Ulrich Fülleborn: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Wilder Rosenbusch“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Wilder Rosenbusch“ aus Rainer Maria Rilke: Die Gedichte in einem Band. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Wilder Rosenbusch

Wie steht er da vor den Verdunkelungen
des Regenabends, jung und rein;
in seinen Ranken schenkend ausgeschwungen
und doch versunken in sein Rose-sein;

die flachen Blüten, da und dort schon offen,
jegliche ungewollt und ungepflegt:
so, von sich selbst unendlich übertroffen
und unbeschreiblich aus sich selbst erregt,

ruft er dem Wandrer, der in abendlicher
Nachdenklichkeit den Weg vorüberkommt:
Oh sieh mich stehn, sieh her, was bin ich sicher
und unbeschützt und habe was mir frommt.

 

Nachdenken über das Glück

Selbst wer mit Rilkes Lyrik vertraut ist, mag von diesem „Wilden Rosenbusch“ überrascht sein. Sprachgebung und lyrische Bewegtheit, motivliche und gedankliche Verwobenheit mit des Autors Gesamtwerk weisen den Text zwar als unverkennbar Rilkesch aus. Aber irritierend wirken die Leichtigkeit und Unbekümmertheit, mit der die Mittel eingesetzt sind, der Zauber, der von dem schlichten Naturbild ausgeht, und die naive Direktheit, in der sich dessen Sinn äußert.
Beglückend und unmittelbar überzeugend: vor den „Verdunkelungen“ des Hintergrundes die heitere Erscheinung „reinen“, anfänglichen Daseins. Die lyrischen „Beschreibungen“ bleiben alle dem Phänomen des wilden Rosenbuschs zugeordnet, lassen sich aber zwanglos auf menschliche Existenzmöglichkeiten übertragen – ein Exempel als Vor-bild. Wäre es nicht ein hohes Glück der Erdenkinder, „schenkend“ aus sich herauszugehen, sich hingeben zu können und sich dabei nicht zu verlieren, sondern bewußt-unbewußt dem eigenen Daseinsgrund verhaftet zu bleiben, in ihn „versunken“ zu sein und zugleich sicher in der Welt „dazustehen“? Ein solches Dastehen wird uns als die Bedingung suggeriert für ein um so bewegteres, „erregteres“ inneres Leben – ein Leben zudem, das wie von selbst nach außen, in die Blüten, drängt. Die insistierenden negativen Wendungen „ungewollt“, „ungepflegt“ und „unbeschützt“ rücken das Naturbild weit von unserer üblichen Lebenspraxis ab. Desto mehr hören wir einen Appell und ein Versprechen heraus. Den Appell, uns von der Vergötzung des Willens und aller äußeren Existenzangst zu befreien; das Versprechen, daß das endliche Dasein sich in seiner Lebendigkeit selbst zu übersteigen und eine andere, „unendliche“ Qualität aus sich hervorzubringen vermöchte.
So viel überschwenglicher Glücksmöglichkeit stellt das Gedicht nun aber den einsamen Wanderer, seine „abendliche Nachdenklichkeit“, entgegen. Was ihn nachdenklich macht, erfahren wir nicht. Eine „Leerstelle“, so der Fachausdruck, verweist den Leser ganz auf sich selbst, provoziert sein eigenes Nachdenken über das Glück, das der Rosenbusch verspricht.
Das ist das eine, Wichtigere; ein anderes wäre es, sich an den Autor um nähere Auskunft zu wenden. Denn er hat sich selbst mit der Figur des Wanderers anonym und diskret in das poetische Bild des Gedichts eingebracht. Die Verse gehören zu der Naturlyrik, die im Frühling 1924 auf Rilkes Spaziergängen im Walliser Tal nahe dem Schlößchen Muzot in deutscher oder französischer Sprache entstand. Dort waren zwei Jahre zuvor die Duineser Elegien vollendet und die Sonette an Orpheus geschrieben worden, womit dem werkgeschichtlich späten Gedicht vom wilden Rosenbusch eine eigene Bedeutungsfülle zuwächst.
Als modernem Lyriker war Rilke die hochgezüchtete, vielblättrige und unfruchtbare Gartenrose, der „unerschöpfliche Gegenstand“, zum prominentesten Kunst- und Daseinssymbol überhaupt geworden, von den reich instrumentierten Rosengedichten der mittleren Schaffenszeit bis zu dem französischen Zyklus Les Roses von 1924 und seinem enigmatischen Grabspruch. Da mußte es ihn als einsamen Wanderer im Wallis schon nachdenklich stimmen, wenn ihm plötzlich im Bilde der wilden Rose mit ihren „flachen“, kunstlosen Blüten die Möglichkeit eines Daseinsglücks aufging, dem sich alles das in reiner Spontaneität schenkt, was er mit seiner Kunst in angespanntester existentieller „Leistung“ erstrebt hatte.
War es etwa erreicht, wenn er jetzt diese heitere, fast schwerelos scheinende Naturlyrik schrieb? War es einem spätzeitlichen, „sentimentalischen“ Bewußtsein noch möglich, die „unsichere“ Wanderexistenz in der Zeit mit einem naturhaft-idyllischen Daseinsglück zu versöhnen? – Solche Gedanken, die man bei dem Wanderer-Dichter von 1924 vermuten darf, bewegen sich deutlich in den Bahnen Schillers und Goethes. Auch darauf war man wohl als Leser Rilkes nicht unbedingt gefaßt.

Ulrich Füllebornaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierzehnter Band, Insel Verlag, 1991

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