Ulrich Kaufmann: Zu Volker Brauns Gedicht „Abschied von Kochberg“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Volker Brauns Gedicht „Abschied von Kochberg“ aus Volker Braun: Tumulus. 

 

 

 

 

VOLKER BRAUN

Abschied von Kochberg

Die Bauern tanzen
Um den Galgen
An dem die Partei hängt, das Gesinde l
Ustig Plakate im Frühling in Prag
ER IST GEKOMMEN. WIR AUCH. DEUTSCHE BANK
Das liebe Zimmer der Utpoien
Entläßt den Gast in den Unsinn
ES GILT ALLE VERHÄLTNISSE stehenzulassen
IN DENEN DER MENSCH EIN GEKNECHTETES
Ich stand mit der Karre in Zeutsch
Ein Fuß auf der Bremse ein Fuß auf dem Gas
Die Äste krachten herunter und die Blätter
Wehten UND ELENDES WESEN IST

 

Hinter fröhlicher Stimmung bedrohlich

Das einstrophige Gedicht findet sich in Brauns Band Tumulus (1999). Der Titel weist auf einen privaten Untertext von Jakob Lenz hin, der 224 Jahre vor ihm diesen Ort für immer verließ. Am letzten Tag, den Lenz im „lieben Zimmer“ auf dem Steinschen Schloss verbrachte, schrieb der Unbehauste der Hausherrin einen Abschiedsgruß. Bei Braun handelt es sich – wie bei Lenz – um ein im Herbst geschriebenes Gedicht. Nur in einem Vers ist von dieser Jahreszeit die Rede.

Die Äste krachten herunter und die Blätter
Wehten…

Diese Sentenz wirkt bedrohlich – wie der ganze gallig-böse Text. Durch den Eingangsvers scheint Braun eine fröhliche Stimmung einzufangen. Auf Volkstümlich-Gefälliges folgt die Mitteilung, wo und warum die Bauern tanzen:

um den Galgen
an dem die Partei hängt.

Das den Sprecher Zerreißende, zur Flucht Treibende, ist die Brutalität, obgleich er den Protest der Bauern versteht. Keine anonyme SED hängt am Galgen, sondern jene Partei, der der Poet als kritischer Mitstreiter angehörte. Angetreten war sie, Marxens visionäre Vorstellungen Realität werden zu lassen. Bei Braun enthält die schönste der Jahreszeiten eine politische Dimension dadurch, dass er den Prager Frühling assoziiert. Die sich anschließende Marx-Sentenz hat er im Gedicht verfremdend in ihr Gegenteil verkehrt.
Für Braun war Kochberg nicht nur Idylle, sondern Arbeitsort. Auf dem Sommersitz der Steins schrieb er die Schiller-Adaption „Dmitri“ sowie den „Bodenlosen Satz“, seinen Abschied von der DDR. Hier entstand sein Stück Die Übergangsgesellschaft sowie Teile des Hinze-Kunze-Romans. Braun, der am 7. Mai 2014 75 Jahre alt geworden ist, hat das Schloss mit den geräumigen und einstmals für Dichter bezahlbaren „lieben“ Zimmern seit 1990 nicht betreten.

Eigentlich bin ich ein Thüringer Autor, jedenfalls die Blicke hingen morgens und abends an den Hügeln.

Ulrich Kaufmannaus Jens Kirsten und Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.): Thüringer Anthologie. Weimarer Verlagsgesellschaft, 2018

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