Ulrike Draesner: kugelblitz

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ulrike Draesner: kugelblitz

Draesner: kugelblitz

BRANDENBURG

niederlehme oder -lehne nie verstandst
du wie sterne rückwärts stehen
auf autobahnen und eichhörnchen
spuren an der tür die gefällten

birken kerbig käfergeruch nach
natrium öl – der ganz zerschrundene wald
im nahgebiet im wohnbau hohe fenster
schmal gelegt lippen der seggen

durchsichtig wie gras die bäume
die baumhalme über der sandkuhle
erhabener keller kein austritt zum garten

und mit kehlen ’35
mit kehlen die wände gebaut

 

 

 

SIE

wird vom Kugelblitz getroffen und ist bereits außer sich, doch weil sie sieht, wie ER um sie trauert, kehrt sie wieder zu sich zurück. Aber ist Liebe wirklich so mächtig? Und sind Kugelblitze nicht ohnehin nur eine abergläubische Erfindung, die dem rationalen Denken kaum standzuhalten vermag? kugelblitz: das ist eine Reise in 44 Etappen, durch das Lieben, das Kriegen und das, was danach kommt. Blitze, Fahrräder, Flugzeuge und Handys dienen als Transportmittel. Paare geraten unter Wasser, auf Sand, oder Felsen, meistens wird Richtung Himmel geschaut, meistens geht es schief. Denn vielfältig sind die Blitzeinschläge: von den Gewittern katastrophal oder glücklich einbrechenden Gefühls bis zu denen der kriegerischen Zerstörung. Und oft kommt, was wirklich bedroht, aus der Stille, aus dem Kleinen zu uns. Von dort und aus den Splittern der Sprache und des Körpers, der Eigenheit und der Zärtlichkeit morsen die Gedichte schillernde Botschaften aus dem Inneren unserer ureigensten Phantasie. Mit großen Bildreichtum, mit frappierender musikalischer Intensität loten Ulrike Draesners neue Gedichte die Möglichkeit sinnlichen Sprechens aus.

Luchterhand Literaturverlag, Klappentext, 2005

 

Sinnverschiebungen in Versen

Eine Strassenbahn rattert die Schienen entlang. Kurz vor dem Haus wird sie langsamer, macht eine S-förmige Schleife und fährt wieder davon. Dem Betrachter hinter dem Fenster ist dieser Rhythmus vertraut. Doch eines Tages nimmt er ein Fernrohr zu Hilfe – und plötzlich bemerkt er etwas völlig anderes: Der rote Wagen wird wie eine Pappschachtel zusammengedrückt, die Wände stossen immer schräger aneinander. Dann scheint der Kasten auf einmal hinten breiter, und während durch alle Flächen noch kurz eine Bewegung läuft, ist die alte vertraute Schachtel wieder in Ordnung.
In seinem kleinen Text aus dem Jahr 1926 beschreibt Robert Musil den Blick durch das Fernrohr als ein Umstülpen der Wahrnehmung. Das technisch verlängerte Auge taucht unter den gewohnten Zusammenhang der Dinge und setzt Einzelheiten frei. Es gibt die „romantischen Beziehungen zur Umwelt“ auf zugunsten der „richtigen optischen“. In Ulrike Draesners neuen Gedichten kehrt Musils Strassenbahn wieder, nur schlingert sie nun „kreischend / in die kleinste kurve“. Diese Lyrik kennt keine festen Hierarchien mehr. Wo bei Musil hinter dem Gewebe aus Gewohnheit eine zwar dämonisch anmutende, aber doch „richtige“ Welt erahnbar wird, halten Draesners Gedichte zunächst alles offen. Zwischen dem Wildwuchs der Bedeutungen und seiner Bändigung finden sich hier die wundersamsten Mesalliancen, wird bald schon alles mit allem vergleichbar. Die Gedichte stellen neue Zusammenhänge her, merkwürdige Verbindungen, die keiner kausalen Logik gehorchen. So lässt sich die Strassenbahn vom Liebesspiel zweier Hunde anregen, bis sie am Ende lustvoll davonsaust.
Fast jedes der Gedichte verfügt über eine solch kleine Versuchsapparatur. Hier werden die überkommenen Vorstellungen vom „Subjekt“ oder vom „lyrischen Ich“ erprobt. Hier forscht Ulrike Draesner einer Sprache der Gefühle nach, die um ihre Zeichenhaftigkeit weiss und um die Zeit, in der sie steht. Vor allem aber jener nur scheinbar sicheren Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen der Erinnerung und dem Erleben des Moments. Oft setzen die Texte mit Bildern ein, die an Kindheits- oder Jugenderfahrungen denken lassen. „als meine schwester den hasen / penelope nannte“, beginnt ein Gedicht. Oder:

hätte ich mich niemals verliebt
(nährenden bodens)

Doch schon eilen die Verse „mit / kleinen winkenden armen durch die zeit“. Bruchlos wechseln die Bild- und Sprechweisen, „feensprache“ schleust Draesner ebenso ein wie simple „ferngespräche“. Irgendwann ist aus dem „nährenden boden“ ein „sich nähernder boden“ geworden. Es sind diese klangstark inszenierten Laut- und Sinnverschiebungen, die den Leser ganz nah an die Gedichte heranholen.
Ulrike Draesners Texte, die Romane ebenso wie die Erzählungen, die Essays oder die Gedichte, tragen den Entwicklungen ihrer Zeit Rechnung. Die einschneidenden Veränderungen im Denken und Fühlen, die sich durch Bio- oder Computertechnologie ereignet haben, prägen ihre Form bis in die Satzzeichen hinein. Das gewagteste Unternehmen sind vielleicht die „Radikalübersetzungen“ von Shakespeares Sonetten. Mit einer Reihe von Sprachmutationen hat sie die Sonette in vielzüngige Gen-Gedichte verwandelt, in „Reden von Klonen in einer geklonten Welt“. All diese Vorstellungen sind auch im neuen Gedichtband anwesend. Aber sie werden nicht mehr ausgestellt, vielmehr schweben sie angenehm unaufdringlich im Hintergrund.
Das heisst keineswegs, dass die Gedichte nun weniger vielschichtig wären. Im Gegenteil, ihre treibenden Rhythmen eignen sich gleichermassen für schmale Textfiguren wie für die Langzeile. Sie inszenieren „spreng / träume“ und ein „flixes sehen“, das wie nebenbei die Fältelungen der Liebe mit geschichtlichen Spuren verknüpft. So sind Ulrike Draesners Verse nichts Geringeres als Erkenntniswerkzeuge. Sie verraten uns etwas über die Verbindung von Erkennen, Fühlen und Sprechen. Musil nannte es die „unendliche verstehende Auflockerung des Menschen“.

Nico Bleutge, Neue Zürcher Zeitung, 28.7.2005

Formation Fontanelle

– Die neuen Gedichte von Ulrike Draesner stürzen gern himmelwärts. –

Ulrike Draesner – vielfach preisgekrönte und hoch gepriesene Dichterin – führt die neue Avantgarde weiter: unerhörte Töne, gewagte Bilder und Brechungen, Wortspiele und intensive Gefühle zugleich – Gefühle, die ihr „leuchten als wärens wörter“. Draesner versucht, an die Sprache unter den Wörtern und Sätzen heranzukommen, die Poesie von aller ornamentalen Nichtigkeit zu befreien, die sie laut Julia Kristeva unfähig gemacht hat, ein zeitgenössisches Subjekt in Frage zu stellen oder neu zu konstituieren. So glaubt Draesner im Eröffnungstext ihres neuen Gedichtbandes kugelblitz an „direkt mit dem körper verbundene wörter“ und vernimmt in ihnen „das stumme wildwerden der welt“ immerhin als einen „fröhlichen sturm“. Es ist ein zwei Seiten langer Text, in Langzeilen gegliedert, mit hochintensiven Passagen, aber auch einigem Geräusch, mit nachlässig organisierter, vielleicht subversiver Grammatik, die zuletzt auf ein gemütvolles Bild zuläuft:

wir wie wellen hysterisch schreiender
blauweißer vögel in dieser himmelwärts stürzenden tasse zeit
liebten uns seit jahren

Man sieht und hört, auch Draesner schaut sich gern Naturfilme an. Doch übersteigt die „tasse zeit“ unsere Naturerfahrung, zumal wenn sie himmelwärts stürzt, und das tun ihre Bilder und Gedichte regelmäßig. Wenn sie sich in einem der Gedichte darüber beklagt, dass ihr niemand je „ein begreifliches wort“ zur Elektrizität gesagt hat, zum Auf- und Abgehen der Blitze in einer Wolke zum Beispiel – immerhin machen sie einen Weg –, so bleibt sie uns Erklärungen ebenfalls freudig schuldig. Und wir erwarten sie gar nicht, wissen, dass Lyrik so ist.
Ulrike Draesner setzt die poetischen Textspiele der Mayröcker fort, Elke Erb, Oleschinski, Ursula Krechel, Thomas Kling und andere lassen sich dazustellen, die dem sowohl atemlosen wie lustbetonten Ineinanderstürzen der Bilder Pate gestanden haben. Gleichwohl werden Geschichten erzählt, man muss nur den Bildern folgen. Waterhouse ließ seinen Vers zum Leser sagen:

Nicht mich übersetze, übersetz dich!

Wer dazu nicht bereit ist, gilt Draesner als „hasenherz“, und das nimmt kein gutes Ende.
Ein geheimnisvoller Titel: „entenbrust, rötlich, die straße entlang“. Der Text klärt uns auf, es geht um eine Straßenbahn. Die erste Strophe folgt dem schlingernden Gang der Schaffnerin, der das Watscheln der Bahn abbildet. Dann aber beginnt ein Spiel mit Vokalen, das den Sonnenuntergang, „rötlich“, repräsentiert, lauter Umlaute (ä, ö, ü), und das belehrt uns exemplarisch, was Lyrik vermag, wenn sie ihren eigenen Mitteln vertraut. Der Vergleich mit der Ente erscheint nur sehr indirekt, im ersten Wort, dem Titelanfang „entenbrust“, und im letzten. Die Schlussstrophe ist von fulminanter Einfachheit:

wie sauste die bahn nun
ganz gerade die straße hinab
wie schlug die spiegelung
ihrer fenster im asphalt
mit den flügeln

Taktvoller ist die alte dichterische Denkfigur der elevatio, der Erhebung übers Alltägliche hin ins Unendliche, selten realisiert bzw. zurückgenommen worden.
Die Gedichte erzählen zunächst eine Liebesgeschichte – ich/er –, ausreichend verfremdet, und setzen sich entsprechend als Wir-Erzählung fort. Zum Thema wird das „folgen und verfolgen der liebe“. Die Form der Gedichte erinnert oft an die späten Fragmente Ingeborg Bachmanns, besonders anrührend im Titelgedicht „kugelblitz, hammondorgel“. Immer wieder wird ein zentrales Motiv, ein Blitz oder etwa die Flugformationen der Gänse, ein spätes Alphabet am grausilbernen Himmel im kältesten Winter, hin und her gewendet, variiert und angereichert, bis es für die Dichtung selber stehen mag:

ein strahlen
das verwechselt sich
hüpft auf der erde fort

Die Flugfiguren schreiben sich dem Betrachter ein, werden ja von ihm „gemacht“, aber das gilt nur halb: Draesner will Außen und Innen sinnlicher, nicht nur übers Auge vermittelt wissen, sie tropfen „ins fontanellenloch (wo / wir aus bildern sind)“. Der Gedichttitel „formation fontanelle“ führt Wahrnehmung und Gefühl, Seherfahrung und Unbewusstes zusammen. Gelegentlich bleiben die vom Subjekt probeweise verlassenen Texte disparat („tempelhof“) und gewähren so Hermes, dem aus Prinzip unzuverlässigen Gott der Diebe und Dichter, Einlass.
Ulrike Draesner lässt uns sozusagen ausruhen, indem sie immer wieder auch durchsichtige Metaphorik anbietet: „eissee der liebe“, „der zerschrundene Wald“ Brandenburgs, Sprengträume, die douceur der Mimosen, Agitpropverse: „wie schön es wär/ ohne heer“, und zeitgenössisch deutlich:

sex, ein langgezogener gestreckter
pfeil abgeschossen in mir
ohne auf mich zu zielen

Immerhin ein Vorschlag, die Kriegsspiele ins Bett zu verlagern. Fast ein chinesisches Gedicht bilden die Schlusszeilen von „aufkommen“:

sie sagte auf der erde sein heißt
seinen schatten berühren

So kann man auch diese Gedichte lesen: als Versuch, jener vor-verständigen Sprache auf die Spur, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Sie gehört zu uns als Schatten, aber bleibt für gewöhnlich im Schatten. Das Gedicht „von grammatik“ formuliert das zeitgenössische Lyrikprogramm einmal mehr, einmal neu, dem Ich auf der Spur, das immer noch zu wenig von sich weiß, sich weder ausreichend angenommen noch entworfen hat:

ein schatten ruft. was altes
weiß von dir. die kehle
streckt sich schon.

Diese Geste kann heißen: zum Opfer, kann heißen: zum Gesang – wir plädieren für die zweite Lesart.

Alexander von Bormann, Frankfurter Rundschau, 16.3.2005

Grammatik der Liebe

– Literatur – so sieht es Ulrike Draesner – besteht daraus, Verbindungen aufzuweisen, die man nicht sieht, Momente, in denen Funken zusammenschießen und etwas Neues entsteht. Eine Grammatik der Liebe ist in dem Gedichtsband kugelblitz von Ulrike Draesner auf neue Weise durchdekliniert. –

Die Welt wird jung, zerfällt und setzt sich in funkelnden Splittern wieder zusammen, die Bedeutungen erhalten einen luxurierenden Überhang und doch ist nichts redundant, dazu ein flirrendes Spiel um ein Ganz Anderes, um Sinn, Sinnlichkeit und Von Sinnen Sein – zuletzt die so schreckhafte wie gelassene Anmutung eines Endes in allem Anfang, des Verlustes im Augenblick intensivsten Lebens: all das ließe sich von einer Grammatik der Liebe sagen. In den Gedichten von Ulrike Draesner wird sie auf frische neue Weise durchdekliniert.
„als wärs“ lauten die ersten Worte des Eingangsgedichts – das ist jener suggestive Irrealis, der in der deutschen Lyrik für manche Wahrnehmungs-Explosionen sorgte – etwa in Eichendorffs „Mondnacht“:

Es war, als hätt der Himmel die Erde still geküßt.

Bei Ulrike Draesner entläßt der bildspendende Konjunktiv eine Flut von Empfindungen und Erinnerungen:

als wärs ich will und kennten all die jahre uns trink mir zu als
wären diese linien ein südlicher park unverändert die karte
dieser jahre verrückt geliebt als wär dies die erste klippe von der
aus wir das meer umarmt teuflisch dort die kleinen rochen
schienen
devils in disguise doch leuchten so als wärens wörter
uns geworfen um die vögel anzulocken in ihrem klippgesang
als wäre es unser morgen und immer noch der rachen riesig
des himmels blau wie du und ich in der anemonen
in der animalenmulde dieses hügels cliff!
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaarock!

Literatur – so sieht es Ulrike Draesner selbst, besteht daraus, Verbindungen aufzuweisen, die man nicht sieht, Momente, in denen Funken zusammenschießen und etwas Neues entsteht.
Die hier versammelten Kugelblitz-Gedichte schreiben im ersten Teil mit dem Titel „lieben“ eine auflodernde- und abebbende Liebesgeschichte und sind doch ganz lyrisch in ihren Elementarteilchen, die einen beim Lesen stocken lassen, weil ihre Komposition aus Intensität und Reflexion sich fast rüde absetzt vom sogenannten Sinn des Ganzen. Der Splitterung gehorcht auch die Grammatik: Zeilen-Überhänge, reflexive Einwürfe, kulturelles Erbe, Slang. Oftmals sind es im Staunen gezeugte Metaphern, die sich abnabeln vom erzählenden Gefühlsstrom. Impressionistische Tupfer, fragend, zuweilen auch setzend:

geht einer hier lang, licht?
hagebutten, ein haus, ein haupt
flockige pflanze, nach oben geweht

tang – lockig über den sand, violetter
geist, oder geist von was:
lächeln, wie licht das auf einer

spitze, zerfressen kichernd –
kindergesicht? mit höhligem wie
eine höhle schatten für schwalben

oder mückenstick, auch beulen
hautnah, sandig, eben: als licht.
etwas das geht taumelt dreht

gern haben

eben und eben eben der strand,
aus arbeit, die reibt, sandig, lüstern
glänzelnd das meer, und flach

Ist das das Alphabet einer sehr privaten Sinnlichkeit, gar Mythologie, wie schon gemutmaßt wurde, womöglich allzu maniriert tiefsinnig in der Anlage?
Ulrike Draesners jüngste Gedichte sind weit von Privatsprache und teutonischem Gefühlsrausch entfernt – ebensowenig bestätigen sie den Vorwurf, die Oxford-Absolventin habe einmal mehr in feministischen Diskursen und den angesagtesten Theorien der Saison gewühlt. Komplexität wird hier weder beschworen noch reduziert. Dafür ist eine liedhafte Wehmut hörbar, die an Untergründiges rührt. Die Erfahrung der Liebe wird aus der Befindlichkeit des späten Ich reformuliert, die in Monitoren und Handys getaucht ist – und doch wird sie manchmal märchenhaft alt, ohne zu regredieren:

lämpchen komm
Mädchen spring

die löffel sind lang
selbst die lumpigsten
hasen

wie er seine pfoten
um deinen hals legt

für sekunden
stille – dann springt
das herz

Der Liebe folgt das alltägliche Leben oder das „kriegen“, wie der zweite Teil des Bandes betitelt ist. In der doppelten Bedeutung von „In Besitz bringen“ und „zerstören“ wird die Geschichte weiter getrieben. Worte wie „allein“, „gelöscht“ treten hervor, und ein Reisen und Schauen soll Linderung in die Verlusterfahrung bringen. Leider beeinträchtigt das bisweilen die Güte der Gedichte. Auch der dritte Teil wirkt zuweilen wie ein kaleidoskopischer Anhang, in dem Einzelnes gelingt, aber die Atemlosigkeit beim Lesen der ersten zwanzig Gedichte einer merkwürdigen Bedächtigkeit weicht. Aber was bedeutet das schon bei solcher Fülle.

du schliefst noch ich saß
dein atem ging der tag
schob wald ans feld
die wiese fing zu blitzen
an in schatten fraß ein
taubenpaar heiß die krallen
ihr ihm ein kleiner fleck am
hals, weich noch ihre rufe
wie kindheitsmorgen schön

Werner Kröhne, Deutschlandfunk, 15.6.2005

 

Fakten II

„Lyrik ist Gehen am Grund der Sprache.“

Im Gespräch mit Schulfernsehen online beleuchtet die Lyrikerin, Romanautorin und Literaturwissenschaftlerin Ulrike Draesner wesentliche Aspekte des Lyrischen und sondiert Möglichkeiten, sich dem Lese-Erlebnis „Gedicht“ zu nähern.

Schulfernsehen online: Frau Draesner, was ist das eigentlich: Lyrik?

Ulrike Draesner: Wenn man das so leicht sagen könnte, gäbe es bestimmt längst eine kluge Erklärung dazu. Ich glaube, mit der Lyrik geht es einem wie mit dem Begriff ‚Zeit‘. In dem Moment, in dem man fragt, was Zeit eigentlich sei, kommt man in Erklärungsschwierigkeiten. Die alten Philosophen haben sich schon in Griechenland damit herum geschlagen, dabei gehen wir alle ständig mit Zeit um und erleben sie. Das ist für mich auch hinsichtlich der Frage danach, was Lyrik eigentlich ist, der wichtigste Aspekt. Die beste Antwort: Lyrik ist, was man erfährt, wenn man einem Gedicht tatsächlich begegnet, wenn man ein Gedicht liest oder auch hört, und es irgendetwas in einem selbst anstößt. Vielleicht sagt man zuerst einmal: ich verstehe das jetzt nicht alles, aber hier war etwas, eine Wahrnehmung, eine Beschreibung, eine Farbe, ein sprachlicher Rhythmus, eine Bildlichkeit, die mich berührt. Da entsteht ein kleines Feuer der eigenen Wahrnehmung, und plötzlich verändert sich die Welt.

Schulfernsehen onlineMuss man sich mit dem Hinweis auf formale Dinge und Wirkungsschreibungen behelfen, um sich dem Phänomen Lyrik zu nähern, oder lässt sich das Lyrische wesentlicher fassen?

Draesner: Ob etwas ein Gedicht ist, oder nicht, sieht man normalerweise am Zeilenfall und an einer gewissen Gebundenheit der Sprache. Wenn man dann fragt, wo Lyrik herkommt, wo das Wort selbst seinen Ursprung hat, stößt man darauf, dass Rhythmus und Reim am Anfang standen. Dank ihrer ließen sich Texte besser memorieren. Das war wichtig, denn Literatur wurde größtenteils mündlich vorgetragen oder auch gesungen. Im Laufe der Zeit wurde das literarische Spektrum immer vielfältiger. Es entstanden längere Prosatexte, verschiedene Erzählstrukturen, und plötzlich erschien es nötig oder zumindest hilfreich, in verschiedene Gattungen zu kategorisieren. Zum Verständnis von Lyrik, wie sie sich in unserem Kulturkreis heraus gebildet hat, gehören meines Erachtens ein paar zentrale Elemente: Gedichte sind stark bildlich, eher in sich abgeschlossene, kürzere Texte, und erzählen nicht unbedingt eine Geschichte. Ein Gedicht kann natürlich narrative Elemente oder auch Figuren haben, aber eigentlich ist das Gedicht, im Kernbereich, etwas, das ein Schlaglicht wirft. Das kann ein Schlaglicht aus verschiedenen Richtungen sein auf eine kleine Szene, auf einen Moment, auf eine Abfolge von Bildern.

Schulfernsehen onlineKann man eine harte, grundsätzliche Grenzlinie zwischen Prosa und Lyrik ziehen oder gibt es da nur fließende Übergänge?

Draesner:Natürlich gibt es fließende Übergänge. Aber es gibt auch Texte, die sind ganz klar Gedicht. Einfach auf Grund ihres Rhythmus, ihrer starken Metaphern, auf Grund der Verankerung der benutzten Bildlichkeit in der Sprache, und auf Grund der Eigenheiten der Sprache, in der das Gedicht geschrieben ist. Gerade weil Gedichte so am Grund der Sprache gehen, sind sie so schwer zu übersetzen. Weil sie mit den Eigenheiten der jeweiligen Sprache, ihren Klangfeldern und ihrer Idiomatik operieren. Wenn ein Text das tut, ist ganz klar: Das ist ein Gedicht. Wenn er das sehr wenig tut, ist es Prosa. Und dazwischen gibt es einen fließenden Bereich, etwa das Prosagedicht, das narrative Strukturen enthält, vielleicht aber wie ein Gedicht im Zeilenbruch gesetzt ist, oder den Ton wechselt und immer wieder Dialoge zwischenschaltet und bisweilen ausgesprochen bildlich wird. Hier findet sich eine breite Palette fließender Mischformen. Wie immer, wenn man Taxonomien aufstellt. Man kann vielleicht einen scharfen Bereich der Definition einstellen. So, wie man Baum definiert: Man hat die Grundelemente Stamm und Blätter, das ist aber schon falsch, weil manche Bäume keine Blätter, sondern Nadeln haben. Was man hat, ist ein diffuses Bild davon, was ein Baum sein könnte. Kein einziger konkreter Baum sieht tatsächlich so aus. Das macht aber nichts. Trotzdem sind das da draußen alles Bäume. Und so ist das auch mit der Definition des Gedichts. Man kriegt etwas in die Hand, so einen kleinen Begriffsapparat, der einem bei der groben Einordnung hilft. Aber für mich ist der wesentliche Kern tatsächlich die Art und Weise, wie ich innerlich von der Stimme eines Textes berührt werde. Und das tut ein Prosatext mit ganz anderen Mitteln. Er gibt mir eine Figur oder mehrere, mit denen kann ich mich identifizieren oder auch nicht. Mit diesen Figuren gehe ich durch eine Welt, die ich mehr oder minder wiedererkennen kann, oder die meinetwegen auch ganz neu ist, die ich aber immer verstehen kann. Ein Gedicht tut das nicht. Ein Gedicht verzichtet in aller Regel auf Figuren. Das ist für mich ein zentrales Signum. Anders als ein Prosatext braucht ein Gedicht kein Personal, ich glaube ihm trotzdem. Manchmal gibt es ein kleines Ich, von dem weiß ich überhaupt nichts, das spricht zu mir nur als eine Instanz, die wahrnimmt. Es ist mir auch ganz egal, wer dieses Ich ist, denn ich will mit diesem Ich hindurchsehen auf die Welt. Und auf die kommt es an.

Schulfernsehen onlineSie haben den Klang, den Rhythmus, die Mehrdeutigkeit, die Botschaft der Vokale, die Bildlichkeit und den Satzbau als Merkmale des Lyrischen angesprochen. Wie wichtig sind diese Elemente für das Gedicht?

Draesner: Das sind durch die Bank zentrale Elemente. Und zwar aus zwei Gründen. Zum einen wegen der Tradition, aus der Gedichte kommen. Diese Tradition ist wichtig, weil sie weiter wirkt. Es gibt immer wieder Leute, die einen Text lesen, der wie ein Gedicht aussieht, und verstört sind, weil die Reime fehlen. Vielleicht aber hat das Gedicht sogar Reime, nur hat es keiner gemerkt, weil man Reime natürlich auch so einbauen kann, dass einer außen und einer innen steht, oder dass sie nur leicht aneinander schleifen, wie „e“ und „ä“. Oder es werden Anagramme eingebaut, das sind die gleichen Buchstaben, einmal durchgeschüttelt. Das sind vielleicht keine klassischen wohltönenden Reime, die man im Schema a b a b hört, aber sie sind vorhanden. Und sie bauen wesentlich an der formalen Einheit eines Gedichtes mit. Die wiederum ist wichtig, damit das Gedicht maximale Wirkung entfalten kann, damit man die Klangbotschaft geballt wahrnimmt, damit es in diese Schichten vordringt, in denen wir auch auf Sprache reagieren, die aber nicht besonders bewusst sind: der Rhythmus, in den ich beim Vorlesen versetzt werde, der Rhythmus, in den der Leser beim Zuhören versetzt wird.
Und zum anderen steht Lyrik in einer Kunsttradition. Das heißt, sie hat immer Bezüge in sich. Die Dichter sprechen auch mit Gedichten von früher, oder mit zeitgenössischen Gedichten aus anderen Sprachen. Das sind oft Echos, oft Antworten, die Themen weiter spinnen und auch zeigen, dass die Dichter wissen, was ihre Kollegen einmal gesagt haben oder sagen. Ich vergleiche das manchmal mit Weintrinken. Wenn man sich nicht auskennt und einen guten Wein serviert bekommt, denkt man sich vielleicht, das schmeckt nicht schlecht. Wer sich besser auskennt, wird mehr Nuancen heraus schmecken, dem geht eine ganz andere Geschmackswelt im Mund auf. Genau so ist es mit der Wahrnehmung von Gedichten. Je mehr formale Dinge man gelernt hat und sieht, desto reicher wird die Erfahrung im Lesen. Plötzlich bemerkt man ein Echo auf Gryphius, und da gibt es ein Echo auf ein Shakespeare-Gedicht. Und auf einmal sehe ich ein Thema von zwei ganz verschiedenen Seiten und aus unterschiedlichen Zeiten beleuchtet.

Schulfernsehen onlineDer Reiz eines Gedichts entsteht also nicht nur durch unmittelbare emotionale Berührtheit, sondern auch auf einer sprachlich-spielerischen Ebene?

Draesner: Ja. Aber es kommt darauf an, was der Leser möchte. Es kann einem ja völlig genügen, berührt zu sein. Und dann lässt man es dabei. Es gibt aber auch Leute, die wissen wollen, warum sie sich durch dieses Gedicht, diese Zeile, dieses Wort berührt fühlen. Wer das will, muss formal analysieren. Die formale Analyse untersucht, wie Sprache genau an dieser Stelle handelt – warum sie also wirkt, wie sie wirkt, warum es ihr gelingt, so dicht und wirksam zu werden. Besonders aufregend ist dabei für mich immer die Frage nach der Spannung zwischen einer vorgegebenen Form und Abweichungen von dieser Form. Nehmen wir beispielsweise das Sonett. Da stimmen Länge, Rhythmus, der logische Aufbau, das können Menschen aller Zeiten offensichtlich gut aufnehmen. Interessant ist es zu sehen, an welchen Stellen ein Sonett der idealen Formvorgabe folgt, und wo es diese Vorgabe nicht erfüllt. In jedem guten Sonett ist mindestens eine solche Abweichung zu finden. Da stimmt der Rhythmus nicht, da ist der Reim auffallend schräg, oder es gibt vielleicht sogar eine Zeile zu viel. Warum ist das so? Das ist die zentrale Frage. Ist das Pfusch, oder ist es etwas, das mir bewusst als Botschaft geschickt wird? Stützt das formale Abweichen von der Norm eine Aussage, auf die mich der Autor buchstäblich stoßen möchte, weil ich hier ins Stolpern komme? In einem guten Gedicht gibt es für formale Besonderheiten immer inhaltliche Gründe. Vielleicht passiert etwas emotional Entscheidendes, auf das ich aufmerksam gemacht werde, weil ein Formbruch im Kontext einer besonders strengen Formvorgabe eben auch besonders stark wirkt. Wenn ich Formen benutze, kann ich ganz andere Fallhöhen in der Sprache erzeugen. Das ist das Interessante. Aber man muss natürlich die Form erst einmal kennen, um auch den formalen Bruch, die Abweichung, die Eigenheit eines Gedichtes zu erkennen. Vielleicht erkenne ich dann, dass an dieser Stelle ein spezieller Punkt gesetzt ist, und kann darauf meine Interpretation aufbauen.

Schulfernsehen onlineDie Auseinandersetzung mit formalen Elementen wie Rhythmus, Klang, Satzbau, Metaphorik ist also kein Selbstzweck, sondern die Voraussetzung dafür, den Genuss zu steigern?

Draesner: Absolut. Das hat auch etwas mit Selbsterkenntnis zu tun. Man lernt durch diese formalen Dinge wie Jambus oder Trochäus oder Anapäst auch etwas über sich selbst. Man lernt zu verstehen, welche Mittel Sprache einsetzt, wie sie manipulieren kann, um bei einem Zuhörer oder Leser eine bestimmte emotionale Gestimmtheit zu erzeugen. Und das ist auch jenseits der Gedichtwelt nützlich, weil wir alle ständig über Sprache kommunizieren, andere überzeugen wollen oder von anderen überzeugt werden sollen. Auf jeden von uns gehen ständig Sprachattacken nieder, zum Beispiel durch Werbung. Es ist ja auch kein Wunder, dass sich gerade die Werbung der klassischen dichterischen Mittel bedient. Sie reimt, sie hat Rhythmus, sie spielt mit Formen, weil das wirkt. Zu verstehen, wie Sprache jenseits offen deklarierter Inhalte unterschwellige Botschaften übermittelt, ist ein Teil Selbstaufklärung, und lässt sich an Gedichten erkennen.

Schulfernsehen onlineDieses Aufspüren wechselseitiger Bezüge zwischen Form und Inhalt ist für Sie demnach ein wichtiger Teil des Leseerlebnisses?

Draesner: Ja. Und gibt Lebensorientierung. Daher ist es sinnvoll, dass Lyrik nicht aus dem Schulkanon gestrichen wird. Dabei geht es nicht darum, kanonisierte Höhepunkte der klassischen Bildung als Selbstzweck zu bewahren. Und auch nicht darum, für ein konkretes Gedicht die einzig richtige Interpretation zu „lernen“. Es geht darum, selbst mit Sprachbotschaften und Sprachmanipulation umgehen zu können, zu durchschauen, wie Wirkungen gemacht und Reaktionen ausgelöst werden.

Schulfernsehen onlineSie skizzieren mehrere Ebenen, auf denen man sich einem Gedicht nähern kann: einen sozusagen naiven Zugang, wobei man unmittelbar emotional berührt wird, aber auch mehr oder minder viele intellektuelle Schichten, die man mitdenken sollte.

Draesner: Die man mitdenken kann, um den eigenen Genuss zu erhöhen. Mit der emotionalen, spontanen Reaktion ist das so eine Sache: Die gibt es bestimmt bei Menschen, die oft und gerne Gedichte lesen. Wer diese Übung nicht hat, tut sich sicher schwerer. Das kenne ich von mir selbst. Für mich waren Gedichte fast meine ganze Schulzeit lang etwas Überflüssiges, sogar Ärgerliches. Wir mussten Schillerballaden auswendig lernen in der siebten und achten Klasse, das habe ich gehasst. Ich konnte mir diese Balladen schlecht merken, immer sind mir andere Reime eingefallen als dort standen. Und dann diese moralischen Botschaften! Damit konnte ich wenig anfangen. Dann kam ich in die zwölfte Klasse, Leistungskurs Deutsch. Unser Lehrer stellte sich hin und sagte, er wisse, dass wir Gedichte nicht schätzten, dass aber die meisten von uns am Ende in der Abiturprüfung die Gedichtinterpretation wählen würden. Alle lachten, keiner wollte das glauben. Er lachte auch und kündigte an, uns von nun an jede Stunde ein Blatt mit Gedichten auszuteilen. Damit könnten wir machen, was wir wollten – sofort wegwerfen, lesen, egal was. Tja, und dann saß ich da nach dem Mittagessen zu Hause und hatte die Möglichkeit, französische Vokabeln zu lernen, eine schwierige Matheaufgabe zu lösen, oder diesen Zettel des Deutschlehrers zu lesen, mit dem man nichts machen musste, da die Gedichte ja nicht interpretiert wurden. Also las ich. Und dann passierte etwas Merkwürdiges: Die ausgeteilten Gedichte waren samt und sonders Herbstgedichte aus der deutschen Lyriktradition. Hinzu kam, dass ich damals mit dem Fahrrad zur Schule fuhr, schon seit sechs Jahren immer auf dem selben Weg. Und plötzlich begann ich, diesen wahnsinnigen Herbst wahrzunehmen. Das war schon komisch. Sechs Jahre lang hatte ich keinen Gedanken an den Herbst verschwendet, und auf einmal gingen mir die Augen auf: die Farben leuchten und die Luft duftet. Das war wieder so, wie ich es als Kind wahrgenommen hatte, im Hollerbusch versteckt. Objektiv war dieser Herbst wie jeder andere, aber subjektiv hatte er sich verändert. Meine Wahrnehmung hatte sich verändert, war wacher und schärfer geworden. Und das kam von diesen Herbstgedichten. Das war der Augenblick, der mein inneres Hören für Gedichte geweckt hat. Ich war neugierig geworden: da passiert etwas mit mir! Und ich wollte entdecken, was da vor sich geht. Wenn man einmal so eine Erfahrung gemacht hat, ist natürlich die emotionale Reaktion, von der wir gesprochen haben, schneller da. Aber es braucht eben diese Erfahrung. Und trotzdem kann es geschehen, dass man mit einem Gedicht, das alle anderen begeistert, rein gar nichts anfangen kann. Das ist auch o.k. Dann lese ich eben ein anderes Gedicht, oder warte darauf, bis das erste sich vielleicht doch noch erschließt. Manchmal muss man ein Gedicht auch drei- oder viermal lesen und Zeit verstreichen lassen, damit diese innere Öffnung stattfinden, damit man emotional reagieren kann. Gedichte sind ja keine vorgestanzten, eindeutig definierten und durchkalkulierten Emotionseinheiten. Im Gegenteil. Sie spiegeln das Gemischte unserer Emotionen, das macht sie ja auch individuell. Das Spezifische und Einmalige von Wahrnehmung und damit auch von Reaktion und Gefühl, hat in Gedichten Platz, und eben das macht Gedichte so schön.

 

Fakten III

„Sprache ist etwas, worüber ich immer wieder staune.“

Schulfernsehen onlineIn ihrer mehrhundertjährigen Geschichte hat sich die deutsche Lyrik stark gewandelt. Worin unterscheiden sich Gedichte des Mittelalters, der Barockzeit, der Klassik und der Moderne von einander, was haben sie gemeinsam? Gibt es eine Konstante des Lyrischen, die ungeachtet aller Unterschiede über die Zeiten hinweg besteht?

Ulrike Draesner: Fangen wir mit der formalen Ebene an. Da haben sich Gedichte im Laufe der Zeit sehr offensichtlich und grundsätzlich verändert. Außerdem haben sich die Themen verändert, weil Gedichte ja immer auch ein Stück Weltanschauung und gesellschaftlicher Realität spiegeln. Ob man nun an eine Welt glaubt, die von einem Gott gehalten wird und in sich geordnet aufgebaut ist, zeigt sich natürlich auch im Aufbau eines Gedichtes und in seinem Inhalt. Auch die Art und Weise, wie Themen angegangen werden, variiert. Aber man kann einige Fäden sehen, die sich durch Gedichte verschiedenster Zeiten ziehen. Etwa das Themenfeld von Tod und Liebe sowie alle Erfahrungen und Gefühle, die in diesen Umkreis eingebunden sind. Das sind Kernerfahrungen des Lebens, und in diesen Kernerfahrungen entfaltet Lyrik ihre größte Kraft. Das ist übrigens auch einer der Gründe, warum Menschen mehr Gedichte lesen, wenn es ihnen schlecht geht. In solchen als krisenhaft wahrgenommenen Zeiten will man wissen, wie man mit schwierigen Lebenssituationen umgehen könnte. Und Gedichte können auch trösten – gerade indem sie etwas benennen und innerlich zum Schwingen bringen, was im „normalen“ Leben und Funktionierenmüssen keinen Platz hat. Dass Gedichte zum Trost da sind, ist ja eine alte Tradition. Aber sie sind auch zur Unterhaltung da. Für mich ist auch die Tradition des komischen Gedichtes sehr wichtig. Diese Tradition zieht sich durch die Jahrhunderte, weil man sich mit Sprachspielen und der Lust an Wortverdrehungen selbst aus einigen Sümpfen von Niedergeschlagenheit herausziehen kann. Kleine Kinder freuen sich an Sprachspielen ganz natürlich, nur die Erwachsenen haben oft den „Witz“ im Sinne von wit, also Wissen und Humor, vergessen, der darin steckt. Mit Gedichten kann man sich lustig machen über die Welt, man kann vieles mit dem Augenzwinkern eines komischen Gedichtes leichter sehen, und man kann diese über das Gedicht entstehende Heiterkeit auch gut mit anderen teilen. Für diese grotesken Verschiebungen, für solche Sinn-Allotria ist Lyrik aufgrund ihrer Pointiertheit und Kürze natürlich auch ein wunderbares Gefäß.

Schulfernsehen onlineSie haben wiederholt vom Berührtwerden durch Gedichte gesprochen. Was im Menschen ist durch ein Gedicht berührbar, welchen Weg nimmt es beim Gang durch Auge oder Ohr?

Draesner: Weil Gedichte so klein, so subjektiv und durch konzentrierte Sprachmittel auch so effektiv sind, reichen sie an Stellen im Menschen, wo jeder sonst immer mit sich alleine ist. Dorthin, wo das innere Selbstgespräch stattfindet. Das Gedicht kann Dinge ansprechen, die man nicht mit jedem, vielleicht nicht einmal mit seinem nächsten Partner bespricht: Wenn man zweifelt, sich freut, vielleicht kleine Geheimnisse hat, sich schämt. Auf diese innere Stimme, die mit sich selbst spricht, zielt das Gedicht. Es rührt an den Kern des Geheimnisses unserer Existenz, an den Kern dessen, wie jemand in der Welt ist. Das kann man über Jahrhunderte und über Sprachen hinweg als an sich persönlich gerichtete Botschaft erfahren.

Schulfernsehen onlineNun hat sich aber die Sprache im Lauf der Jahrhunderte stark verändert: Vom glatten gebunden fließenden Metrum hin zum Stakkato, vom strengen Aufbau zum bewussten Stück- und Trümmerwerk, der Reim scheint ohnehin tabu. Sind die formalen Elemente der traditionellen Lyrik ein für alle Mal tot?

Draesner: Die Moderne des 20. Jahrhunderts hat sich zunächst damit beschäftigt, die gebundenen klassischen Formen zu zerschlagen und freie Rhythmen einzuführen. Das war wichtig, hat aber auch zu einigen Missverständnissen geführt. Viele Dichter haben die freie Rhythmik als Lizenz zu absoluter Beliebigkeit aufgefasst. Das funktioniert so natürlich nicht, denn ein freier Rhythmus ist immer noch ein Rhythmus. Und heißt also keineswegs, dass Rhythmus als eine zentrale Kategorie des Lyrischen weg fällt. Im Gegenteil. Es heißt, dass nun eine Zusatzaufgabe ansteht, nämlich dass man für jedes Gedicht Form und Rhythmus eigens erfinden muss. Vorher gab es ein klares Schema, jetzt muss der Dichter dieses Schema für jedes Gedicht individuell produzieren. In meiner Generation lässt sich derzeit im Übrigen eine erstaunliche Bewegung beobachten. Plötzlich ist das eine Zeitlang scheinbar vergessene formale Bewusstsein wieder sehr stark da. Es hat sich gezeigt, dass viele Experimente der Moderne, so nötig und befreiend sie waren, in eine Sackgasse führten. Der erste, der Herz auf Schmerz reimte, war genial. Der zweite war ein Nachahmer, der Dritte nur noch langweilig. Dasselbe gilt auch für die Experimente der Moderne. Das erste Lautgedicht ist toll. Aber wenn alle nur mit typografischen Zeichen arbeiteten: wie langweilig wäre das. Die erste Erklärung eines Telefonbucheintrags zum Gedicht ist provokativ, die Serie überflüssig. Viele solche Experimente wie etwa Marcel Duchamps Pissoir funktionieren, weil sie neu sind, weil sie den Kunstbetrieb auf die Schippe nehmen. Aber sie funktionieren genau einmal, und dann nie mehr. Das sind so Äste, die kann man einmal lang gehen, aber dann kommt man nicht weiter. In den letzten 20 oder 30 Jahren haben Dichter die Sprache geknetet und in ihre Bestandteile gelöst. Für uns stellt sich jetzt die Frage, was wir mit diesem Feld machen, wie geht es nach dieser Entwicklung konstruktiv weiter? Plötzlich ist wieder ein starkes formales Bewusstsein da, das alte Formen aufgreift. Plötzlich werden wieder Gedichte in einem klassischen Metrum geschrieben, viele haben inzwischen auch gelernt, die freien Rhythmen als rhythmische Aufgabe ernst zu nehmen, manche setzen auch wieder Reime ein. Und gerade der Reim ist ein sehr interessanter Aspekt. Er wird ja im Laufe der Sprachgeschichte immer komplizierter und immer schwieriger, weil sehr viele Möglichkeiten absolut verbraucht sind. Man muss also neue, unverbrauchte Möglichkeiten erfinden. Vielleicht, indem man Fremdwörter oder Wörter aus anderen Sprachen benutzt, vielleicht, indem man sehr schräge unterschnitte Reimwörter einbaut. Da sind derzeit sehr viel formales Wissen und eine große, spannende Spiellust am Werk. Deswegen funktionieren auch Lesungen so gut. Es gibt ja eine große Renaissance der Lesung und des vorgetragenen Gedichts. Jedes Jahr strömen Tausende von Menschen zum Lyrikfestival auf den Potsdamer Platz hier in Berlin. Da sitzen Leute und hören sich Lyrik in Sprachen an, die sie überhaupt nicht verstehen. Wie ist das zu erklären? Nur dadurch, dass diese formalen und musikalischen Gebilde Lust zum Zuhören machen. Sie machen Sprachlust.

Schulfernsehen onlineEin Geheimnis der Lyrik besteht also darin, dass sie den Menschen mit dem konfrontiert, was ihn von allen anderen Lebewesen unterscheidet: mit der Sprache?

Draesner: Das ist tatsächlich ein zentrales Geheimnis. Sprache ist uns auf der einen Seite so vertraut, weil wir sie ständig benutzen. Bevor wir noch nachdenken, lernen wir sprechen, weil wir nur mit Sprache denken können. Wenn man an und mit der Sprache anfängt, über Sprache nachzudenken, tun sich immer tiefere Einsichten und zugleich Zweifel auf. Für mich ist Sprache ein riesiger Speicher. Sie ist sehr viel größer als ich, sie weiß auch sehr viel mehr als ich. Sie ist Tausende von Jahren alt, hat eine eigene Geschichte, wird von unzähligen gleichzeitig benutzt und ständig verändert. Sie ist etwas Lebendiges, weil sie von lebenden Wesen getragen wird, und sie hat interessante Randbereiche, die sie selber auch noch einmal in Metaphern bezeichnet. Zum Beispiel, wenn wir von Körpersprache reden: wie spricht der Körper, wie sprechen unsere ganze Gestik und Mimik zur gesprochen Sprache hinzu – oder quer zu ihr? Was fehlt, wenn man das wegnimmt, wie es literarische Texte tun? Wie wird das erweckt, aufgegriffen, wie macht man diese Lücke fühlbar? Wie benutzt man sie für Bedeutungen? Sprache ist etwas, worüber ich immer wieder staune. Über die lautliche Nähe von Wörtern etwa. Manchmal weiß man gar nicht, was man damit anfangen soll. Jeder Ausländer, der Deutsch lernt, flucht über die lautlichen Ähnlichkeiten inhaltlich fundamental verschiedener Wörter. Manchmal ist es spannend, über diese Angebote von Brücken auch zu gehen. Wenn man sich darauf einlässt, ist oft so viel unvermutetes, inneres Wissen über das menschliche Leben zu entdecken. Oft sind in Redewendungen besonders viele solcher Erfahrungen gespeichert. Wenn man hört, einem sei das Herz in die Hose gesackt, weiß man ganz genau, was da passiert und wie es sich anfühlt. Solche Ausdrücke sind immer sprachspezifisch, solche Ausdrücke gehen im Grund der Sprache. Wenn ich versuche, das wortwörtlich ins Englische zu übertragen, werde ich nicht verstanden. Dafür gibt es in jeder Sprache viele sprechende Beispiele. Im Englischen sagt man: the jug sits on the table. Wir sagen: die Kanne steht auf dem Tisch. Dabei hat so eine Kanne weder Beine noch Füße, kann also weder stehen noch sitzen. Beides ist wörtlich falsch und damit eine Metapher. Aber als Deutsche empfinde ich die Aussage, dass eine Kanne auf dem Tisch steht, als völlig normal. Die Lampe steht auf dem Boden, der Stuhl steht auf dem Boden, der Computer steht auf dem Tisch. Für den Engländer sitzt der Computer auf dem Tisch. Er nimmt die Welt quasi als sitzende wahr, wir nehmen sie als stehende wahr. An diesen Unterschieden sieht man plötzlich, dass auch die scheinbar normale, nüchterne, alltägliche Sprache mit Bildern arbeitet. Da ist eine Anweisung drin, wie ich die Welt wahrnehmen soll. Aber das geht noch weiter. Wenn ich sage, die Kanne steht auf dem Tisch, nehme ich das als nüchterne, abstrakte Information wahr. Da stört nichts. Wenn ich sage, die Kanne sitzt auf dem Tisch, wird aus der Information plötzlich ein Bild. Und dann verstehe ich, dass auch das Stehen der Kanne nur ein Bild ist. Und in diesen Bildern ist eigentlich immer ein kleines Programm gespeichert über die Weltwahrnehmung.

Schulfernsehen onlineBetrifft das nur Redewendungen?

Draesner: Nein, das geht noch weiter, tief hinein in die Strukturen, in denen wir handeln und etwas beurteilen. Zum Beispiel: wie ist das Sprachfeld organisiert, in dem wir über Streit und verbale Auseinandersetzung sprechen? Man diskutiert mit einem „Gegner“. Man gewinnt, man setzt sich durch, man macht jemanden fertig, man unterliegt, man schickt seine Truppen vor, baut Argumentationsfronten auf, die Linie wird durchbrochen oder ließ sich nicht halten. Das sind Schlachtenpläne, die gesamte Metaphorik kommt aus der Kriegsführung. So etwas sind Dispositive, also Brillen, die uns von unserer Sprache aufgesetzt werden und die steuern, wie wir Dinge wahrnehmen und gestalten. Dahinter verbergen sich metaphorische Konzepte, die nicht nur etwas Abstraktes sind, sondern unsere Selbstwahrnehmung, unser alltägliches Handeln und unsere Rollen darin festlegen. Man könnte sich im Gegensatz dazu vielleicht eine Sprache vorstellen, die den Gegenstand Diskussion als Tanz organisiert. Da hätte ich dann also keinen Gegner, sondern einen Partner. Und wir würden nicht danach beurteilt, ob der eine gesiegt und sich durchgesetzt hat, sondern ob wir beide zusammen eine schöne Aufführung zustande bringen. Das hätte eine völlig andere Streitkultur zur Folge.

Schulfernsehen onlineWas hat das mit Gedichten zu tun?

Draesner: Gedichte sind die literarische Gattung, die sich damit am intensivsten auseinandersetzt, die genau auf diese sprachgesteuerte Wahrnehmung der Welt zielt, die sie transparent und fühlbar macht. Gedichte machen uns darauf aufmerksam, dass wir in und mit Metaphern leben, dass es auch einen anderen Blick auf die Welt geben kann. Da wird etwas zur Belichtung vorgelegt, wird noch einmal, durch das Gedicht, neu belichtet, da kommt etwas zum Vorschein, das unter anderem Licht nicht sichtbar war.

Schulfernsehen onlineIst auch Verdunkeln und Verrätseln, das viele Gedichte ausmacht, ein Teil dieser Strategie?

Draesner: Mag sein, aber ich kann mit diesem Verrätseln und Verdunkeln wenig anfangen. Mich ärgert es immer, wenn ich beim Lesen den Eindruck habe, dass der Autor hier etwas extra Schwieriges oder Dunkles eingebaut hat, das ich zehnmal im Lexikon nachschlagen muss. Ich arbeite gar nicht mit Verrätselungen oder absichtlich eingebauten Dunkelheiten. Das ist für mich schlechte Dichtung. Auch bei einem Dichter wie Paul Celan, dem man ja immer wieder nachsagt, er schreibe dunkel und kryptisch, geht es meines Erachtens nie um absichtliche Verrätselung. Wenn man sich diese angeblich schwierigen Gedichte einmal genauer ansieht, erkennt man, dass viele auf den ersten Blick seltsame Wörter sehr konkret auflösbar sind. Das sind oft Begriffe aus der Geologie oder Gesteinsformen, hinter denen Wissen oder Recherche stecken, die für das Gedicht, seinen Raum, entscheidend sind

Schulfernsehen onlineWas man da als Leser als dunkel empfindet, wäre demnach nichts als das eigene Aufmerksamkeits- oder Wissensdefizit, das sich ohne große Mühe, aber mit Gewinn beheben lässt?

Draesner: Manchmal ja. Manchmal aber ist das auch nicht so leicht auflösbar. Und soll es auch nicht sein. Sondern vielleicht eine Stelle zum Innehalten, zum Luftholen. Auch dazu, sich zu fragen, was für Erwartungen man an das reibungslose Funktionieren von Sprache eigentlich ständig stellt.

Schulfernsehen onlineDaneben gibt es eine Art dunkler Metaphorik, die zwar auf der Wortebene keine Verständnisprobleme aufwirft, wohl aber auf der Bildebene. Georg Trakl hat viele solcher Gedichte geschrieben, die zutiefst rätselhaft bleiben, obwohl nur von ganz einfachen Dingen wie Wald, Reh, Schwester oder Mond die Rede ist.

Draesner: Da schwingt noch etwas anderes, eine zweite Dimension mit, die auch bei Celan wichtig ist. Dabei geht es in keiner Weise um Verrätselung, sondern um das innere Anliegen des Gedichtes, um das also, worüber es eigentlich sprechen möchte. Es will mir ja nicht nur die äußere Welt beschreiben. Es will mir als seinem Leser die Möglichkeit geben, durch diese äußere Welt eine innere zu sehen. Was Celan tut, kann man manchmal mit mystischem Sprechen vergleichen. Es zielt auf Innenwelten, die mit einem Verändern und Zerbrechen der äußeren und funktionalen Sprache verbunden sind. Und weil das Gedicht auf etwas hinzielt, auf Zustände, wofür es in unserer Alltagssprache keine direkten Begriffe gibt, muss es sie durch Sprache einkreisen, anschaulich und fühlbar machen. Solche eigentlich unaussprechbaren Dinge können in bestimmten Sprachkonstellationen, in der durch Umkreisung beschriebenen, aber nicht direkt ansprechbaren Mitte, aufscheinen. Da geht es nicht um Verrätselung, sondern um das Klarmachen von etwas, das sonst jenseits des Randes der Sprache liegt, das verborgen ist, sich nicht einfach benennen lässt. Was das für Zustände des Wissens oder Nichtwissens sind, mag durchaus rätselhaft sein, aber es handelt sich um ganz wesentliche menschliche Erfahrungen.

Schulfernsehen onlineDa klingt, als würden diese Gedichte einen Oszillations- oder Schwingungsraum aufbauen, der anders nicht anzusprechen ist.

Draesner: Das würde ich so sehen. Es ist der Versuch, etwas so Rätselhaftes wie unser In-der-Welt-sein einzukreisen. Dabei geht es um ganz alte Fragen: Warum gibt es uns überhaupt, warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Das sind ja alles Dinge, die wir mit unserem Verstand nicht begreifen. Gedichte schauen genau dorthin, versuchen, dahinter zu kommen. Und wenn sie rätselhaft sprechen, dann nur in dem Versuch, an etwas völlig Rätselhaftes näher heranzukommen. Sie machen also diese abstrakte Tatsache zum Erlebnis.

Schulfernsehen onlineSie haben vorher das Bild vom Gehen im Grund der Sprache gebraucht. Was meinen Sie damit?

Draesner: Damit meine ich eine tiefe Verankerung in der Sprache. Damit meine ich, dass Gedichte dorthin reichen, wo Sprache und die Welt, die wir wahrnehmen, miteinander verklebt sind. Damit meine ich das Sichtbarmachen, das Aktivieren von Sprachstrukturen. Da gibt es ja ganz frappierende Beispiele. Das Finnische etwa kennt keine Unterscheidung zwischen „sie“ und „er“. Sobald man einen Text ins Finnische übersetzt, fallen Unterscheidungen weg, die für uns zentral sind. Und auf dem Weg ins Deutsche muss man sich plötzlich entscheiden: ist das nun „sie“ oder „er“? Die finnischen Dichter lachen und sagen: das ist offen, denk dir deinen Teil. Damit kann man tolle Spiele treiben. Da sprechen zwei Leute und keiner weiß, welches Geschlecht die haben. Und wenn man anfängt, solche grammatischen Strukturen auszunützen, mit Doppeldeutigkeiten zu spielen, wird es spannend. Von mir gibt es ein Gedicht mit dem Titel „mühle“. Das spielt an auf das Malwerk und zum andern auf das Brettspiel Mühle. Dieser Titel erweist sich als kaum übersetzbar, weil etwa im Englischen oder Französischen das Malwerk und das Brettspiel nicht durch ein gleichlautendes Wort bezeichnet werden. Im Deutschen lässt das Wort Mühle auch das Wort Mühe anklingen. Ich habe also eine Verbindung, eine Assoziation, die mir der Lautstand der Sprache herstellt. Wenn ich das Gedicht gelesen habe, in dem es um ein Paar geht, das nicht weiß, ob es sich trennen soll oder nicht, liegt diese Assoziation nahe. Da ist die Klangassoziation zugleich eine Sinnassoziation. Im Englischen haben die beiden Wörter für Mühle und Mühe klanglich überhaupt nichts miteinander zu tun, da funktioniert dieses Spiel nicht. Das macht vielleicht deutlich, was es meint, im Grund der Sprache zu gehen. Gedichte benutzen sozusagen die Lautähnlichkeiten oder Vokal- und Konsonantenbotschaften von Wörtern, benutzen die Art und Weise der Zusammenstellung von Wörtern, um bestimmte Gefühle abzurufen. Wir wissen alle, dass Musik und Rhythmus das tun. Dasselbe kann Sprache, und in ganz besonderer Dichte die Sprache des Gedichts.

 

Fakten IV

„Es ist völlig egal, was sich der Dichter gedacht hat.“

Schulfernsehen online: Kommen wir nochmals auf Paul Celan zurück. In einem Brief beschreibt er Gedichte, als „Geschenke an die Aufmerksamen“, als „Schicksal mitführende Geschenke.“ Können Sie mit dieser Aussage etwas anfangen?

Ulrike Draesner: „Gedichte als Geschenke“, das ist ein schöner Ausdruck, mit dem ich tatsächlich viel anfangen kann. Denn so ist es ja auch: Das Gedicht braucht ja erst einmal dieses Geben und Angenommenwerden, wie jeder andere literarische Text auch. Man muss wahrnehmen oder überhaupt wahrnehmen wollen. Und dann ist es ein kleines Geschenk, dessen Inhalt für jeden anders sein wird. Auch für den Autor selbst, wenn er es nach längerer Zeit wieder liest. Und ein Geschenk muss man zuerst einmal auspacken. Das ist es ja auch, was Geschenke so reizvoll macht: dass man erst einmal die Verpackung sieht, dann eine Schnur findet, an der man dann zieht, und dann kommt der weitere Inhalt heraus. Beim Gedicht kann diese Schnur ein Wort, ein Rhythmus, ein Bild sein, irgend etwas, das uns zum Auspacken des Inhalts verlockt.

Schulfernsehen onlineDas Auspacken heißt ja zweierlei: ich muss als Leser aktiv werden, und ich muss mich dem zunächst fremden Text stellen. Ich muss es aushalten, dass er verpackt ist und der Inhalt erst nach und nach sichtbar wird.

Draesner: Aber es lohnt sich. Gedichte kann man genießen wie zum Beispiel Bonbons. Auch zum Bonbon gehört Auspacken: das Papier raschelt. Wenn es weg ist, beginnt man einen Geruch wahrzunehmen, dann sieht man die Oberfläche. Dann schleckt man vielleicht vorsichtig dran und schmeckt, ob man es wirklich möchte, und wenn, steckt man es sich in den Mund. Von da an muss man gar nicht mehr viel tun, das Bonbon gibt seine Geschmacks- und Botenstoffe allmählich ab, und sie verändern etwas im „Rezipienten“. Gute Gedichte funktionieren genau so. Aber sie machen nicht dick!

Schulfernsehen onlineDas hört sich an, als bräuchten Gedicht und Prosa jeweils andere Leser.

Draesner: Prosa ist auch ein Geschenk, aber anders verpackt. Wenn ich einen Krimi lese, will ich für ein paar Stunden in eine fiktive Welt wegtauchen, allem den Rücken kehren, unterhalten werden. Da will ich gar nicht Ich sein, da lese ich nur. Gedichte funktionieren absolut nicht so. Das Gedicht vertraut auf jemanden, der sich beim Lesen nicht einfach nur ablenken möchte, der ein bisschen mehr Geduld, ein bisschen mehr Zeit und eine besondere Neugier mitbringt. Gedichte brauchen eine andere Lesestimmung. Man liest sie, wenn man vielleicht eher sprachliche Lust und Spielerei sucht, wenn man einmal herzlich lachen möchte, wenn man über etwas nachzudenken bereit ist, wenn man sehen will, zu welchen eigenen Fragen, welchen eigenen Bildern und in welche Innenräume einen so ein kleiner fremder Text führen kann.

Schulfernsehen onlineDas Gedicht führt den Leser zu sich selbst?

Draesner: Das Spannende an einem Gedicht ist zu sehen, wie man selbst auf dieses Textangebot reagiert. Das ist immer individuell und situativ. Ein und das selbe Gedicht ruft an zwei verschiedenen Tagen verschiedene Reaktionen hervor. Man ist an diesem Tag anders aufgewacht, hat andere Fragen, die Sonne scheint oder scheint nicht.

Schulfernsehen onlineAber was geschieht, wenn ich bereit bin, mich von einem Gedicht berühren und gleichsam finden zu lassen?

Draesner: Dann kommt es zu diesem Moment des intensiven Selbstverhältnisses von dem wir schon gesprochen haben. Ein Moment, in dem man sich mit sich selbst unterhält, wo man sich seine eigene Geschichte erzählt: Wer bin ich eigentlich, wie nehme ich die Welt wahr, wo sind meine eingefahrenen Bahnen, wo kann ich mir etwas Neues erschließen? Für diese Fragen und Aufbrüche sind Gedichte gut.

Schulfernsehen onlineWelche Rolle spielt die Verweigerung des Eindeutigen in dieser Beziehung zwischen Dichter und Leser?

Draesner: Unsere ganze Gesellschaft trimmt uns darauf, eindeutig zu sein, eindeutig zu reagieren. Eindeutigkeit ist ein hoher funktionaler Wert. Das ist in vielen Bereichen sehr sinnvoll. Wenn ich von einer Ampel den Befehl bekomme, bei Rot stehen zu bleiben und bei Grün zu gehen, ist die Eindeutigkeit geradezu lebensnotwendig. Menschen werden daraufhin erzogen zu funktionieren, eindeutig zu sein. Gedichte bieten das Gegenteil: Einen Freiheitsraum. Da darf ich plötzlich aufmachen für Zweideutiges, für Mehrdeutigkeiten, für die Ungewissheit, die doch vielen Situationen innewohnt. Normalerweise drängen wir diese Ungewissheiten weg, weil jeder Mensch ein bestimmtes Maß an Sicherheit braucht. Oder man darf eigene Zweifel nicht zeigen, weil sie nicht zur Situation passen, weil sie unerwünscht sind. Gedichte holen diese Ungewissheiten, diese Mehrdeutigkeiten nahe heran. Hier dürfen sie sein, hier werden sie ausgesprochen.

Schulfernsehen onlineEs gibt diesen berühmten Satz von Paul Celan, in dem er das Gedicht als Flaschenpost bezeichnet, „aufgegeben in dem Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht“. Trifft das auch auf Sie und Ihre Gedichte zu?

Draesner: Die Flaschenpostmetapher ist zurecht berühmt, weil man so schön über sie diskutieren kann. Man muss sich nur darüber im Klaren sein, dass es sich hier um eine Metapher handelt. Metaphern betonen immer nur einen Aspekt und blenden andere aus, so wie der Krug entweder auf dem Tisch steht oder sitzt. Wir sehen also in der Metapher immer richtig und falsch zugleich. Was an der Flaschenpostmetapher für mich gut passt: ich schreibe ein Gedicht, stecke es in ein Buch und schicke es hinaus in die weite Welt. Wo das Gedicht ankommt, weiß ich nicht. Ich sehe die Menschen nicht, die es lesen. Ich muss meine Texte wirklich abschicken und loslassen. Bei wem sie landen, ist dem Zufall überlassen, aber auch dem Interesse des Lesers. Da muss jemand schon am Strand wandern, er muss die Flasche sehen, er muss sich bücken, muss vielleicht ein Stück hinein in die Brandung, muss die Flasche öffnen, die Post lesen, davon angerührt sein, sich öffnen, reagieren.

Schulfernsehen onlineDiese Bereitschaft, sich von einem Gedicht finden zu lassen, ist für Sie offensichtlich ein sehr wichtiger Aspekt.

Draesner: Ja, ein zentraler Punkt. So weit passt die Flaschenpost-Metapher auch. Für Celan mag auch der klassische Kontext des Schiffbrüchigen, des auf einer fremden Insel Angelandeten, Verfolgten, gestimmt haben. Das ist nicht meine Situation. Ich sitze nicht als schiff- oder meinetwegen lebensbrüchige Dichterin auf einen fremden Insel, von der ich unbedingt weg kommen möchte Und ich schicke mit meinen Gedichte keine Hilferufe ab. Da trägt die Flaschenpost-Metapher nicht mehr. Die im übrigen auch ein recht männliches Paradigma ist normalerweise sitzen schiffbrüchige Männer auf einsamen Inseln sitzen und schicken ihre Flaschenpost aus, auch an Frauen. Brodsky inszeniert dieses Rollenspiel in einem langen Gedicht und macht sich einen Spaß aus genau dieser Situation.

Schulfernsehen onlineEin Spezialfall der Lyrik-Leser-Beziehung ist sicherlich das Interpretieren im Deutschunterricht. Dabei droht die Flaschenpost an einer Frage zu zerschellen, die so unweigerlich und so sicher kommt, wie das Amen in der Kirche. Die Frage nämlich, ob sich der Dichter das so gedacht hat, was man es jetzt heraus arbeiten soll.

Draesner: Da kann man ebenso unweigerlich und stoisch nur antworten: Es ist völlig egal, was sich der Dichter gedacht hat. Wenn der Dichter mit mir über das sprechen möchte, was er sich außerhalb des Gedichttextes denkt, wird er einen poetologischen Text oder eine Interpretation seines Gedichtes schreiben. Wenn ich ein Gedicht schreibe, dann geht es nicht darum, dass der Leser heraus finden soll, was ich mir dabei gedacht habe. Ich habe mir nämlich genau das dabei gedacht, was da steht. Und wenn das, was da steht, mehrere Bedeutungen hat, dann soll das so sein. Ich habe vielleicht nicht an jede einzelne dieser Verbindungen und Bedeutungen denken können, weil ja auch ich so zu sagen etwas geschenkt bekomme, das ich jetzt weiter gebe.

Schulfernsehen onlineIst das Gespräch über Dichtung dann eigentlich rationalisierbar oder muss man die Deutung immer dem jeweiligen Leser anheim zu stellen?

Draesner: Dieses Gespräch ist rationalisierbar, aber nicht über die Autorenintention. Sondern über das Gedicht selbst, seinen Sprachkörper, seine Worte, seine Struktur, sein Metrum, über all die formalen Dinge, die wir schon angesprochen haben. Es geht nicht um meine Absicht, es geht um diese konkrete Gestalt, die dieses Gedicht geworden ist. Die Gestalt aus diesen Klängen und Worten, ganz konkret.

Schulfernsehen onlineDas Lesen von Gedichten ist also tatsächlich lernbar?

Draesner: Es gibt tatsächlich eine Kunst der Interpretation, die man erlernen kann. Und durch diese Kunst der Interpretation gelingt es, die Vielfältigkeit eines Textes zum Sprechen zu bringen. Genau darin besteht ja auch die Aufgabe des Interpreten, der einen Text somit auch für andere öffnen kann. Das setzt allerdings auch die Bereitschaft voraus, die eingefahren Bahnen des eigenen Denkens auf der Suche nach etwas Neuem zu verlassen. Literatur kann das leisten, man muss es nur wagen und wollen. In diesen Zusammenhang passt auch der Moment des Anheimstellens und Loslassens. Anheimstellen heißt dabei, es jedem frei zu stellen, wo er ansetzen will. Der eine beginnt dort, der andere da. Jeder muss seinen eigenen Leseweg finden. Was sich aber dann entlang dieses Weges an Antworten entwickelt, ist anhand des Textes klar überprüfbar. Natürlich gibt es so etwas wie die weit abschweifenden oder privaten Assoziationen. Das ist jedem unbenommen, hat jedoch mit Interpretationskunst nichts zu tun. Auch in ihr gibt es dann nicht den einen richtigen Weg, sondern verschiedene mögliche Wege, die eben auch ganz unterschiedliche Aspekte eines Textes konturieren können. Sobald man mit anderen außerhalb des Bereichs rein privater Wahrnehmung über ein Gedicht sprechen möchte, ist die Überprüfbarkeit am Text allerdings unabdingbar.

Schulfernsehen onlineWie soll man Gedichte lesen? Wie lesen Sie Gedichte?

Draesner: Immer laut. Immer mehrmals. Wenn man Gedichte laut liest, hört man schon etwas anderes als bei der stummen Lektüre. Manchmal hilft es auch, sich ein Bild oder ein Wort aus dem Gedicht heraus zu nehmen und zu suchen, wo es eventuell wieder aufgegriffen wird und welche Rolle das spielt. Damit ergeben sich bereits erste Strukturmuster, das Gedicht zeigt bereits eine seiner Formen. Dazu muss man auch gar nicht viel wissen. Ein paar Grundfragen reichen aus, und schon ist man mitten in einem Text.

Schulfernsehen onlineDieser Leseweg, von dem Sie sprechen, führt also immer von außen, von der Gestalt nach innen, zum Gehalt?

Draesner: Ich setze an irgend einer Stelle an, das mag „Inhalt“ oder „Form“ sein, in einem Gedicht lassen sie sich sowieso nicht voneinander trennen, und lasse mich dann von diesem Text ins zunächst Fremde führen. Die Kunst der Interpretation besteht darin, sich auf die Spur des Unbekannten zu setzen, und nach dem zu fragen, was ich noch nicht weiß. Wer immer nur dem folgt, was er ohnehin schon kennt, wird nichts entdecken.

 

Fakten V

„Lauschen auf etwas wie einen Ton, der von innen und außen zugleich kommt.“

Schulfernsehen online: Ein interessantes Phänomen ist das Bekenntnis vieler Dichter, am Ende des Schreibprozesses quasi fremd vor dem eigenen Produkt zu stehen. Paul Celan hat das so formuliert: „Sobald das Gedicht wirklich da ist, wird der Dichter aus seiner ursprünglichen Mitwisserschaft wieder entlassen.“

Ulrike Draesner: Das kann ich gut verstehen. Wie alles, durchlaufen auch Gedichte einen Alterungsprozess. Wenn ein Gedicht fertig ist, muss ich es loslassen und wegschicken. Wenn ich eines dieser Gedichte nach Jahren wieder lese, erkenne ich es sehr wohl als meinen eigenen Text, zugleich ist aber auch klar, dass ich es heute nicht mehr schreiben könnte oder wollte. Es würde so, wie es ist, nicht mehr entstehen. Meine Gedichte haben sich mit diesem zeitlichen Abstand von mir abgenabelt, verkapselt, führen ein Eigenleben, sind Text geworden! Und daher bin ich diesen Gedichten nicht näher als jeder andere Leser. Die Entlassung aus der Mitwisserschaft beginnt mit dem Gefühl, dass ein Gedicht fertig ist. Diese Gefühl stellt sich manchmal sehr klar, sehr rasch ein, manchmal langsam und undeutlich ein. Wenn ein Gedicht fertig ist, probiere ich es aus, lese es vor, lasse es abhängen, und wenn es sich nicht bewährt: ab in den Papierkorb. Ein schlechtes Gedicht ist ein schlechtes Gedicht. Da hilft es auch nicht, dran rumzubasteln.

Schulfernsehen onlineKarl Krolow hat einmal gesagt, ein Gedicht wird nicht gemacht, es entsteht. Ist das so?

Draesner: Ja und nein. Ich kann verstehen, warum Krolow das sagt. Aber ich empfinde das als sehr pathetisch und aufgeladen, weil hier das alte Bild der Inspiration bemüht ist. Diesen inspirativen Moment braucht es, ja. Aber warum muss das immer gleich eine wer weiß woher wehende Eingebung oder gar der Musenkuss sein, den sich die männliche Welt zurechtgelegt hat. Gibt es etwa für mich einen Muserich, der mich küsst? Muserich klingt schon so hässlich, von dem würde ich mich in keinem Fall küssen lassen. Man sieht, dass in dieser Inspirationsbildlichkeit immer sehr viel Inszenierung und ein implizites Selbstbildnis steckt. Wenn wir das einmal abziehen und ernsthaft danach fragen wollen, was diesen inspirativen Anteil ausmacht, versteht man, wieso es zu so etwas wie der Musenbildlichkeit als Notkonstruktion gekommen ist. Es ist nämlich notorisch schwierig, diesen Moment zu greifen und in Worte zu fassen. Ganz verschiedenes muss zusammen kommen. So etwas wie Handwerk, also „Machen“, gehört auch dazu. Handwerk bedeutet, dass es sich ganz ohne Geheimnis beim Gedichteschreiben in Teilen auch um eine erworbene Fähigkeit handelt. So wie bei einem Schreiner, der an seiner Werkbank auch nicht mehr über jeden Handgriff nachdenkt. Das hat er gelernt, und das geht in den Körper über. Oder etwa das Fahrradfahren: man muss es mühsam lernen. Aber dann nimmt man sein Rad und fährt einfach. Der Körper speichert die notwendigen Fähigkeiten, das Wissen. So ist das auch mit dem Lernen von lyrischen Formen oder Rhythmen. Ich sitze nicht da und denke, dass ich jetzt noch fünf Zeilen Trochäus oder Jambus schnitzen muss. Wenn es ein Trochäus sein soll, kommt der Trochäus von selbst. Das ist dann auch das Zeichen dafür, dass ein bestimmtes Stilmittel an einer bestimmten Stelle richtig ist. Gedichte haben immer etwas sowohl mit Gefühl als auch mit Gedanken und Konzepten zu tun. Es ist wichtig, dass diese beiden Ebenen da sind und auch zusammen kommen. Und die Stilmittel wachsen aus dem, was ich sagen möchte. Sie verschmelzen miteinander in oder als etwas, das immer zugleich Form und Inhalt ist. Und dieser Moment, dass da etwas aus diesem inneren Ziellosen entsteht, das ist der Moment, den man eben nicht machen kann. Das ist eben auch ein Geschenk an mich. Darum würde ich das Celansche Wort vom Gedicht als Geschenk an den Leser auch auf die andere Seite hin ausweiten. Ich würde sagen: Das Gedicht war erst einmal auch ein Geschenk an den Autor.

Schulfernsehen onlineIn wie weit sind Sie Herrin dieses Entstehungsprozesses?

Draesner: Ich bin, mit aller Vorsicht gesagt, vielleicht eher so etwas wie ein Medium dieses Prozesses. Ich sitze da zwar nicht in Trance, aber ich auch nicht unbedingt als die Bestimmende. Ich bin vielleicht ein aufmerksames Schweifen. Ich versuche mich von dem leiten zu lassen, was sich in diesem Schweifen als Sprache verdichtet, von dem, was aus der Sprache selbst kommt, aus ihren Strukturen, ihren Klang- und Assonanzfeldern, aus ihrer Musikalität, ihrer Fülle, ihrer Kargheit, bisweilen aus ihrer Armut, aus ihrer Bildlichkeit, aus ihrer Metaphorik und aus ihrer Idiomatik. Manchmal führt mich dieses Schweifen auch in Sackgassen, an Bruchkanten, wo es willentlich nicht weiter geht. Das kann ich dann nicht beherrschen, da hilft kein Basteln und erst recht kein Reimlexikon. Da hilft nichts als aufhören. Vielleicht finde ich dann nach einiger Zeit doch noch einen Weg, diesen ersten auslösenden Impuls weiter zu denken, vielleicht geht es aber nie weiter.

Schulfernsehen onlineDa gibt in einem Gedicht, von dem ich momentan weder Titel noch Autor weiß, eine relativ pathetische Formulierung dieses Verhältnisses zwischen Dichter und Text. Ich glaube sie lautet: „Nicht anbefehlbar ist die Stimme des Dichters“. Wie bewusst, wie überprüfbar, wie rationalisierbar ist dieser nicht anbefehlbare lyrische Prozess für Sie?

Draesner: Das ist tatsächlich etwas dick aufgetragen. Aber es ist schon so, dass sich dieser Prozess in gewisser Weise entzieht. Anschaulich wird es vielleicht, wenn man daran denkt, wie man eine Zeichnung macht – ein weißes Blatt Papier nimmt, sich ein Thema vorstellt und dann loszeichnet. Man muss es wirklich einfach laufen lassen. Was dann dabei heraus kommt, ist womöglich etwas ganz anderes als das, was man sich anfangs gedacht hat. Und das passiert bei Gedichten auch. Da setzt sich etwas. Da meldet sich die eigene Stimme, die man immer wieder neu suchen muss. Manchmal findet sie sich, und man staunt selbst darüber. Erstaunlich ist vor allem immer wieder auch die Diskrepanz zwischen dem Innen- und dem Außenklang. Der Unterschied, wie das für mich klingt, und dem, wie es für andere klingt. Da empfinden dann andere Stellen, die für mich ganz neu sind, als absolut unauffällig. Umgekehrt geschieht das ebenso: ich empfinde etwas als völlig normal, was andere aufhorchen lässt. Manchmal hören eben andere die Eigenheit, mit der und wie man Dinge wahrnimmt, besser als man selbst.

Schulfernsehen onlineDas deutet auch wieder auf diese Entlassung aus der Mitwisserschaft.

Draesner: Ja. Zum einen, weil es wirklich nur zu einem geringen Teil rational kontrollierbar ist, was beim Gedichteschreiben alles mitspielt. Das ist auch exakt der Punkt, warum man Gedichte eben nicht vom Computer schreiben lassen kann. Klar kann man ihn so programmieren, dass er tolle Sprachspiele fabriziert, ein dadaistisches Gedicht ausspuckt, aber es fehlt immer spürbar die Anwesenheit eins lebendigen Wesens, das diesen Text mit Lebenserfahrung und gelebtem Wissen durch sich hat hindurch laufen lassen.

Schulfernsehen onlineIst damit die angestaubte Metapher vom Musenkuss nicht doch noch zu retten?

Draesner: Ich weiß nicht, ob man den Kuss unbedingt dazu braucht. Ich habe eher das Bild eines Übersetzungsvorganges im Kopf: Ich nehme etwas wahr, spüre etwas, wofür wir eben keinen eindeutigen Begriff und kein eindeutiges Wort haben. Und ich versuche, das in Sprache zu fassen, so dass ich mich mit anderen darüber verständigen kann, damit etwas in ihnen angestoßen wird. Dazu brauche ich diese bestimmte sprachliche Form. Das Gedicht ist ein Gefäß: ich übersetze etwas in die Sprache, die wir alle benutzen, aber so, dass die Eigenheit des Wahrgenommen darin hervor scheint. Mag sein, dass einem der Kopf schwimmt. Aber auf eine ganz eigene Art, offen und fest zugleich, hellwach, konzentriert – und lauschend, auf etwas wie eine Stimme, vielleicht nur einen Ton, der von innen und außen zugleich kommt.

Schulfernsehen onlineFrau Draesner, vielen Dank für dieses Gespräch!

 

Christian Schlösser im Gespräch mit Ulrike Draesner.
(Das Gespräch wurde am 16. April 2005 in Oxford am Rande einer von Karen Leeder am New College organisierten international besetzten Fachtagung zur Lyrik des 20. Jahrhunderts geführt.)

„Als ob“
Ulrike Draesner im Interview mit sich selbst über ihr Leben als Schriftstellerin und als Professorin für literarisches Schreiben.

Auf einen Kaffee mit… Ulrike Draesner

 

 

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Anton G. Leitner interviewt die Schriftstellerin Ulrike Draesner – Werk, Wirkung, Wirklichkeit 4.1

 

Anton G. Leitner interviewt die Schriftstellerin Ulrike Draesner – Werk, Wirkung, Wirklichkeit 4.2

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