Ulrich Kittstein (Hrsg.): „An Aphrodite“

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ulrich Kittstein (Hrsg.): „An Aphrodite“

Kittstein (Hrsg.)-„An Aphrodite“

ARS POETICA

Verfasse jeden deiner Verse
wie einen letzten.
Immer unverhoffter kommt der Tod
in diesem strontiumgesättigten,
terroraufgeheizten,
ultraschallgeschwindigkeitsgetriebenen Jahrhundert.
Versende jedes deiner Worte
wie einen letzten Brief vor der Erschießung,
wie ein Seufzer, in die Kerkerwand geritzt.
Du hast kein Recht auf eine Lüge,
nicht einmal auf ein kleines schönes Spiel.
Du wirst keine Zeit mehr haben,
deine Fehler selbst zu korrigieren.
Schonungslos, lakonisch, mit deinem Blut
schreib jeden deiner Verse
wie einen Abschied.

Blaga Dimitrowa
Übertragung Wolfgang Köppe

 

 

 

Einführung 

„Ich weiß, daß Frauen keine Feder führen sollen“ – die Bemerkung, mit der die französische Lyrikerin Marceline Desbordes-Valmore ihr Gedicht „Ein Frauenbrief“ eröffnet, berührt ein grundlegendes Problem, das sich im abendländischen Kulturkreis über viele Jahrhunderte hin mit dem weiblichen Schreiben verband: Wer zur Feder greift und sich anschickt, eigene Texte zu produzieren, beansprucht damit die Position eines sprachmächtigen, souveränen Autors, die der Frau in einer patriarchalischen Gesellschaft allenfalls widerstrebend und nur in engen Grenzen eingeräumt wurde. Angesichts der Skepsis, mit denen man ihnen in der Regel begegnete, und der empfindlichen Einschränkungen, denen ihr Tun unterworfen war, verspürten offenbar viele dichtende Frauen das Bedürfnis, in ihren Werken an ältere oder zeitgenössische Berufskolleginnen anzuknüpfen und sich so in eine Traditionslinie zu stellen, die einen gewissen Rückhalt gewährte. Die Griechin Sappho, die als älteste namentlich bekannte Poetin Europas zugleich bis heute eine der berühmtesten ist, war dabei seit jeher eine wichtige Identifikationsfigur; allein mit den Gedichten, die spätere Lyrikerinnen auf sie verfassten, könnte man einen stattlichen Band füllen. Und auch sonst begegnen in der Frauenlyrik auffallend viele Widmungen, Anreden und sonstige Formen des poetischen ,Gesprächs‘ mit anderen Autorinnen, die ein dichtes, über Epochen- und Sprachgrenzen hinausgreifendes intertextuelles Gewebe schaffen.
Doch obwohl derartige Ansätze zur Stiftung einer genuin weiblichen Tradition für die Selbstvergewisserung der Dichterinnen von beträchtlicher Bedeutung gewesen sein mögen, blieb das lyrische Schaffen von Frauen stets in erster Linie durch eine männlich geprägte Gesellschaft und Kultur bestimmt. Will man sich näher mit einschlägigen Gedichten befassen, muss man daher die gesellschaftlichen Spielräume der Frauen und die kulturell definierten Geschlechterrollen der jeweiligen Zeit in Rechnung stellen, um dann zu fragen, wie sich die Poetinnen mit diesen Vorgaben auseinandersetzten und wie sie überdies mit den Elementen des ebenfalls von Männern dominierten literarischen Diskurses umgingen, etwa mit vorgeprägten poetischen Formen und Motiven oder mit den herrschenden Gattungskonventionen der Lyrik. Unter einem solchen Blickwinkel zeichnet sich für die verschiedenen Epochen wie auch für einzelne Autorinnen ein komplexes Spannungsfeld von Anpassung und Aufbegehren, von normativer Bindung und Selbständigkeit ab. Auf dieser Grundlage könnte man schließlich die ganze Geschichte des weiblichen Schreibens im Zusammenhang der sich wandelnden sozialen und kulturellen Kontexte rekonstruieren, ohne auf das fragwürdige Konstrukt einer biologisch determinierten ,Natur der Frau‘ zurückgreifen zu müssen. Der folgende Überblick kann alle diese Aspekte freilich nur andeuten, um die historische Einordnung der poetischen Werke zu erleichtern; eine echte Geschichte der Frauenlyrik von der Antike bis zur Gegenwart vermag er nicht zu ersetzen.
Über das Leben der Dichterinnen des griechisch-römischen Altertums und die Umstände ihres Schreibens ist wenig bekannt, zumal sich von ihren Werken lediglich spärliche Bruchstücke erhalten haben. Am besten sind wir über die bereits erwähnte Sappho unterrichtet, die um 600 v.Chr. lebte. Sie unterwies in Mytilene auf der Ägäis-Insel Lesbos eine Gruppe von Mädchen aus der adligen Oberschicht in musischen Fertigkeiten, wobei sich zweifellos auch innige Beziehungen zu ihren Schülerinnen ergaben. Ihre Gedichte, die immer wieder Aphrodite (Kypris) als Schutzgöttin der Liebenden anrufen, dürften für das gemeinschaftliche Leben und den inneren Zusammenhalt dieses Kreises eine bedeutsame Rolle gespielt haben. Schon in der Antike erlangte Sappho Berühmtheit, später avancierte ihr Name sogar zum förmlichen Ehrentitel für große Poetinnen.
Erst vom hohen Mittelalter an lassen sich für den europäischen Raum die soziokulturellen Bedingungen, unter denen Frauen – speziell auf dem Gebiet der Lyrik – literarisch tätig waren, genauer fassen. Die Erfahrungsräume, die dem weiblichen Geschlecht in der Regel überhaupt zugänglich waren, blieben lange Zeit eng begrenzt, was sich auch in den thematischen Schwerpunkten der Dichterinnen niederschlug. Eine wichtige Verknüpfung, die ihre überragende Bedeutung bis ins 20. Jahrhundert hinein bewahren sollte, ergab sich zum Beispiel zwischen Weiblichkeit und Religion. Die Frömmigkeitsbewegungen des Hoch- und Spätmittelalters gestatteten gerade den Frauen eine ganz neuartige Teilnahme am religiösen Leben. Das galt vor allem für die Mystik, die es dem gläubigen Menschen ermöglichte, in ekstatischer Entgrenzung buchstäblich mit dem Göttlichen zu verschmelzen und sich dadurch von der Institution der Kirche zu emanzipieren. Solche Erlebnisse, die in ihrer gefühlsmäßigen Unmittelbarkeit vom nüchternen Verstand nicht zu erfassen sind, werden bevorzugt in poetischen Bildern inszeniert und ausgekostet. Dabei ist das leidenschaftliche Verlangen nach mystischer Vereinigung in vielen Texten weiblicher Verfasser unverkennbar erotisch gefärbt. Es verwundert daher nicht, dass Mechthild von Magdeburg, deren „Fließendes Licht der Gottheit“ einen Höhepunkt mystischer Literatur darstellt, auf Ausdrucksmittel des Minnesangs und der Liebespoesie des „Hohenliedes“ aus dem Alten Testament zurückgreift, um die Sehnsucht nach Gott und das Erlebnis der Einswerdung mit ihm lyrisch zu vergegenwärtigen.
Die weltliche Dichtung von Frauen des Mittelalters und der Renaissance war zunächst vornehmlich an den hochkultivierten französischen und italienischen Adelshöfen angesiedelt; später traten den vornehmen Damen auch einige Angehörige des wohlhabenden patrizischen Bürgertums zur Seite. Während der Minnesang im deutschsprachigen Bereich eine Angelegenheit männlicher Lyriker blieb, die verklärte Minneherrinnen zu besingen pflegten, kannte die weitaus differenziertere höfische Minnekultur im südlichen Frankreich auch Lieder aus weiblicher Feder. Als Trobairitz – das weibliche Pendant der provenzalischen Trobadors – trat beispielsweise die Comtessa de Dia in Erscheinung, deren Gedichte Seligkeit und Qual einer existenziellen Liebesbindung, wie sie für die hohe Minne typisch ist, aus der Perspektive der Frau schildern. Vereinzelten Autorinnen gelang es im Mittelalter sogar, sich von einer weitgehend unabhängigen Position aus in gesellschaftlichen, politischen und literarischen Fragen Gehör zu verschaffen. Neben der Äbtissin Hildegard von Bingen, die mit den einflussreichsten Männern ihrer Zeit korrespondierte, ist hier die Französin Christine de Pisan zu nennen. Aus der Not heraus zur Berufsschriftstellerin geworden, initiierte sie mit ihrer Kritik an den misogynen Tendenzen des berühmten Rosenromans einen aufsehenerregenden Literaturstreit.
Eine bezeichnende Dialektik von Freiheit und Einschränkung prägte die Situation der Dichterinnen in der italienischen Renaissance, bei denen es sich oft um verwitwete adlige Damen handelte, die zu angesehenen Mittelpunkten kultureller Bestrebungen wurden, indem sie zahlreiche Poeten und Künstler an sich zogen. Veronica Gambara und Vittoria Colonna verliehen in vielen Gedichten der Trauer um den verstorbenen Gatten Ausdruck und definierten ihre soziale Rolle damit nach wie vor über ihren Mann. Ein wichtiger ästhetischer Bezugspunkt ihres lyrischen Schreibens war der Petrarkismus, ein Ensemble von poetischen Formen, Motiven und Stilmitteln, das sich im Anschluss an den Canzoniere Francesco Petrarcas herausgebildet hatte und feste Muster für die literarische Gestaltung von Liebesempfindungen und Liebesklagen bereithielt. Führte der Petrarkismus für gewöhnlich einen männlichen Sprecher ein, der sich in der Liebe zu einer unerreichbaren, idealen Frauengestalt verzehrt, so eigneten sich Gaspara Stampa und – in Frankreich – Louize Labé den petrarkistischen Gestus aus weiblicher Sicht an. Das „Achte Sonett“ von Labé kann als Paradebeispiel für die kunstvollen Antithesen gelten, mit denen petrarkistische Lyrik die paradoxen Wirkungen leidenschaftlicher Liebe in Sprache zu fassen suchte. Den Zugang zum zeitgenössischen Literaturbetrieb verdankten die genannten Autorinnen übrigens durchweg ihrer gediegenen Bildung, ohne die das souveräne Spiel mit der Tradition, mit klassischem Bildungsgut und komplexen Formen wie dem Sonett, der bevorzugten Gattung des Petrarkismus, gar nicht möglich gewesen wäre.
Im 17. Jahrhundert entfaltete sich besonders in Frankreich eine Salonkultur, die Männer und Frauen der höheren Stände zusammenführte und den Rahmen für mannigfaltige literarische Aktivitäten bildete. Nicht selten spielten Frauen in dieser Sphäre sogar eine beherrschende Rolle, die ihnen allerdings wiederum strenge Verpflichtungen auferlegte und sie mit spezifischen Verhaltenserwartungen konfrontierte. In dem vom Dreißigjährigen Krieg verwüsteten Deutschland gab es zu dieser Zeit nichts Vergleichbares. Verdienste um die Dichtung erwarben sich dort jedoch verschiedene Sprachgesellschaften, die sich der Pflege der vaterländischen Kultur verschrieben. Der Pegnesische Blumenorden in Nürnberg war freilich die einzige von ihnen, die auch Frauen in ihre Reihen aufnahm. Mit ihm stand die Österreicherin Katharina Regina von Greiffenberg in Verbindung, die bedeutendste Lyrikerin des Barock, die, dem Geist der Zeit entsprechend, vorwiegend religiöse Dichtungen verfasste.
Salons als Mittelpunkte des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens etablierten sich im deutschsprachigen Raum erst unter dem Einfluss der Aufklärung, hauptsächlich in Berlin, wo sie einen großen Teil ihrer Anziehungskraft der Ausstrahlung von Frauen wie Henriette Herz und Rahel Levin (verheiratete Varnhagen) verdankten. Noch einen Schritt weiter ging gegen Ende dieser Epoche die frühromantische Geselligkeitsutopie, die einen Freiraum schaffen wollte, in dem sich die Angehörigen beider Geschlechter in vertraulichem Umgang und gebildetem Austausch gleichberechtigt begegnen konnten. Hier hatten intellektuelle und auch literarisch produktive Frauen Gelegenheit, ihre Fähigkeiten zu entfalten; Caroline und Dorothea Schlegel sind berühmte Beispiele dafür. Als Lyrikerin im Umfeld der Romantik trat neben Karoline von Günderode insbesondere Sophie Mereau hervor, der es gelang, sich durch das Schreiben ein beachtliches Maß an materieller Unabhängigkeit zu sichern. Den steinigen Weg der Berufsautorin hatte vor ihr bereits Anna Louise Karsch beschritten, die schon von den aufgeklärten Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts bewundert und – wie könnte es anders sein – als ,deutsche Sappho‘ gefeiert wurde, ihre Selbständigkeit aber zumindest zeitweilig mit bitterer Armut bezahlen musste.
Was die emanzipatorischen Tendenzen im Zeitalter der Aufklärung und der Romantik in den Bereich des Möglichen gerückt hatten, gestaltete sich im 19. Jahrhundert wieder sehr viel schwieriger, denn die ausgebildete bürgerliche Gesellschaft entwickelte erneut äußerst strenge und einengende Vorstellungen von der Rolle der Frau, die man aus der Natur des weiblichen Geschlechts ableiten zu können glaubte, und beschränkte sie im Wesentlichen auf Heim und Familie. Einen sicherlich extremen, aber doch nicht völlig untypischen Fall stellt die Amerikanerin Emily Dickinson dar, die ihr ganzes Leben in Amherst in Massachusetts verbrachte und viele Jahre lang nicht einmal mehr ihr Zimmer im elterlichen Haus verließ, wo sie eine Fülle von Gedichten verfasste, die mit wenigen Ausnahmen erst der Nachwelt bekannt wurden. Für den deutschen Sprachraum ist unter vielen anderen Annette von Droste-Hülshoff zu nennen, die dem westfälischen Provinzadel entstammte und – wie Dickinson – als ,alte Jungfer‘ zeitlebens in der Obhut ihrer Familie lebte. Eine Heirat hätte freilich ohnehin nur bedeutet, die eine Abhängigkeit mit einer anderen zu vertauschen. Die englische Lyrikerin Elizabeth Barret-Browning, die ihre Eheschließung gegen den Willen des Vaters durchsetzte und mit ihrem Mann nach Italien flüchtete, muss als große Ausnahme in ihrer Zeit angesehen werden.
Der lyrischen Dichtung von Frauen war das gesellschaftlich-kulturelle Umfeld des 19. Jahrhunderts allerdings in mancher Hinsicht durchaus günstig. Seit der Empfindsamkeit und der Romantik fasste man Lyrik, so wie es das Klischee bis heute will, als ungebrochene Aussprache des subjektiven Gefühls und der Innerlichkeit auf – eine Vorstellung, die älteren Epochen noch fremd gewesen war. Daraus ergab sich eine starke Affinität zum bürgerlichen Weiblichkeitsideal, das der Frau Gefühlsunmittelbarkeit und natürliche Emotionalität zuschrieb. Lyrik erschien deshalb als eine dem weiblichen Geschlecht besonders angemessene Gattung. Ein verbesserter Zugang zum literarischen Markt oder gar zum Berufsschriftstellertum eröffnete sich den Frauen damit jedoch keineswegs: Akzeptiert wurde eine poetische Tätigkeit als Privatbeschäftigung, gewissermaßen als schöngeistiger Dilettantismus, nicht aber das selbstbewusste Auftreten in der Öffentlichkeit. Manche Autorinnen wie Emily Brontë verbargen ihre wahre Identität deshalb zeitlebens hinter Pseudonymen, andere waren für die Veröffentlichung ihrer Werke auf männliche Vermittler und Mentoren angewiesen, und zahlreiche Gedichte von Frauen dieser Epoche erreichten überhaupt erst postum ein breiteres Publikum.
Die rigiden gesellschaftlichen Erwartungen und Rollenvorgaben schränkten den Erfahrungshorizont der meisten zeitgenössischen Lyrikerinnen empfindlich ein. Ihre Werke konzentrieren sich daher überwiegend auf das subjektive Empfinden und die Sphäre des unmittelbaren Erlebens. Die Natur bildet ein zentrales Sujet, während Liebeslyrik die poetische Erkundung eines komplexen seelischen Innenraums gestattet, der die Beengtheit der äußeren Existenz ausgleichen kann. Schließlich spielte nach wie vor die Religion eine überragende Rolle für das Leben und Schreiben der Frauen. So zeugen die Gedichte der Engländerin Christina Georgina Rosetti von tiefer christlicher Gläubigkeit, während sich bei Annette von Droste-Hülshoff schon Spuren erschütternder Glaubenskrisen und des Ringens mit ,sündhaften‘ Anfechtungen finden.
Die engen Schranken des weiblichen Daseins und der zeittypischen Frauenbilder konnten auch selbst zum Gegenstand lyrischer Reflexionen werden und damit produktive Wirkungen zeitigen. Das ist etwa der Fall bei Droste-Hülshoff, die in „Am Turme“ Phantasien eines Ausbruchs aus den gesellschaftlichen Rollenzwängen gestaltete und in „Das Spiegelbild“ eine provozierende lyrische Selbsterkundung unternahm, in der Faszination und Schrecken einander die Waage halten. Das Motiv des Spiegels, der als Medium der Selbstvergewisserung dient, die Betrachterin aber auch mit verborgenen oder verleugneten Aspekten des eigenen Ich konfrontiert, ist in der Frauenlyrik übrigens häufiger anzutreffen. In abgewandelter Form begegnet es beispielsweise noch in Yolanda Bedregals Gedicht „Vor meinem Bildnis“.
Der tiefgreifende Wandel auf allen Gebieten der Lebenswelt, der sich seit der Wende zum 20. Jahrhundert vollzog, schuf auch völlig neue Rahmenbedingungen für das Wirken von Lyrikerinnen: Die bindende Kraft der gesellschaftlichen und kulturellen Normen schwand zusehends, eine Vielzahl neuer Rollenangebote und literarischer Möglichkeiten für Frauen zeichnete sich ab. Nicht wenige Dichterinnen genossen ein beträchtliches Maß an persönlicher Unabhängigkeit und stellten ihr Selbstbewusstsein auch demonstrativ zur Schau. So kultivierten die US-Amerikanerinnen Amy Lowell, Hilda Doolittle und Edna St. Vincent Millay jeweils eine höchst unkonventionelle Lebensweise, die auch ,skandalöse‘ – zum Teil homoerotische – Liebesbeziehungen einschloss, und Else Lasker-Schüler führte im Umfeld des Berliner Expressionismus eine Bohème-Existenz, die sie mit großem Aufwand phantasievoll-poetisch stilisierte. Viele Lyrikerinnen waren politisch aktiv und kämpften in ihren Werken für die Rechte und Bedürfnisse der Frauen. In Südamerika machten sich unter anderem Alfonsina Storni und Juana de Ibarbourou auf diesem Gebiet einen Namen, im Gegensatz übrigens zu der Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral, die mit ihnen das vielgerühmte „weibliche Dreigestirn“ der lateinamerikanischen Dichtung in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts bildete, aber in ihrer persönlichen Haltung wie auch in den Themen und Motiven ihrer Lyrik stärker traditionell ausgerichtet blieb. In jüngerer Zeit kam Gioconda Belli hinzu, die nicht nur am Widerstand gegen die Somoza-Diktatur in Nicaragua beteiligt war, sondern in ihrer streng katholischen Heimat auch mit Gedichten, die weibliche Sexualität und lustvolle Erotik thematisieren, beträchtliches Aufsehen erregte. Ein Beispiel für politisches Engagement in Europa lieferte die Lyrikerin Blaga Dimitrowa, die nach dem Zerfall des Ostblocks sogar für einige Zeit das Amt der Vizepräsidentin von Bulgarien bekleidete.
Mit der literarischen Moderne büßte die normative Poetik endgültig ihre verpflichtende Geltung ein. Die festen lyrischen Formen gaben nicht länger den Maßstab des poetischen Könnens ab; strophische Gedichte in metrisch geregelten Reimversen stellten im 20. Jahrhundert nur noch eine Möglichkeit unter vielen dar, zwischen denen die Autorinnen wählen konnten. Vergleichbares geschah mit einer gewissen Verzögerung auch jenseits des europäisch-amerikanischen Kulturraums, etwa in der türkischen und arabischen Lyrik, wo Dichterinnen wie Gülten Akin und Nazik al-Mala’ika mit den ehrwürdigen Regeln formstrenger Traditionen brachen und sich den freien Vers als legitimes Ausdrucksmittel erschlossen. Die Frauenlyrik dieses Zeitraums kann daher nicht mehr sinnvoll nach formalen Mustern oder Stilarten eingeteilt werden. Der individuelle Gestus jeder einzelnen Autorin entwickelte sich nun in weit größerer Unabhängigkeit von übergreifenden epochenspezifischen Vorgaben, als dies jemals zuvor denkbar gewesen war.
Wer die Gedichte von Frauen aus den vergangenen hundert Jahren überblickt, stößt allenthalben auf die Spuren zweier Weltkriege und verschiedener totalitärer Diktaturen: Weite Teile dieser Lyrik handeln von Leid und Tod, von Terror und Verfolgung. In deutscher Sprache schrieben Nelly Sachs, Gertrud Kolmar (die in Auschwitz ermordet wurde), Elisabeth Langgässer und Hilde Domin unter dem Eindruck des Dritten Reichs und des Holocausts, Maria Pawlikowska-Jasnorzewska wurde vom Krieg aus ihrer polnischen Heimat vertrieben, Anna Achmatowa und Marina Zwetajewa sahen sich in der Sowjetunion dem stalinistischen Terror ausgesetzt. Die literarischen Strategien, mit denen sie auf ihre Erfahrungen reagierten, waren sehr unterschiedlich. Zahlreiche Autorinnen besannen sich auf den religiösen Glauben, auf das Juden- oder Christentum und die mystische Tradition, um angesichts von Zeitereignissen, die menschliches Begreifen zu übersteigen drohten, Halt und Orientierung zu finden; andere beschworen die Natur oder die Liebe als Gegenmächte. Reine Idyllen hat die Poesie jetzt freilich kaum noch zu bieten. Sogar bei Sarah Kirsch, die, oberflächlich betrachtet, altvertraute liebes- und naturlyrische Traditionen fortzuschreiben scheint, bricht immer wieder das Bewusstsein der Katastrophengeschichte ihres Jahrhunderts in die vermeintlich heile Welt ein.
Letztlich ist es jedoch das Schreiben selbst, das dem Grauen von Krieg und Terror entgegentritt: Auch die größten weltgeschichtlichen Schrecknisse können bis zu einem gewissen Grade bewältigt werden, sofern es gelingt, sie ganz wortwörtlich „zur Sprache zu bringen“ – und sei es nur in verrätselter, bruchstückhafter, zum Hermetischen tendierender Form. Von dem Freiraum, den die poetische Rede schafft, spricht Ingeborg Bachmanns Gedicht „Böhmen liegt am Meer“, das schon in seinem Titel eine Utopie im buchstäblichen Sinne ankündigt, einen ,Nicht-Ort‘ also, der allein in der Dichtung existiert. Mit der poetologischen Reflexion, die die Möglichkeiten und Leistungen des literarischen Schreibens bedenkt, greift dieses Werk ebenfalls ein wichtiges Thema der Lyrik insgesamt und der Poesie von Frauen im Besonderen auf. Gerade im 20. Jahrhundert erweist sich Lyrik stets aufs Neue als ein Feld menschlicher Praxis, das dank seiner ästhetischen Lizenzen niemals vollkommen durch politische Zwänge und gesellschaftliche Regeln kontrolliert werden kann und daher ein Potenzial für kritische Grenzüberschreitungen birgt. Lyrische Texte von Frauen eröffnen Sichtweisen auf die Realität, die kein anderer Diskurs kennt, und stiften somit ,Wahrheiten‘, die es ohne das poetische Wort nicht gäbe – „Was wahr ist“ lautet der Titel eines weiteren Gedichts von Bachmann. Der vorliegende Band versteht sich als Angebot, solchen Wahrheiten in der Lektüre und der ästhetischen Erfahrung nachzuspüren.

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Die Anthologie An Aphrodite. Gedichte von Frauen von Sappho bis Sarah Kirsch schließt an den Vorgänger Irdene Schale. Frauenlyrik seit der Antike an, der 1960 im Verlag Lambert Schneider erschien. Die damals von Mechthild Barthel-Kranzbühler vorgenommene Auswahl der Gedichte genügt heutigen Maßstäben allerdings in vielen Punkten nicht mehr und konnte daher nicht unbesehen übernommen werden. Das Textkorpus wurde insgesamt erheblich reduziert; andererseits waren hauptsächlich im Blick auf die Lyrik des 20. Jahrhunderts einige Erweiterungen notwendig, über die mehrere jüngere Lyrikerinnen überhaupt erst Eingang in das Buch fanden. Zurückhaltung empfahl sich bei Dichterinnen der Gegenwart, auch wenn manche Leserinnen und Leser gerade auf diesem Gebiet den einen oder anderen prominenten Namen vermissen mögen: Mangels ausreichender Distanz ist hier noch kein abwägender Überblick möglich, der es gestatten würde, eine Auswahl zu treffen, die sich den längst kanonisierten Werken älterer Epochen an die Seite stellen ließe. Schließlich mussten die lyrischen Schöpfungen Indiens und des Fernen Ostens, die ganz eigenen Traditionen folgen und für ein deutsches Publikum ohne ausführliche Erläuterungen schwer zugänglich bleiben, schon aus Platzgründen vollständig ausgespart werden.
Die Gesamtzahl der berücksichtigten Autorinnen wurde begrenzt, damit im Gegenzug (mit wenigen Ausnahmen) mehrere Gedichte von jeder Verfasserin aufgenommen werden konnten, die die Bandbreite des jeweiligen Œuvres zumindest andeuten. Dass die deutschsprachige Lyrik überproportional vertreten ist, ergibt sich zum einen aus der eingeschränkten Verfügbarkeit von geeigneten Übersetzungen fremdsprachiger Verse. Darüber hinaus ist jedoch ein grundsätzliches Problem zu bedenken, das jede Übertragung von Gedichten aufwirft: Lyrische Werke zeichnen sich durch ein hohes Maß an ästhetischer Verdichtung aus und sind deshalb sehr viel stärker als Texte anderer Gattungen an ihre Ursprungssprache gebunden; das komplexe Zusammenspiel von Form und Inhalt, das jedem gelungenen Gedicht seine unverwechselbare Eigenart verleiht, vermag keine Übersetzung adäquat wiederzugeben. Gleichwohl vermitteln auch die hier abgedruckten Nachdichtungen ein eindrucksvolles Bild von der Fülle und dem Facettenreichtum, die der Frauenlyrik der verschiedenen Epochen, Kulturen und Nationalliteraturen eigen sind. Die Anthologie lädt zu einem Gang durch die Geschichte dieser Lyrik seit der griechischen Antike ein und bietet damit die Möglichkeit, historische Wandlungen und epochale Besonderheiten zu studieren. Sie legt aber auch immer wieder frappierende Bezüge und Parallelen offen, die manchem Gedicht aus vergangenen Jahrhunderten mit einem Schlag unerwartete Aktualität verleihen können.

Ulrich Kittstein, Vorwort

 

 

Die lyrische Dichtung von Frauen

hat eine Tradition, die bis in die griechische Antike zurückreicht. Diese Anthologie versammelt Gedichte bedeutender Autorinnen aus Europa, Amerika und dem Orient und stellt die großen Themen wie Liebe und Tod, Religion und Natur, Selbstbesinnung und Aufbegehren im Wandel der Zeiten und im Spiegel der verschiedenen Kulturen vor. Vor allem aber wird auf faszinierende Weise sichtbar, wie es Frauen immer wieder gelang, sich durch das poetische Schreiben Freiräume in einer männlich geprägten Lebenswelt zu erobern.
Mit Gedichten von Sappho, Hildegard von Bingen, Christine de Pisan, Vittoria Colonna, Karoline von Günderode, Emily Dickinson, Sylvia Plath, Ingeborg Bachmann, Sarah Kirsch u.a. 

Lambert Schneider Verlag, Klappentext, 2012

 

 

Sehr gelungene Auswahl, die einen Bogen

von der Antike bis ins 20. Jahrhundert schlägt

1960 erschien im Verlag Lambert Schneider die Anthologie Irdene Schale. Frauenlyrik seit der Antike, die damals von Mechthild Barthel-Kranzbühler herausgegeben wurde. An Aphrodite ist nun die Nachfolge-Anthologie. Die Auswahl der Gedichte wurde stark überarbeitet. Einerseits musste das Textkorpus reduziert werden, andererseits kamen Gedichte aus dem 20. Jahrhundert hinzu. Gegenwartslyrik wurde allerdings ausgespart, da hier noch kein abwägender Blick aus der Distanz möglich ist. Die nicaraguanische Erzählerin und Lyrikerin Gioconda Belli (*1948) setzt mit ihren Gedichten also den Schlusspunkt.
Den Schwerpunkt bildet weibliche Lyrik aus dem europäischen und amerikanischen Kulturraum. Aber auch Gedichte von türkischen und arabischen Autorinnen finden sich in der facettenreichen Auswahl, die einen Bogen von der Antike bis ins 20. Jahrhundert schlägt.
Dabei lässt sich auch sehr gut der Wandel der weiblichen Lebenswelt nachvollziehen. Hier ist eine erhebliche Ausweitung des Aktionsradius’ festzustellen: Etwa von der ausschließlich innerlichen Lyrik des Mittelalters hin zur oft auch stark politisch motivierten Dichtung im 20. Jahrhundert.
Den Auftakt macht die griechische Dichterin Sappho, die als erste bekannte Lyrikerin Europas gilt. In ihren Texten findet man häufig Anrufungen von weiblichen Vorgängerinnen oder Vorbildern, etwa der Göttin Aprodite:

Auf buntem Thron, Unsterbliche, Aphrodite,
Zeus’ Tochter, Listenspinnerin, ich flehe zu dir:
Lähm’ mir mit Trübsinn nicht und Überdrüssen,
Herrin den Mut

In der Anrufung war es auch Frauen möglich, sind in eine (weibliche) Traditionslinie zu stellen und ihr Schreiben zu rechtfertigen. Bis ins 20. Jahrhundert setzt sich der Topos fort: Ingeborg Bachmann widmet ihr Gedicht „Wahrlich“ zum Beispiel der russischen Dichterin Anna Achmatova. Hier wird ein intertextueller Bezug über eine Sprach- und Kulturgrenze hinweg geschaffen.
Jede Lyrikerin ist mit einer Handvoll Gedichten vertreten. Man findet Texte von Sappho (um 600 v.Chr.), Erinna (um 350 v.Chr.), Sulpicia (um Christi Geburt). Saffijja von Bahila (ca. 6./7. Jh.), Al-Chansa (7. Jh.), Hildegard von Bingen (1098–1179), Comtessa de Dia (spätes 12. Jh.), Mechthild von Magdeburg (um 1207–um 1282), Christine de Pisan (um 1365–um 1430), Veronica Gambara (1485–1550), Vittorio Colonna (1492–1547), Theresia von Avila (1515–1582), Gaspara Stampa (1523–1554), Louize Labé (um 1524–1566), Katharina Regina von Greiffenberg (1633–1694), Anne Finch (1661–1720), Anna Louise Karschin (1722–1791), Sophie Mereau (1770–1806), Karoline von Günderode (1780–1806), Marianne Willemer (1784–1860), Marceline Desbordes-Valmore (1786–1859), Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848), Elizabeth Barret-Browning (1806–1861), Emily Brontë (1818–1848), Christina Georgina Rosetti (1830–1894), Emily Dickinson (1830–1886), Ricarda Huch (1864–1947), Else Lasker-Schüler (1869–1945), Amy Lowell (1874–1925), Gertrud von Le Fort (1876–1971), Anne de Noailles (1876–1933), Hilda Doolittle (1886–1961), Marianne Moore (1887–1972), Edith Sitwell (1887–1964), Anna Andrejewna Achmatowa (1889–1966), Gabriela Mistral (1889–1957), Nelly Sachs (1891–1970), Alfonsina Storni (1892–1938), Marina Zwetajewa (1892–1941), Edna St. Vincent Millay (1892–1950), Gertrud Kolmar (1894–ca. 1943), Maria Pawlikowska-Jasnorzewska (1894–1945), Juana de Ibarbourou (1895–1979), Elisabeth Langgäser (1899–1950), Marie Luise Kaschnitz (1901–1974), Hilde Domin (1909–2006), Antonia Pozzi (1912–1938), Yolanda Bedregal (1916–1999), Margherita Guidacci (1921–1992), Blaga Dimitrowa (1922–2003), Nazik al-Mala’ika (1923–2007), Aila Meriluoto (*1924), Ingeborg Bachmann (1926–1973), Sylvia Plath (1932–1963), Gülten Akin (*1933), Sarah Kirsch (*1935) und Gioconda Belli (*1948).

Die Gedichte sind mal poetisch und innerlich, mal gesellschaftskritisch und oft verzweifelt. Zu manchen Texten findet man nur schwer einen Zugang. Die Gründe dafür sind vielfältig und können beispielsweise durch die zeitliche Distanz bedingt sein, die zwischen der Entstehung der Texte und der Gegenwart liegt. Die neueren Gedichte, die der hermetischen Lyrik zuzuordnen sind, entziehen sich dem unmittelbaren Verständnis, weil Autorinnen wie etwa Ingeborg Bachmann, versuchten ein neues Sprachverständnis zu entwickeln. Die Bilder sind auf der semantischen Ebene zunächst schwer greifbar, nach dem erfolgreichen Prozess der Dechiffrierung aber dafür sehr eingängig.
Besonders reizvoll an diesem Band ist die Möglichkeit, als Leser die Variationen der Rolle der Frau innerhalb der patriarchalischen Gesellschaft sehr gut nachzuvollziehen. Die Auswahl ist also als ausgesprochen gelungen zu betrachten, spiegelt sie doch sehr gut wider, wie die weibliche Lebenswelt und ihr Wandel in den verschiedenen Epochen und Kulturräumen erlebt wurde. Natürlich mag man anführen, dass wichtige Autorinnen wie etwa Rose Ausländer fehlen – aber eine vollständige Zusammenfassung weiblichen Schreibens ist nicht einmal für den deutschen Sprachraum wirklich zu bewältigen.
Sehr gelungen ist auch die Einführung durch den Herausgeber Ulrich Kittstein. Auf wenigen Seiten werden hier die Besonderheiten des weiblichen Schreibens und seine Entwicklung zusammengefasst.

Fazit: Eine umfangreiche und vielseitige Anthologie, die eindrucksvoll vor Augen führt, wie viel sich in puncto „Befreiung der Frau“ im Laufe des vergangenen Jahrhunderts getan hat. Es ist faszinierend, diesem Weg auf einer literarischen Spur zu folgen.

Clara, amazon.de, 12.5.2012

 

 

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