste geht
der zweite ruft
der dritte verbindet
die länder zu zahlen

V
meine väter
sind keine einfachen vermesser

der erste bleibt
der zweite weint
der dritte trägt ein
was die karten verschweigen 

VI
meine münder
sind einfache töchter

unsere flurbücher
tragen wir emsig
unter den herzen

wir schreiben hinein:
die liebe hat maße
verlässlich mit datum und ort

VII
meine töchter
sind keine einfachen münder

wir trauern lange
wir lauern trotzig
wir schreiben in klammern

die liebe streunt aber doch
umher in den karten
wir habens gesehen

VIII
meine väter
sind keine einfachen reime

die liebe raucht um die wette
mit einer filterzigarette

meine töchter
sind keine albernen münder

aber das musste sein

König: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Uljana Wolf. Sie las uns einen Zyklus aus acht Gedichten mit dem Titel „mein flurbuch“. Frau Wolf, ist Dichten ein Handwerk?

Wolf: Auch, ja. Ja, auch.

König: Können Sie uns einen Einblick geben in die Lyrikwerkstatt? Wie bringt man die Sprache zum Klingen? Verraten Sie uns einen Dichtertrick.

Wolf: Einen Dichtertrick. Der Dichtertrick, von dem ich denke, dass er der wichtigste ist, ist: Kürzen, Kürzen, Kürzen. Was ich in Gedichten gar nicht mag oder was ich denke, was durchaus auch schlechte Gedichte hervorbringt, ist Geschwätzigkeit. Wenn man nicht vertraut darauf, dass Lyrik ein Medium ist, in dem jedes Wort für sich eine Bedeutung hat und Klang, Bedeutung, Inhalt, alles Mögliche trägt. Und mehr tragen kann als in der Prosa, mehr über sich hinausgehen kann. Und wenn man diesem Wort nicht traut, sondern noch ein anderes dazu packt oder vielleicht noch ein zweites dazu – damit man merkt: Jetzt ist es wirklich ganz deutlich – ist es meistens schon zu viel.

König: Das heißt, Ihre Texte wachsen nicht, sie schrumpfen?

Wolf: Ja. Ja, ja. Es ist Schrumpfarbeit.

König: Es ist auch brutal, sich immer von dem, was man vielleicht gerade auch herzenslieb aus sich heraus geschrieben hat, wieder wegzunehmen.

Wolf: Sehr brutal, sehr brutal. Aber das ist die Werkstatt. Man kann, wenn es einem zu brutal ist, kann man sich so einen virtuellen oder irgendwie Ordner anlegen, in den die ganzen weggeschnipselten Teile reinkommen, vielleicht…

König: So was gibt es, einen Resteordner?

Wolf: Ja, so was. Also Halde oder es gibt, jeder nennt das irgendwie anders, ich glaube, das gibt es, wenn man sich nicht ganz trennen kann, dass man einige der Versatzstücke dort hineintut und manchmal passen sie woanders mit rein.

König: Was ist überhaupt ein Gedicht?

Wolf: Das ist die schwierigste Frage von allen. Ja. Ein Gedicht ist ein kondensiertes…

König: Jetzt kommt „Surrogat“…

Wolf: Ja. Es ist wirklich eine schwere Frage und eigentlich behelfe ich mich meistens damit, dass ich irgendwelche Umschreibungen mache. Denn, was ein Gedicht ist, ist ganz schwer zu sagen. Auch was ein gutes Gedicht ist, ist schwer zu sagen. Meistens kann man nur den Finger drauflegen und sagen: Genau dieses.

König: Wie würden Sie das dann begründen?

Wolf: Ich würde vielleicht sagen, dieses Gedicht ist sprachlich sehr genau gearbeitet, jedes Wort stimmt, es hat eine ganz tolle Klangkomposition. Ich würde vielleicht sagen, es läuft am Ende auf ein Bild heraus, was ich so noch nie gesehen habe, was mir irgendetwas Neues zeigt oder mich hineinstößt in eine Sprachwelt, sozusagen Erkenntnis bringt oder mich einfach sinnlich anspricht. Ja, das ist jetzt sehr allgemein gehalten, aber man braucht eben einen Text dazu.

König: Es gibt sehr viele Väter in Ihren Gedichten. Wo kommen die alle her?

Wolf: Die kommen daher, dass ich irgendwann gemerkt habe, was mich an Spurensuche, Geschichtssuche interessiert. Viele Gedichte in dem Band handeln von Deutschland und Polen. Das ist vor allen Dingen die Vätergeneration und das ist vor allen Dingen die Generation, die eigentlich nicht so viel spricht über das, was sie getan hat oder was da los war. Ich glaube, das ist eine… Diese Väter sind sehr schweigsame Väter in diesem Buch und mit dieser Kommunikation oder Möglichkeit von Kommunikation, damit beschäftigen sich die Gedichte.

König: Was mir inhaltlich sehr aufgefallen ist, dass es immer zwei Pole gibt. Also Vater und Tochter, das Vertraute – das Fremde, das Abwesende – das Vorhandene, das man da so sieht. Oder auch das Private und das, sagen wir, Universale. Denken Sie, leben Sie, empfinden Sie so in diesen polaren Kategorien?

Wolf: Eigentlich gar nicht und darum geht es in den Gedichten. Das ist natürlich ein ganz einfacher Trick, ganz simpel, so ein Dichtertrick über Schwarz und Weiß und so weiter zu gehen, aber eigentlich geht es darum, dass man immer nur in dem Dazwischen eine Art Wahrheit oder Wirklichkeit ansiedeln kann, dass verschiedene Möglichkeiten durchgespielt werden in den Gedichten – ja oder nein, das oder jenes – und eben derselbe Zustand ganz anders beschrieben werden kann. Zum Beispiel in den Gedichten „aufwachraum“, da geht es um ein Aufwachen im Selbst, also sich selbst gewahr werden, und das kann einmal ganz positiv beschrieben werden und einmal ganz negativ. Und irgendwo dazwischen liegt immer die Wahrheit, wenn es sie denn gibt.

König: Lyrik wird ja von vielen Menschen als eher unzugänglich oder sagen wir mal als schwierig empfunden. Geht Ihnen das auch so, wenn Sie die Lyrik anderer lesen?

Wolf: Jein, muss ich sagen. Jein. Gedichte lesen ist natürlich ein beglückender, aber auch ein schwieriger Vorgang, weil er einfach Arbeit vom Leser erfordert. Also man muss das Gedicht auch immer wieder selbst vervollständigen, wenn man es liest. Und das ist ja auch das Abenteuer daran. Und insofern würde ich schon sagen, dass es auch schwer fällt.

König: Lesen Sie uns noch eins zum Ende des Gesprächs?

Wolf: Ja, gerne.

König: Dann bitte ich, eines Ihrer Wahl.

Wolf: Eines meiner Wahl. Dann würde ich doch eigentlich gern. …„die hunde“ kann man nur zusammen lesen… Es ist alles immer so zusammen… Den „holzfäller“.

König: Warum den „holzfäller“?

Wolf: Weil der so ein lustiges Gedicht eigentlich ist. Und so ein sprachratterndes…

König: Ein „sprachratterndes“?

Wolf: Ja, also eins, was wirklich auf die Sounds geht, so. Das lese ich eigentlich sehr gerne.

HOLZFÄLLER

der hatte nachts hat arme
ganze pfade unterholz die adern
wuchern halb im dunkeln fort

der hatte nachts hat hände
fängen ähnlich hat ach hecken
ausgezehrt von beerenrot zu not

der hatte nachts hat äxte
stoß und schaftgeschwader roh
geschwungen schwer gerodet der

hat arme hände äxte
ächzend späne ausgezählt
fasernackt geackert nein

der hat gehackert

König: Vielen Dank.

Deutschlandradio Kultur, 21.4.2006

Auf zur Jagd, ihr Hunde

– Von außen und von innen zu benutzen: Uljana Wolfs Gedichtband kochanie ich habe brot gekauft gehört zu den Preziosen der Saison. –

Schmal ist es, aber es gehört zum Feinsten und Besten, was in diesem Jahr verlegt wurde. Allein schon von außen: Das Bändchen kochanie ich habe brot gekauft ist in der gewohnt ungewöhnlichen Kookbooks-Manier gestaltet und einfach zum Kaufen schön. Ein sattroter Strom aus leckenden Wellen, oder vielmehr aus blättrig dahinfließenden Man-weiß-nicht-was-Dingern verführt zum Nicht-mehr-Wegschauen.
Polnische Frühstückshörnchen – von wegen „brot gekauft“ – sind es wohl nicht, aber können Zungen wirklich so schön sein? In dem rätselhaften Bildstrom tauchen beim längeren Hinsehen weitere Motive auf, ganz einfache, eindeutig erkennbare Dinge, eine Muschel, ein Geldstück, die Konturen eines Menschen.
Die Gedichte der jungen, 1979 in Berlin geborenen Lyrikerin Uljana Wolf vermitteln sich über eine schlichte, konkrete, oft archetypisch anmutende Bildwelt, über die der Leser aber, indem er sich auf das Einfache einlässt, in einen poetischen Parallelzustand enthoben wird. Ein Gedicht von Uljana Wolf zu lesen ist, als ob man arglos auf einen irgendwo herumliegenden Stein steigt und plötzlich mit dem Kopf in einem ungeahnten Zwischenreich steckt, einfach so. Mit den erlesensten klanglichen Dichtertricks macht Uljana Wolf solche parallelen Wahrnehmungsebenen auf und lässt den Leser geschickt hinüberfließen.
Dabei geht es nicht nur um die Produktion magischer Klang- und Bildgespinste. Es werden gewichtige Inhalte verhandelt. „Die Welt ist so klein / die Welt hat nur zwei Etagen“, so wird Halina Póswiatowska in einem Motto zitiert, und genau darum geht es bei Uljana Wolf: um zwei Ebenen, zwei Phasen, zwei Welten und ihre Übergänge – Vater und Tochter, das Vertraute und das Fremde, Abwesendes und Präsentes, das Private und das Universale.
Im „flurbuch“ spielt die Dichterin anhand einfachster Kategorien die Beziehung zwischen zwei Gegensätzen durch, nicht ohne dem eigenen Sprachspiel ganz undogmatisch zuletzt mit Ironie, ja mit Albernheit zu begegnen. Zwei „aufwachraum“-Gedichte lassen Himmel und Hölle im traumwandlerischen Narkoseschlaf hauchdünn beieinander liegen. Wachen das eine Mal „große schwesterntiere“ wie erlösende Hirten über das „postnarkotische geschniefe“, wird in der Gegenversion das Bett zur „barke“, und die „schwarzen schwestern die / als strafgericht am ufer stehn“ leiten „sanitäres fegewasser“ in den Tropf der Dahindämmernden.
Die thematische Bandbreite der Dichterin ist beachtlich. In dem Zyklus „wald herr schaft“ hat sie sich die Figuren- und Sprachwelt von Shakespeares Titus Andronicus geradezu kongenial einverleibt: „verschworen fickrig und verschwistert“ haben „böse wichte der // geschichte ihre gotenhoden antithetisch / aufgebockt zur jagd“.
Uljana Wolf, die sich in jüngster Zeit als eine der wichtigsten jungen Lyrikerinnen einen Namen gemacht hat, ist auch als Vermittlerin polnischer Literatur aktiv. Im letzten Teil des Bandes bedichtet sie eine Reise nach Schlesien, die in zwei programmatischen Gedichten auf die Dorfköter von Krzyzowa/Kreisau gipfelt. Deren „bellen in wellen“ und „geifer geben“ wird zum Sinnbild für das Thema jeglicher Dichtung, das Sprechen in Bezug auf die Wirklichkeit. Wolfs „nachtrag an die kreisauer hunde“ ist ein Manifest für die Dichtung, denn die Hunde lehren sie, dass Gedichte nicht „vom eignen echo umstellt“ sind, sondern dass die Welt der Dichtung „bei fuß“ folgt – und sei es in Form eines Bisses in die empfindliche Dichterwade.
Die Bedeutsamkeit der hier versammelten Lyrik vermittelt sich über den leichtgewichtigen Buchtitel nicht gleich. Doch schon das Eingangsgedicht „die verschiebung des mundes“ setzt einen Standard, der derzeit nur wenigen deutschsprachigen Lyrikern zu bescheinigen ist. Beschrieben wird ein Wendepunkt in der Nacht: der Moment, in dem ein Umkippen der Weltwahrnehmung geschieht, ein Wandel der Dimensionen, wenn nämlich das vertraute Haus sein Gesicht verliert, „die lippen schmal wie lider“ schließt, und „dagegen öffnet seinen rachen / der himmel…“.
Dass der Gedichtband dennoch nicht in Schwergängigkeit versinkt, ist ausgesprochen erfreulich. Bei aller Bedeutsamkeit ist das spielerische Element bewahrt geblieben, und sei es bei den Seitenzahlen, die von wachsamen Hunden flankiert werden, sitzend, stehend, einige Male sogar bellend. kochanie ich habe brot gekauft muss man eines der schönsten Bücher des Jahres nennen, innen und außen. Man sollte es sich schnell beschaffen. Den letzten beißen die Hunde.

Sabine Franke, Frankfurter Rundschau, 7.12.2005

Die Aufkündigung der väterlichen Sprache

– Ein Debüt und gleich der Peter Huchel-Preis: Uljana Wolfs Gedichtband „kochanie ich habe brot gekauft“. –

Der Vers ist kunstlos, das Gedicht ohne Lebensgeräusche, wenn die Autorin Uljana Wolf ihr Steckenpferd reitet, wenn sie den nachgestellten Kinderton als Tarnkappe für ihr feministisches Einmaleins nutzt. Die Variationen des Zyklus „mein flurbuch“ gelten der unbegraben verwesten Liebe der Töchter zu den (begrabenen) Vätern und der Väter zu den Töchtern, über die ihr Wort Gewalt hat, weil sie Männer sind. Wenn wenigstens die Zersetzungsprodukte der Gefühle ordentlich zum Himmel stänken und die Verse belebten. Es reicht aber bloß zum blauen Dunst:

die liebe raucht um die wette
mit einer filterzigarette

Aber die figurative Rede verrät konzeptionelle Kraft. Der Sprung ins Bild der Schlafenden und die augenblickliche Überblendung und Verwilderung des Körpers in der Manier Arcimboldos führt in die zukunftschwangere Gegenwart eines Vorzimmers des Lebens. Im Motiv des „Aufwachraums“, in den Operierte zur Beobachtung gebracht werden, verhandelt die junge Autorin ihre Lage, den Zustand des Bewusstseins auf der Schwelle zum poetischen Ausdruck: den ersten Schöpfungstag. Es bedarf keiner großen Mühe, sich vorzustellen, wie dichterische Einbildungskraft sich der Ausdrucksmöglichkeiten des gewaltigen Stoffs bemächtigen könnte, des himmelblauen Nichts des keimenden Beginns, des Schwellenzaubers, der Ungeheuerlichkeit der Schwellenerfahrung, der phantastischen Vorgänge des Übergangs und Gestaltwandels.
Die Antwort der Autorin auf die Reizmittel ihres Materials zeugt eher von Geistesgegenwart und Sitzfleisch denn von überschwänglichem Fluggeist. Sie hält sich an die Tatsachenlage im Aufwachraum. Der Dunst und die Scherben postnarkotischer Zustände geraten zu einem realistischen Streifen über weidende Schafe und Hirten in Gestalt großer „schwesterntiere“, dazwischen das Bett als schwankende Barke. Der Weckruf der Schwester leitet direkt zur Anrufung Ingeborg Bachmanns über, der Schutzheiligen der nachfolgenden Patriarchatskritik.
Auf eine eigene Spur schwenkt die 27-jährige Berlinerin erst in der zweiten Hälfte ihres Debüt-Bandes ein. Leben, Witz, Vitalität, artistische Verve kommt in die laufende Vorführung des künstlerischen Beginns und der Lehr- und Wanderjahre, als die Kapitel über den kindheitlichen Schlaf der Vernunft der erwachsenen Geschichte des Ichs Platz machen und das Bewusstsein in Zeit und Geschichte eintritt. Noch ist es die vermittelte Welt des Theaters auf dem Bildschirm, die ihr im Stoff von Shakespeares Titus Andronicus das menschliche Drama der Freiheit vor Augen führt. Freiheit ist in der „verschwisterten“ Welt des Theaterstücks die Freiheit zum Bösen und der Wille zur Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich. Die bedrängende Gegenwart des Anderen, des Barbaren an den Grenzen des Römischem Reichs setzt die blutige Dynamik der Geschichte in Gang, das Machtspiel der Brüder Chiron und Demetrius und das elende Schicksal der verstümmelten Lavinia.
Merklich sorgt die Aufrichtung einer Sprechbühne, die verdoppelte Fiktion und die Aufspaltung der Sprache in Schrift und Rede für Zufuhr an Spannung und Dramatik. Im lebendigen Gegenverkehr von zeichenhafter Konvention in der „väterlichen“ Sprache und dem sich Bahn brechenden eruptiven „livestream“ der Tochter kommt es zur wechselseitigen Konturierung gegensätzlicher Ausdrucksarten. Tonfälle, Sprechgebärden stellen sich ein, eine assoziative Dichte und affektive Aura.
Gleichzeitig wird der Tornister gepackt. Der titelgebene Zyklus, mit dem der Band schließt, gilt dem Aufbruch in eine Fremde, die „Gespräche ausbildet“ und Grenzen sichtbar macht. Der Aufenthalt in der polnischen Provinz, in Lódz, zuletzt in Kreisau, erscheint als Wechselspiel von Nähe und Distanz. Die Entdeckung, dass die Männer „nicht (mehr) unsere Väter warn“, die Bekanntschaft mit der Leidenschaft, der „Schlaglochliebe“ im „kleinen Grenzverkehr“ bildet den versachlichten Kontrapunkt zu Grenzzäunen, zum Zoll, zu den Gleisbewachern und den von ihrem eigenen Echo umstellten Kreisauer Hunden. Zu welcher Ausdrucksintensität die Autorin aber bei aller Tendenz zum Sagbaren, Diesseitig-Tatsächlichen, zu Witz und Verstand fähig ist, das führt sie in der kunstvollen Antithetik der Elegie „kreisau, nebelvoliere“ vor, einem mit der Sprache musizierenden Liebesgedicht.
Spätestens jetzt wird nachvollziehbar, warum die Juroren des Peter-Huchel-Preises mit ihrer Entdeckung ans Licht wollten und Uljana Wolf den diesjährigen Büchnerpreis der Lyrik zuerkannten. Damit allerdings haben sie des Wohlmeinenden zuviel getan und den Status des Peter-Huchel-Preises als letzter und höchster Instanz in der Reihe bundesrepublikanischer Lyrikpreise gefährdet. Warum nur stehen gewachsene Strukturen, Traditionen, Institutionen hierzulande immer wieder so mir nichts dir nichts zur Disposition? Es fehlt doch weiß Gott an Kandidaten für den Huchel-Preis nicht. Schlange stehen sie.

Sibylle Cramer, Süddeutsche Zeitung, 12.6.2006

An den Grenzen der Worte

Dieses Buch ist schon vor dem Lesen schön. Cover und Graphiken von Andreas Töpfer aus München sind ungewöhnlich ansprechend. Die Texte von Uljana Wolf stehen den Bildern in nichts nach. Sie füllt das Buch mit einer ganz eigenen Poesie, die schon mit den ersten Zeilen von „die verschiebung des mundes“ zu leuchten beginnt. Die kaum merkliche Verschiebung der vertrauten Dinge, der zu erwartenden Tatsachen, der bekannten Worte, der üblichen Perspektive um nur ein, zwei Grad scheint es zu sein, mit der Uljana Wolf es schafft, uns beim Lesen etwas überraschend Neues zu zeigen. Ihre Sprache ist sparsam und genau. Das ist alles. Und das ist viel. Knappe Verse, die selbst zwischen zwei kleinen Worten die Perspektiven tanzen lassen. Jedes Wort, jede Silbe kümmert sich um das selbst gesetzte Thema des Texts. Dichterische Attitüde taucht hier und da auf – als ironisches Zitat und genauestens platziert. Tiefe und Witz verweben sich, stehlen sich nicht die Show, beflügeln sich gegenseitig, halten die Stimme von der ersten bis zur letzten Zeile frisch in der Schwebe.
Die junge Dichtern wagt es scheinbar en passant Themen anzugehen und Stilmittel einzusetzen, für die so mancher Jungdichter von der Kritik rasch viel Prügel beziehen könnte: gott, herr, gebet, vater/väter, wald, flur, jäger, soldat, mädchen, märchen – das sind Schlüsselworte, die sich durch ihre Texte ziehen, sie leicht und klar beherrschen. Bilder wie „mund / stimme / reim“ irisieren zwischen realem Objekt und Metapher und thematisieren die Selbstreferenz der Sprache. Blicke werden überblendet wie im Videoclip, etwa wenn der Blick auf ein Haus im Novembernebel zugleich die Beschreibung eines Geliebten ist („kreisau, nebelvoliere“). Lyrische Sounds werden gesampelt, die wir anderswo her kennen: „ach wäre ich nur…“ („aufwachraum“ I und II) oder „schließ mich ein liebe ins gebet…“ („gästezimmer“), um uns vom Bekannten her spielerisch mitzunehmen in offene, andere Sounds, in neue Ideenkombinationen. Man könnte sagen Uljana Wolf beherrscht die Sprache – wenn beherrschen nicht so eine problematische Etymologie hätte. Und nicht bespielen das treffendere Verb wäre für die Souveränität, mit der sie ohne große Gesten große Fragen beinahe schwerelos zur Sprache bringt. Vermutlich hat dies auch die Jury des renommierten Peter-Huchel-Preises fasziniert (der bisher meistens an gestandene Ausnahmedichter vergeben wurde) dazu gebracht, den Preis 2006 an die sechsundzwanzigjährige Uljana Wolf und ihr Lyrikdebüt zu vergeben.
Diese Gedichte betreiben eine Erotik der poetischen Kommunikation, die Schreibende, Beschriebenes und Leser gleichermaßen berührt (die Gedichte „gästezimmer“, „übersetzen“ oder das titelgebende „kochanie ich habe brot gekauft“ zeigen das besonders eindringlich). Die meisten Texte des Bandes leben zudem in und von der kulturellen Ost-West-Spannung oder thematisieren den polnisch-deutschen Zusammenhang. Im „kinderlied“ wird ein altes Pionierlied aufgegriffen, das jedes Kind in der DDR einst auswendig kannte, weil es mit sehnsüchtiger Melodie die wahre Geschichte vom Tod des kleinen Trompeters erzählt – bei Uljana Wolf wird er zur unsterblichen Symbolfigur für eine kindliche Prägung, die nicht auszulöschen ist. Gleise, Weichen und Züge sind Uljana Wolfs Bilder für das Unterwegssein, „land“ und „brot“ die Metaphern für das Existenzielle, das sind seltsam gestrige oder osteuropäische Bilder – und doch lebt jedes ihrer Gedichte ganz im Hier und Jetzt.
Ein rundum gelungenes, ein schönes Buch. Jedem, der Gedichte liebt, sei es dringend empfohlen.

marsborn, amazon.de, 25.1.2006

Stille Minimalpoesie…

schließ mich ein liebe ins gebet
in die zwei etagen dieser welt
ins bewohnen wollen der Stimme

Worte werden zu Eindrücken – das nennt man Lesen. Worte werden zu Eindrücken, Ideen und Erinnerungen – das nennt man Gedichte lesen. Worte werden zu echten Bildern… wie nennt man das? Geht das überhaupt?
Uljana Wolfs Band kochanie ich habe brot gekauft hat mich, muss ich ganz ehrlich sagen, bei der ersten Lektüre sehr enttäuscht. Wenig Worte, wenig Verbindung unter diesen Worten, sehr wenig aufgeblühte Eindrücke nachdem ich das Buch nach 65 Seiten schloß. Doch als Gedichtleser muss man sich selbst gegenüber skeptisch sein, denn oft brauchen Gedichte Zeit – noch häufiger brauchen sie einen sehr aufmerksamen Leser, der sich in Richtung der Gedichte begeben kann. „ins bewohnen wollen der Stimme“ ist eine ziemlich treffliche Zeile um den Versuch des Lesers zu beschreiben in Wolfs Buch hineinzugelangen.

und gegen
den schlüssel
sperrt sich das schloss

Trefflicher kann der Gedichtband seine eigenen Problematik nicht zusammenfassen und begreifen, als in dieser Zeile. Denn Schlüssel werden uns genug an die Hand gegeben – jedes Wort, jeder Unterton des Wortes, die Anzahl eines bestimmten Wortes in einem Gedicht, die Wiederholung und Verbindung, das alles sind Schlüssel; aber oftmals sperrt sich das Schloss gegen jeden einzelnen. Man kommt nicht zu den Verbindungen durch, geschweige denn zu den Thematiken, die irgendwo schwingen zwischen Vaterphantasien, Flucht und Eros.
Lyrik/Poesie ist oft Assoziation, aber auch eine Möglichkeit, überhaupt nicht assoziativ zu sein, was für den Leser eine schwere Probe ist. Es ist dann so, als wäre man es gewohnt, dass Wörter in Gedichten in einem großen Raum herumwabern und plötzlich erscheinen sie glasklar, leuchtend, auf einer Wand – nun Erscheinungen des Unnahbaren.
Nachdem ich all dies beim Lesen bedachte und die Wörter ganz langsam auf mich Einwirken ließ, kam ich jedoch für mich trotzdem nicht wirklich zu neuen, poetischen Erfahrungen. Die Zeilen, die mir nach wie vor am besten gefielen (ja die ich überhaupt für fünf der besten Zeilen deutscher Poesie halte) waren Fremdzeichen in diesem Band voller eingliedriger Wortspiele und Vexierbilder, so einfach und doch wie elektrisch mit Wirklichkeit geladen, einzeln, wie ein Blitz:

dass du
hinter der schwelle
immer die tür suchst
ist doch kein Haus
ein Kuss

Lyrik wird immer eine sehr subjektive Erfahrung bleiben. Was den Leser hier erwartet sind sehr kurze, minimalistische, auf den zweiten Blick sehr nah gebaute, nicht weit, doch sehr tief auszulotende Gedichte. Ein Vorredner meinte sie betrieben „eine Erotik der poetischen Kommunikation“, was auf etwas verquere Weise sehr gut ausdrückt, was hier zwischen Leser und Gedicht gelingen muss. Nur wenige Worte müssen die schmale Brücke bauen zwischen sich selbst und einem gemeinsamen Sinn für sich und den Leser.
Man muss wissen wie weit man einem Gedicht entgegenkommen will. Hier ist es schon ein kleiner Fußmarsch.

Timo Brandt, amazon.de, 28.8.2012

Ein kleiner feiner Gedicht-Band von Uljana Wolf

Uljana Wolf schafft es die nie formulierten Augenblicke zwischen Sender und Empfänger lesbar zu machen. Mit filigranen Zeichnungen teils mit eingelegten transparenten Schmuckblättern. Eine Grafik von Andreas Töpfer, die die Würde des Bandes verstärkt. Ein Hoch auf die Herausgeberin Daniela Seel, und ein Dankeschön an den Verlag KOOKbooks die Buchkunst aufrecht zu erhalten.

Pit Lempp, amazon.de, 2.8.2009

Skeptische Zärtlichkeit

… schließ mich ein liebe
wohin sich die frauen schließen
wohin die frauen sprechen

(„gästezimmer“)

und, im nächsten Gedicht:

diese kästen enthalten frauen
die nicht bearbeitet werden können…

(„deutsches literaturarchiv marbach“)

zwei Zeilen aus Gedichten Uljana Wolfs, die nicht als ihre „typischsten“ gelten dürfen, und doch stehen sie weit vorn in dem Debütband kochanie ich habe brot gekauft, wie kleine Warnlichter, für ihre LeserInnen oder für die Autorin selbst.
Seit einigen Monaten ist dieses Debüt Uljana Wolfs eine Erfolgsgeschichte, wie sie alle Rezensionen mit großer Sympathie erzählen: Die erst sechsundzwanzigjährige, vorher nahezu unbekannte Autorin erhält im April 2006 den renommierten Peter-Huchel-Preis, ihr beim schon jetzt legendären kookbooks-Verlag erschienener Band wird weithin gelobt und verkauft sich bereits seit dem Erscheinen im Jahr zuvor beinahe wie von selbst – was gleichermaßen der Qualität der Gedichte wie der eigenwillig-schönen Gestaltung zugeschrieben wird, für die kookbooks inzwischen bekannt ist. Eine Erfolgsgeschichte also, wie sie der Lyrikbetrieb manchmal doch schreibt, gegen alle Häme, gegen alle Thesen… –
Thesen zum Beispiel wie die, mit der ich diese kleine Reihe von Lagebesprechungen eröffnet habe, bewußt auf der Suche nach weiblichen Stimmen, die mir im Kontext der sogenannten neuen Lyrikgeneration weniger Beachtung zu finden scheinen als ihre männlichen Kollegen. Natürlich war und ist das eher „gefühlte Empirie“, keine sorgfältige Untersuchung, für die ich mich wohl auch nicht zuständig fühlen würde – und doch, steht dieser Ansatz jetzt nicht ein bißchen dumm in der Gegend?
Zumindest das Thesenwesen steht dumm in der Gegend, wieder einmal, und wieder einmal frage ich mich, woher wir das überhaupt nehmen: diese Überblicke und Einordnungen, diese polemischen Deutungen und die Rankings, dieses Sturmgeplätscher im Lyrikteich – nicht, als ob es zur Poesie nicht wichtige Dinge zu reflektieren gäbe und zu diskutieren, Denkprojekte, Welthaltigkeitsprojekte, Erfahrungsprojekte in dieser größten Form auf kleinstem Raum. Was hier leider zu weit führt, aber wer es deutlich profunder will, vielstimmiger, informativer, sollte vielleicht hinausrudern zu www.lyrikkritik.de von Hendrik Jackson, zum Beispiel.
Uljana Wolf jedenfalls hatte ich mir im letzten Herbst vorgemerkt, nicht wegen der eingangs zitierten Gedichte, sondern weil der ganze Band tatsächlich aufhorchen läßt – seine genaue Abfolge von leichten und schweren Strophen, sein erstaunliches Gleichgewicht in den interpunktionslosen, kleingeschriebenen Zeilen. Durch viele Gedichte zieht sich ein heller, aufgeklärter Liedton, so, wie ihn der Titel verheißt, eine einfache Zeile in zwei Sprachen, in denen sich die unvertraute polnische Anrede kochanie (Liebling, Liebste/r/s) wie von selbst richtig spricht. Von Anfang an geht es um diese Zweistimmigkeit, das Deutsche, das plötzlich polnisch denkt, und das Polnische, das im Nachklang noch einmal deutsch spricht, ein fast schon verschollenes Deutsch.
Leicht sind in kochanie ich habe brot gekauft die poetischen Bewegungen durch den Stoff nachzuzeichnen, eine Traumreise von Liebe und Begegnung, die durch die reale Gegenwart polnischer Dörfer und Städte führt, Orte, hinter deren ehemals deutschen Namen Momente der tragisch verschlungenen polnisch-deutschen Geschichte in der Mitte Europas aufscheinen, aber von Gedicht zu Gedicht ist das Reisen ein Übersetzen – des letzten Jahrhunderts in das neue, der Generationen vorher ins Jetzt, der Männer in (Groß)väter, Brüder, Schwestern…, und umgekehrt. Dichte Bilder finden sich darin („… der sommer kniet / am rand der felder // wer stärker ist als sein vater / wer älter ist als sein auto // fährt staub / um die feldkreuze…, „krzyż polny“) und die Mehrdeutigkeit von Zeilen wie „schliefen die öfen“ (zugleich die Überschrift für einen ganzen Zyklus, in dem sich die Industriebrachen des abgelebten Kommunismus über das Vergessen und Erinnern der deutschen Verbrechen in Polen geschoben haben, über „… ruß / und schüttgut aus archiven…, („glauchau“) –
Hier eckt jetzt kurz eine andere „gefühlte These“ an, die ich in den Lagebesprechungen erwähnt habe, nämlich der Gedanke, daß im „globalisierten jetzt“ die jüngere deutschsprachige Lyrik sich nicht mehr auf die vorige Jahrhundertmitte beziehe, auf Krieg und Nachkrieg als die deutsche Signatur des zwanzigsten Jahrhunderts, obwohl auch in neuen Gedichten durchaus poetische Stimmlagen wie aus den zwanziger oder fünfziger Jahren auftauchen können (Benn in seinem eigenen Sound: „… Der Sommer stand und lehnte / und sah den Schwalben zu…“) – auch hier also ein Fragezeichen, oder vielmehr die Frage, was anders ist in den Gedichten Uljana Wolfs.
Vielleicht ist es wieder das Übersetzen – die Gedichte bereisen die Provinz des postkommunistischen Polen, nicht die EU-angeglichenen Städte, eine Provinz, die wiederum näher an den verödenden ostdeutschen Landstrichen liegt als an der saturierten Provinzialität westdeutscher Ländlichkeit – in diesem Spannungsraum sind die historischen Schichten durchsichtiger auf das Gemeinsame der mitteleuropäischen Geschichte, das dennoch in zwei verschiedenen Sprachen und zwei unterschiedlichen Mentalitäten ausgedrückt wird. Und das bis heute, allen politischen Versöhnungsgesten zum Trotz, auf die Retroviren von Nationalismus und Geschichtsklitterei mit Ausbrüchen von Autoimmunaggression reagiert, dies- und jenseits der Oder.
Aber es sind Gedichte, die da reisen, keine Leitartikel. Gedichte, die ihr eigenes Programm erfinden, ihren eigenen Fokus. Ihre eigene Sprechbarkeit der Welt. Sie sind keine obskuren Dorfhunde, vielmehr:

… der kennt euch nicht ihr rasenden kläffer
kassandren im lautrausch der wallachei

denn ihr fügt was wort ist und was wade
hinterrücks in tollkühnem biss

zusammen als wär ein bein nur ein blatt…
(„nachtrag an die kreisauer hunde“)

und da, in diesen kassandren im lautrausch, schließt sich wohl auch der Kreis zu den beiden eingangs zitierten Gedichten: das Gegenprogramm. Soviel skeptische Zärtlichkeit in den Gedichten, soviel Geduld im Abarbeiten von Vätersprache und Vorgängerstimmen, und dann, zum Schluß, das Ausholen in ein schönes Versprechen:

… so lohnt ihr dem vers der euch nachlief
folgt welt wohl der dichtung
bei fuß –

Brigitte Oleschinski, Ostragehege, Heft 43, 2006

Uljana Wolf

Vor drei Jahren erschien der erste Gedichtband von Uljana Wolf, kochanie ich habe brot gekauft. Für dieses Debüt erhielt die Autorin gleich zwei Preise. Gemeinsam mit der Dichterin Viola Fischerova bekam Uljana Wolf den Dresdner Lyrikpreis zugesprochen und im gleichen Jahr erhielt sie – als bislang jüngste Dichterin – den renommierten Peter-Huchel-Preis.
Die Kritiker schrieben zu Uljana Wolfs erstaunlichem Debütband:

Der polnische Ausdruck „kochanie“ bedeutet übersetzt „Liebling“. In den Gedichten erforscht Uljana Wolf die Möglichkeiten und Voraussetzungen von Sprache und Kommunikation, sei sie interkultureller, internationaler oder zwischenmenschlicher Art.

Die kaum merkliche Verschiebung der vertrauten Dinge, der zu erwartenden Tatsachen, der bekannten Worte, der üblichen Perspektive um nur ein, zwei Grad scheint es zu sein, mit der Uljana Wolf es schafft, uns beim Lesen etwas überraschend Neues zu zeigen. Dabei arbeitet sie mit keineswegs ungewöhnlichen Mitteln. Uljana Wolfs Sprache ist sparsam und genau. Das ist alles. Und das ist viel.

Sie selbst sagt über den Entstehungsprozess ihrer Gedichte:

Auf die Frage nach den Ursprüngen seiner Gedichte, dem Woher der Worte, antwortete Peter Huchel einmal: Ich weiß oft nicht, woher die Worte kommen. Es steckt viel Unbewußtes in der Arbeit.

Auch für mich, meint die Dichterin,

liegen die Anfänge eines Gedichts im Zwielicht, in einer Art verdämmerndem Raum… Ein Raum, in dem ich die Zeit lese, und durch die Zeit… die einzelnen Dinge verlieren ihre scharfen Konturen und lösen sich auf in einem alles durchflutenden Medium. In diesen Raum also fällt ein, was im Gedicht zum Fall wird: Autor, lyrisches Ich, Sprecher, Bilder, Erfahrungen, Figuren. Am Gedicht zu arbeiten, heißt, in dieses Fluidum zu treten, eine Auflösung zuzulassen… Anstelle von Fernsicht und vertrauter Sehweisen tritt zunächst eine Undurchdringlichkeit. Das meint keinen Nebel, sondern Bäume, Spinnweben, Sträucher, also Elemente einer Wirklichkeit, die plötzlich ungeordnet, dicht und eigenwillig nah ist. Hier wird zur Bedingung, dass, wer schreibt, den Wald nicht sieht vor lauter Bäumen: Denn aus den Einzelheiten wird das Gedicht verfertigt, wenn, in einem nächsten Schritt, Feinsicht einsetzt, und Neuordnung des Materials aus der in dickichter Bewegung befindlichen Wirklichkeit heraus.

Gedichte von Uljana Wolf wurden bislang ins Polnische, Belorussische, Dänische, Ungarische, Schwedische und Irische übersetzt. Andererseits trug sie selbst zum internationalen Lyriktransfer bei, indem sie Christian Hawkey aus dem amerikanischen Englisch ins Deutsche übertrug. Gemeinsam mit Christoph Buchwald gab sie das diesjährige Jahrbuch der Lyrik 2009 heraus.
1979 geboren, studierte Uljana Wolf Germanistik, Anglistik und Kulturwissenschaft in Krakau und in Berlin, wo sie auch heute lebt.

Cornelia Jentzsch, aus: Gegenstrophe Nr. 1. Blätter zur Lyrik, Werhahn Verlag, 2009

Porträt der Peter-Huchel-Preisträgerin Uljana Wolf

– Uljana Wolf, 1979 in Berlin geboren, ist Lyrikerin und sie verbindet mit so berühmten Namen wie Sarah Krisch, Thomas Kling, Elke Erb, Jürgen Becker oder Durs Grünbein die Tatsache, dass sie den renommierten Peter-Huchel-Preis gewonnen hat. Für ihren Debütband kochanie, ich habe brot gekauft wurde sie mit dem Preis ausgezeichnet. –

Peter Huchel, der großartige deutschsprachige Dichter und Namensgeber des gleichnamigen Preises für Lyrik, sagte über das Dichten:

Jeder, der schreibt, weiß, dass die Dichtung ihre eigene Dimension hat. Und ihre eigenen Erkenntnisse. Aber jeder, der schreibt, weiß auch, wie schwer es ist, dem Schweigen ein Wort abzuringen.

Uljana Wolf schrieb wie viele mit dreizehn ihre ersten Gedichte. Doch irgendwann reichte ihr der spontane Impuls nicht mehr aus. Sie entdeckte, dass nur durch strenge und kontinuierliche Beschäftigung mit Sprache, nur durch immer wieder überprüfte, hart erarbeitete Worte ein Gedicht bestehen kann.
In dieser strikten Zensur liegt wohl eines ihrer Produktionsgeheimnisse. Die junge Dichterin überzeugt durch ihr erstaunlich sicheres Vermögen, Worte präzise zu setzen, geübt mit Bildern umzugehen und Verse auf ein notwendiges Maß zu beschränken. Bereits in ihrem Debütband wird ein ausgesprochen mündiger Umgang mit Sprache sichtbar.

Ich bin auch ganz streng mit mir, wirklich. Ich schreibe nicht wahnsinnig viel, und das Wenige wird dann noch einmal gewogen. Weil, mir ist nichts, das klingt vielleicht jetzt pathetisch, mir ist nichts abholder, als zu viele Worte in die Welt zu setzen, die überhaupt nicht da sein müssen. Und es wird soviel geschrieben und gesagt, und gerade in der Lyrik darf das nicht sein.

Schon vor Jahren organisierten sich in Berlin diverse locker zusammengefügte Werkstätten junger Autoren. Ihre Diskutanten waren untereinander nicht nur freundschaftlich miteinander verbunden, sondern lasen vor allem gemeinsam und zerpflückten ihre Arbeiten.

Mit den Leuten, mit denen ich zusammengearbeitet habe – Daniela Seel, Alexander Gumz, Karla Reimert, Steffen Popp –, da haben wir stundenlang für ein Wort gekämpft und diskutiert, und dieser Ernst, der gehörte zur Grundausstattung meiner Arbeit. Und auch diese Konsequenz, dieses Wort muss beredet werden, es ging um jedes einzelne Wort, gerade beim Gedicht.
Eine meiner ganz frühen Lehren war, das ich geschrieben habe „kornblumenblau“, irgendwas mit „kornblumenblau“, im Gedicht, ja! Und ich meinte es als schöne, tolle Metapher. Und dann wurde mir unter die Nase gerieben, dass es eigentlich ein blumiges Adjektiv für betrunken ist. Ach, hm, das will ich aber trotzdem drin haben! Da muss man das schon mal prüfen, also, so was darf nicht passieren.

In Uljana Wolfs Gedichtband tauchen mehrfach Begriffe wie „Mundhöhle“, „Sprache“, „Zunge“ und „Übersetzung“ oder Verben wie „fragen“ und „schweigen“ auf. Indizien dafür, dass die Dichterin aufmerksam erkundet, wie das Sprechen eigentlich geschieht, was Kontakt und Verständigung für den Menschen bedeuten. Was trägt es für Folgen, wenn eine Kommunikation unterbrochen wird oder auf der einen Seite gar nicht erst stattfindet?
Im Gedicht „Mein Flurbuch“ heißt es nicht nur über die Münder, sondern auch die Väter: „der zweite schweigt / ich wurde vergessen“. Die Unfähigkeit, zu reden und das Unvermögen, etwas Wesentliches mitzuteilen, kann über ganze Generationen hinweg spürbare, manchmal sogar irreparable Schäden erzeugen. Die Auswirkungen lassen sich auch an der deutsch-polnischen Geschichte ablesen, über die Uljana Wolf unter anderem in ihrem Gedichtband schreibt. Den Anstoß, darüber nachzudenken, gab ihr das Studium, das sie nicht nur in Berlin, sondern auch in Krakow absolvierte.

Warum Polen? Ich habe es mir dann irgendwann so erklärt, ich war schon fasziniert von allen östlichen Nachbarn und das Slawische hat mich immer sehr angezogen. Ich wollte auch unbedingt nach Russland reisen und weiter in den Osten. Und bin da aber nie hingekommen und bin dann plötzlich in Polen gelandet. Und Polen ist ganz anders als Russland, das ist eine westslawische Kultur und eine westslawische Sprache. Es hatte aber doch diese fremden Aspekte, die mich total angezogen haben, und hat gleichzeitig ganz viel von mir, ganz viel von Deutschland, und ganz viele Verflechtungen und die es zu entwirren galt.

Zufall war vielleicht, dass Uljana Wolf vor zwei Jahren das Mercator-Berghaus-Stipendium erhielt, das ihr einen Aufenthalt im polnischen Krzyzow, dem früheren Kreisau einbrachte. In den vierziger Jahren gab es dort ein konspiratives Widerstandszentrum gegen den Nationalsozialismus. Zufall war aber keinesfalls, dass Uljana Wolf vor eben dieser historischen Geschichte nicht die Augen verschloss, sondern versuchte, sich ihr anzunähern. Ihr wurde immer bewusster, dass es nicht weniger als ihre eigene Fremde war, der sie im entfernten Polen begegnet ist. Die Anfangszeilen des titelgebenden Gedichtes ihres Bandes, kochanie, ich habe brot gekauft berühren, sie heißen:

so bildet die fremde
gespräche aus

Es ist erst das Unverständliche, Andersartige und Unbekannte, das die heutige Generation zum Sprechen treibt. Drang und Bedürfnis wachsen, sich zu übersetzen, auf die andere Seite hinüberzusetzen – um sich verständlich zu machen und um gehört zu werden. Ein „Grenzhandel“ der Sprache beginnt, wie Uljana Wolf diesen Vorgang bezeichnet. In ihm erfährt man, „wie sich was zu hälften fügt“, wie etwas schon längst auf eine bislang unerkannte Art zusammengehört.
Um die auseinander gebrochene Geschichte ihrer eigenen Familie wieder zusammenfügen zu können, fuhr Uljana Wolf in den ehemaligen Wohnort ihrer Großeltern.

Ich habe mir sagen lassen, welches Haus das ist. Und habe aber eine ganz merkwürdige Leere gefühlt, als ich dann vor dem Haus stand, weil ich bin da nicht aufgewachsen, und es war für mich eine ganz normale polnische langweilige Kleinstadt. Das einzige, was mir aufgefallen ist, ist ein Grafitti, „kocham schlonsky“, „ich liebe Schlesien“, aber auf polnisch. Und das war ja schon was ganz neues, das diese junge Generation in Schlesien anfing, sich in Schlesien wieder zuhause zu fühlen.

Angeregt durch die Fragen der Kinder und Enkel, begannen inzwischen selbst Uljanas Großeltern, sich noch einmal mit ihrer Vergangenheit zu beschäftigen. Ihre Großmutter schrieb die Geschichte ihrer Kindheit und Vertreibung für ihre Familie auf, jeder bekam eine Mappe.

Das fand ich sehr berührend. Und eben ganz selten. Weil viele, die es dann interessiert, da sind dann die Großeltern plötzlich schon tot oder haben nie etwas erzählen können. Das ist ein ganz großer Schatz.

Doch die Väter tun sich offenbar mit dem Zugang zu ihrer Vergangenheit schwerer.

Die ist aber bei Vätern und Großvätern oft gehemmt, oder drängt sich ganz anders in den Vordergrund. Also, es werden ganz bestimmte Geschichten erinnert, katalogisiert und immer wieder erzählt. Die natürlich einen ganz großen andern Raum verdrängen. Und diese komische, im Grunde paradoxe Bewegung, aus Verschweigen und mehr reden als die Frauen reden, so wie ich es erlebt habe, die hat einfach dazu geführt, dass bei mir immer die männliche, der Vater, Großvater, die männliche Seite der Gesellschaft mit der Geschichte verknüpft war.

Uljana Wolfs interessiert, ausgehend von privaten Beobachtungen, vor allem der Typus der Väter im Allgemeinen. So schreibt sie:

angehalten jeder
dem vater das wort
zuzutragen
zurück und gehalten
hat der vater herr vater
noch jedes wort
für einen verrat.

Das Echo dieser Zeilen reicht bis in die jüngste ost- wie gesamtdeutsche Geschichte. Das Antikommunikative des Krieges, die zum Verrat missbrauchte Sprache in zivilen Zeiten ist, historisch besehen, ein vorwiegend männlicher Part. Es waren die Frauen, die im Tschetschenienkrieg ihre Söhne vom Schlachtfeld zurückholten.

In Shakespeares Drama Titus Andronicus wird im römischen Machtkampf das Wort im Blutstrom zugrunde gespült und Töchterkörper routiniert gekappt, wie es in Uljana Wolfs Gedichtzyklus „wald herr schaft“ Titus’ Tochter, Lavinia, war das unschuldige Opfer. „In aller augen warst du des grauen star“, heißt der Nachruf des letzten Verses. Er ist so vieldeutig wie erschreckend. Der graue Star ist ein Zeichen für Erblindung, das Leid Lavinias wird nicht mehr wahrgenommen angesichts des Schlachtens.
Andererseits ist der Begriff Star ein Spiel mit dem modernen Medienvokabular, in der Person Lavinias und ihrem Schicksal erfährt das Grauen seine widerwärtigste und künstlichste Steigerung. Und nicht zuletzt, wie oft geschieht nicht „in“, aber „unter“ aller Augen das Entsetzliche. Kollektiv in den Fernseher blickend nehmen wir Tragödien heute oft nur noch als Information wahr.
Wird die eigene Vergangenheit, wird Polen in ihren nächsten Gedichten als Thema weiter eine Rolle spielen?

Es ist erst einmal so abgeschlossen. Es ist im Untergrund immer noch da, es gibt noch ganz viele offene Fragen, die aber in verschiedene andere Richtungen gehen. Aber für Gedichte ist es erst einmal kein Thema. Im Moment jedenfalls. Ich will auch nicht gebucht werden auf dieses Polen-Thema. Es hätte ein anderes Land, eine andere Fremde auch sein können…

Cornelia Jentzsch, Deutschlandfunk, 13.4.2006

 

Lyrik von verblüffender Präzision

Peter-Huchel-Preis für Uljana Wolf

– Die Berliner Autorin Uljana Wolf ist mit dem diesjährigen Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet worden. Sie ist die jüngste Preisträgerin des renommiertesten deutschen Lyrikpreises. Die Jury zeichnete sie für ihren 2005 erschienen Gedichtband kochanie ich habe brot gekauft aus und lobte ihre „Sprachlandschaften von spielerischer Frische“. –

DIE VERSCHIEBUNG DES MUNDES

gegen vier uhr morgens
beobachte ich
die verschiebung des mundes

das haus schließt
nach dem letzten
gähnenden windstoß
die lippen schmal wie lider

dagegen öffnet seinen rachen
der himmel: ein hellblau
nahe am gaumenzapfen
über den dunkel gespannten
zungenbögen der wälder

aus dem dunstigen mund
entspinnt sich regen lang
anhaltender atem : wie über
die wimpern des schlafenden
hinsprechend

Sie ist die jüngste Preisträgerin des renommiertesten deutschen Lyrikpreises. Und sie ist erst die zweite in der 23-jährigen Geschichte dieses Preises, die ihn für ein Debütwerk erhält: Uljana Wolf. Die 1979 geborene Autorin arbeitet nach einem Studium von Germanistik, Anglistik und Kulturwissenschaften tagsüber als Buchhändlerin in Berlin. Und wann schreibt sie Gedichte?
Uljana Wolf: „Ja, wann schreibe ich? Das frage ich mich im Moment gerade auch. Ich schreibe dazwischen. An Wochenenden oder an halben Tagen, halben Abenden. Da, wo es gerade Zeit ist.“

AUFWACHRAUM I

ach wär ich nur im aufwachraum geblieben
traumverloren tropfgebunden unter weißen

laken neben andern die sich auch nicht fanden
eine herde schafe nah am schlaf noch nah an

gott und trost da waren große schwesterntiere
unsre hirten die sich samten beugten über uns –

und stellten wir einander vor das zahlenrätsel
mensch: von eins bis zehn auf einer skala sag

wie groß ist dein schmerz? – und wäre keine
grenze da in sicht die uns erschließen könnte

aus der tiefe wieder aus dem postnarkotischen
geschniefe – blieben wir ganz nah bei diesem

ich von andern schafen kaum zu unterscheiden
die hier weiden neben sich im aufwachraum

Uljana Wolf ist eine Ausnahmebegabung. Bereits mit 26 Jahren verfügt sie über eine Sicherheit im Ton und im lyrischen Vokabular, die zu erarbeiten manch gestandener Dichter Jahrzehnte gebraucht hat. Mit 13 schrieb sie ihr erstes Gedicht. Wie so viele. Aber man kann annehmen, dass sie dieser Tätigkeit seither mit so viel Ernst wie Leidenschaft nachgeht. Ihr Auftreten heute in Staufen war so souverän, wie man es bei einer 26-Jährigen selten erlebt.
Außergewöhnlich geschickt und mit einer für eine noch so junge Lyrikerin ungeheuren Leichtigkeit beherrscht Uljana Wolf die Formen der Tradition: die Anspielungen auf andere Verse, die Handhabung unterschiedlicher Versmaße, die Hinwendung zu großen Themen. Vor allem die deutsch-polnische Geschichte und ihre äußeren und inneren Wegmarken in der Landschaft und in der Psyche der Menschen haben es ihr angetan. Bis zu ihrem dreimonatigen Studienaufenthalt in Kreisau im Jahr 2004 hatte Uljana Wolf vor allem Liebesgedichte geschrieben. In Polen erkannte sie, deren Großeltern aus Schlesien stammen, dann die Bedeutung der Geschichte.

Als allererstes, als ich zuerst nach Polen gefahren bin, es war zuerst mal das Über-den-eigenen-Tellerand hinaus. Das Über-die-Sprache-hinaus. Eine fremde Sprache kennen lernen. Sehen, wie die Menschen in dem Land, das ganz nah an dem meinen ist, doch ganz anders leben. Sehen, wie ihre Geschichte aber auch mit meiner verflochten ist. Und dann kam die geschichtliche, die historische Dimension dazu. Die ich auf vielen Reisen dann beobachtet habe. In den Häusern, in den Menschen, was sie erzählt haben und so weiter.

Uljana Wolf kann Strophen rhythmisch fließen lassen wie Paul Celan in seiner „Todesfuge“, sie findet starke, aber leicht eingängliche Bilder aus dem unerschöpflichen Bildervorrat des Alltags, ihre Gedichte sind voller konkreter und genauer Orts-, Landschafts- und Gemütsbeschreibungen. Dabei bedenkt jeder Name, jedes Wort seine Doppelbedeutung als Sprache und konkretes Ding mit.

Es gibt Worte. Es gibt Dinge. Es gibt diese Ambivalenz zwischen dem Bezeichneten und dem Zeichen. Und einen Spalt dazwischen, in den man durchaus auch einfach mal fallen kann. Es gibt aber auch für mich eine Materialität von Worten an sich. Dass das Wort selber wie ein Ding sehr sinnlich, sehr körperlich rüberkommt. Und mit dieser Ebene spiele ich auch ganz viel. Und das entdeckt man gerade in fremden Sprachen. Wie sich das Wort im Mund anfühlt plötzlich. Auch ein ganz anderes Körpergefühl durch ein Wort ausgelöst werden kann.

Uljana Wolf schafft mit ganz wenigen Strichen und mit knappen Worten Sprach- und Gedankenlandschaften, die gerade in ihrer scheinbaren Einfachheit lange nachgehen. Viel ist von Reisen die Rede, von Gleisen, Bahnhöfen, Fahrten, von Abschieden. „Die Welt hat nur zwei Etagen“, so zitiert Uljana Wolf die Dichterin Póswiatowska. Und wir können ergänzen: Die eine Etage sind die Worte, die zweite Etage sind die Dinge.
Wie Worte aus Dingen entstehen, wie Dinge zu Worten werden und wie Worte selbst Dinge sind, das führt Uljana Wolf mit einer Leichtigkeit vor, die erstaunen lässt. Sie kann die großen Themen nehmen wie den Rilkeschen „herrn“ (hier klein geschrieben!), sie kann von einfachen Liedern erzählen wie jenem vom „Jungen Trompeter“, sie kann Alltagsmythen aufnehmen oder auch die Tradition andichten wie im Hmynus an Titus Andronicus von Shakespeare. Alles gelingt ihr scheinbar mühelos.
Viele der im Band versammelten 40 Gedichte führen Sprachspiele auf, aber völlig jenseits einer postmodernen, hochartifiziellen Sprach- und Gedankenartistik. Uljana Wolfs Gedichte sind stets konkret, anschaulich, sinnlich erfahrbar und erfassbar. Ermöglichen einen wohltuend einfachen Zugang. Gerade die Gedichte, die mit der Sprache spielen.

Oliver Seppelfricke, Deutschlandradio Kultur, 3.4.2006

Laudatio auf Uljana Wolf

zur Verleihung des Dresdner Lyrikpreises 2006

Uljana Wolf teilt sich mit Viola Fischerová den Dresdner Lyrikpreis 2006. Beide Dichterinnen haben ihn ganz verdient. Und beide Hälften des Preises fügen sich zu einem stimmigen Ganzen. Denn mit der deutschen Autorin würdigen wir eine Persönlichkeit, die in vieler Hinsicht komplementär zu der tschechischen steht. Während Viola Fischerová in ihrem Werk das Erlebnis zweier Diktaturen und der Teilung Europas verarbeitet, setzt Uljana Wolfs Schaffen da ein, wo Europa wieder zusammenfindet. Der deutsch-polnische Titel ihres ersten Gedichtbandes kochanie ich habe brot gekauft bezeugt das ebenso wie die Tatsache, daß ihre Werke auch in Weißrußland und Polen veröffentlicht wurden. Und wo Viola Fischerová moralische Fragen anspricht, steht bei Uljana Wolf das raffinierte Spiel mit der Poesie als solcher im Vordergrund. In diesem Spiel äußert sich – um es mit Ossip Mandelstam zu sagen – „Sehnsucht nach Weltkultur“. Uljana Wolf wandert frei durch Raum und Zeit: Shakespeare weist ihr den Weg zur Antike, Rom liegt gleich neben Kreisau, polnisch Krzyžowa. Dabei verliert sie sich aber nicht in einem realitätsfernen Reich reiner Schönheit. Sie ist beides zugleich: poeta doctus und eine scharfe Beobachterin der Wirklichkeit. Der Aufwachraum im Krankenhaus, eine Vogelvoliere im Novembernebel, ein Rudel von Dorfkötern – all das gewinnt bei ihr plastische Greifbarkeit. Und sie hat nicht nur wache Augen, sondern ein sehr feines Ohr. Beeindruckend die Musikalität ihrer Sprache:

schlafkanal mit schwarzen schwestern die
als strafgericht am ufer stehn und dir mit

strengen fingerspritzen drohen…

Uljana Wolf scheut, wie man sieht, weder Stabreime noch jene Art von Klangzauber, der aus einer winzigen Lautverschiebung plötzlich einen überraschenden Unterschied an Sinn hervorzieht. Dieser magische Trick – Paronomasie genannt – ist geradezu eine ihrer Spezialitäten. Die Kreisauer Hunde mit ihren „schummel / schwänzen stummelbeinen“ bei Uljana Wolf „bellen“ sie „in wellen“. Das Gekläff der Dorfköter ist geradezu „hünen / haft“ – doch von diesen „hünen“ bleibt „im abklang fast nur ein hühnchen“. Wir kennen solche Verfahren aus der Nonsense-Poesie, wo sie als reiner Scherzeffekt eingesetzt werden. Nicht so bei Uljana Wolf. Um noch kurz in Kreisau zu verweilen: die Verwandlung der Hünen in Hühnchen ist natürlich ausgesprochen komisch. Darüber hinaus bringt sie aber höchst treffend hündisches Imponiergehabe auf den Punkt.
Und dabei bleibt Uljana Wolf nicht stehen. Das musikalische Sprachexperiment, das intensiv wahrgenommene Detail sind für sie kein Selbstzweck; sie nutzt sie vielmehr zu einer Reflexion über das Wesen der Dichtung. Ein letztes Mal die Kreisauer Hunde. Offenbar handelt es sich um Hunde, die nicht nur bellen, sondern auch beißen. Denn diesmal haben sie zugeschnappt. Die Attacke gerät der Dichterin im Rückblick zu einem Sinnbild ihrer eigenen Tätigkeit:

denn ihr fügt was wort ist und was wade
hinterrücks in tollkühnem biss

zusammen als wär ein bein nur ein blatt
und die ordnung der dinge ein tausch

Die Kreisauer Hunde führen nichts Geringeres vor als das poetische Prinzip der Dichterin Wolf, die hier womöglich hintersinnig mit ihrem eigenen, wölfischen Namen spielt. Denn auch in ihrem lyrischen Kosmos ist „die ordnung der dinge ein tausch“ – ein Tausch, ein Verrücken von Klängen und Daseinssphären, bei dem wir plötzlich entzückt feststellen, daß wir reicher geworden sind: um eine Handvoll großer Dichtung.

Urs Heftrich & Jiří Holý, Ostragehege, Heft 43, 2006

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Lutz Hesse: so bildet die fremde / gespräche aus
poetenladen.de

Martin Jankowski: Grenzhandel mit Worte
satt.org, Januar 2006

Ein Ort, ein Wort: Uljana Wolf liest am 17.11.2006 Gedichte aus kochanie ich habe brot gekauft und falsche freunde im Literaturarchiv Marbach.

Mitschnitt der Preisverleihung des Peter-Huchel-Preises 2006

 

 

Stefan Hölscher im Gespräch mit Uljana Wolf am 6.7.2021 bei TEN-4-POETRTY

 

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + DAS&D + KLGPIA
Porträtgalerie: Galerie Foto GezettDirk Skiba Autorenporträts +
Autorenarchiv Isolde OhlbaumAutorenarchiv Susanne Schleyer
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Uljana Wolf liest drei bögen: böbrach und andere Gedichte.

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