Unbekannte Nähe

Unbekannte Nähe

NICHTS IST UNMÖGLICH

Die weisen Gelehrten wohnen in einer Grotte.
Mit durchsichtigem Messer häutet der eine eine
aaaaaFlamme,
der andere kopiert die Farbe der Finsternis
und zusammen stellen sie das hastige Wasser fest.

Sie haben wenig Zeit. Ihr Auftrag ist wichtig.
Sie müssen noch den Ursprung des Schreies finden,
dessen Echo sie nun schon kilometerlang
verfolgen und registrieren
mit rückwirkender Kraft.

Acht Stunden arbeiten sie hart.
Sie essen eine Fledermaus und ruhen.
Ihr Schlaf wird erschwert durch fallende Steine
und manchmal erfrieren ihre Zehen
oder bleiben die Zeiger ihres Manometers
im zähen Glyzerin stehen.

Aber unverdrossen arbeiten sie weiter.
Man darf mit Sicherheit voraussetzen
daß noch ziemlich viel ans Licht kommt.

Paul Snoek
Übersetzt von Maria Csollány

 

 

 

Einleitung

Schon bei der Verwendung des Begriffs „niederländische Lyrik“ erhebt sich eine Frage, die besonders für ausländische Leser möglichst rasch und eindeutig beantwortet werden sollte: die Frage nach den Unterschieden oder Gemeinsamkeiten der niederländischen und flämischen Lyrik, oder allgemeiner der niederländisch-sprachigen Literatur in den Niederlanden und in Belgien.
Die Antwort kann aber nicht eindeutig sein, da es die Wirklichkeit ebensowenig ist. Man könnte die niederländische Lyrik als ein System beschreiben, das aus zwei Teilsystemen besteht, die sich zwar überlappen, die jedoch nicht identisch sind. Zwischen ganzen Bereichen gibt es kaum Kontakte. Das gilt sowohl für das Verlagswesen als auch für die Literaturkritik, für literarische Zeitschriften usw. Sogar die herrschenden Auffassungen von Lyrik und die literaturgeschichtlichen Entwicklungen entsprechen einander nicht genau. Diese Erscheinung ist natürlich auf ein ganzes Bündel politischer, wirtschaftlicher, geographischer, religiöser und historischer Ursachen zurückzuführen. Wie dem auch sei, die Folge davon ist, daß Rang, Bedeutung und Wertschätzung eines beliebigen niederländischen oder flämischen Dichters stark wechseln können, je nachdem ob sein Werk in den Niederlanden oder in Flandern rezipiert wird. Und da das tonangebende Zentrum des gesamten Systems in den Niederlanden liegt, ist die Position des flämischen Dichters ziemlich ungünstig. Regelmäßig auftauchende Mißverständnisse, Frustrationen, Gefühle des Unverstandenseins und gegenseitige Beschuldigungen sind die Folgen.
Einer der wichtigsten Gründe für diese Mißverständnisse ist die Tatsache, daß in den Niederlanden, ungeachtet der historischen Aufeinanderfolge sehr unterschiedlicher Poetiken, einzelne Komponenten sozusagen konstant bleiben: eine Vorliebe für Schlichtheit, Distanz, Intellekt, Konstruktion und Klarheit. Demgegenüber neigt der flämische Dichter offenbar mehr zu Expressivität, Emotionalität und Intuition, und hat auch mehr Sinn für Ausschmückung und formale Lockerheit. Hier ist natürlich nur von Tendenzen die Rede, die sich jedoch ziemlich leicht nachweisen lassen, wenn man parallele geschichtliche Entwicklungen miteinander vergleicht. Im nachstehenden Überblick werde ich deshalb ständig darauf zurückkommen…

Hugo Brems, Aus dem Vorwort

Werkstattbericht

„Glaubt ihr denn, daß dabei etwas Vernünftiges herauskommt?“ fragte mich auf der Buchmesse ein ausländischer Kollege. „Ist Übersetzen, ein so persönlicher Vorgang des Nachvollziehens und Nach-Denkens, überhaupt in einer Gruppe möglich?“
Das Europäische Übersetzer-Kollegium in Straelen bietet – unter vielem anderen – Übersetzern die Möglichkeit, sich zu gemeinsamen Arbeitsprojekten zu treffen. Hier ging es um ein Experiment, nämlich den Versuch, die Endfassungen von übersetzten Gedichten in einer Gruppe zu erarbeiten. Mehrere Übersetzer aus dem Niederländischen wurden eingeladen, sich daran zu beteiligen.
Martin Mooij, der jährlich in Rotterdam das Poesie-Festival „poetry international“ mitveranstaltet, stellte einen Grundstock von 65 Gedichten zusammen. Wir verteilten sie untereinander und brachten die Übersetzungen zum ersten Treffen mit; der „so persönliche Vorgang“ des Herüberholens ins Deutsche hatte stattgefunden, und das einstweilige Ergebnis sollte nun im Kreis kritischer Kollegen vorgelesen und verteidigt werden. Jetzt kam es darauf an, ob eine Tischrunde von Individualisten sich über die optimale Form einer Gedichtsübersetzung einig werden kann.
Im Verlauf der gemeinsamen Arbeit nahmen wir weitere Gedichte hinzu, teils auf Empfehlung der Amsterdamer Stiftung zur Förderung von Übersetzungen niederländischer Literatur, teils auch weil jeder Übersetzer noch einen oder mehrere Dichter „einbrachte“, die nicht oder seiner Meinung nach noch nicht genügend berücksichtigt waren. Bei der Auswahl stand der Gedanke im Vordergrund, einen möglichst umfassenden Überblick über die moderne niederländische Lyrik zu geben. Um eine Zäsur zu setzen, nahmen wir nur Dichter auf, die in diesem Jahrhundert geboren sind.
Insgesamt haben wir über 300 Gedichte übersetzt und besprochen, von denen jetzt 168 in die Anthologie aufgenommen sind. Einige wurden abgelehnt, weil sie in der Übersetzung zu vieles eingebüßt hatten, andere, weil sie so viele Hinweise auf spezifisch Niederländisches enthielten, daß sie nur durch eine lange Reihe von Fußnoten für deutsche Leser verständlich geworden wären. Einerseits wurde oft heftig über die poetische Qualität der vorgeschlagenen Gedichte diskutiert, andererseits sollten einzelne „Lieblingsautoren“ nicht mit zu vielen Gedichten vertreten sein. Schließlich einigten wir uns darauf, höchstens sechs Gedichte eines Autors aufzunehmen.
Alle Übersetzungen der in dieser Anthologie enthaltenen Gedichte wurden von der Gruppe gemeinsam bearbeitet; sie können im Grunde keinem einzelnen Übersetzer zugeordnet werden. Die ursprünglichen Fassungen wurden in der Gruppe oft so nachhaltig verändert, daß der unterzeichnete Übersetzer nicht mehr der alleinige Urheber ist. Derselbe Übersetzer hat aber seinerseits andere Gedichte in ähnlicher Weise lektoriert und beeinflußt. Wir kamen deshalb überein, den Namen desjenigen Übersetzers anzugeben, der als erster oder am intensivsten an der Übertragung gearbeitet hat…

Maria Csollány, Aus dem Nachwort

 

Die repräsentative Auswahl

zeigt Tendenzen, Schulen und Gruppierungen der niederländischen und flämischen Lyrik zwischen 1940 und 1980.
Hochinteressant, wie nach der surrealistischen Revolution der ‚Vijftigers‘, den Sprachspielen in den 60er und der gesellschaftlich engagierten Lyrik in den späten 60er Jahren junge Dichter in den 70er Jahren plötzlich wieder zu längst tot geglaubten klassischen Formen zurückkehren. NACHBARSPRACHE NIEDERLÄNDISCH.

Straelener Manuskripte Verlag, Ankündigung, 1985

 

Von Lesern und Rezensenten weitestgehend unbemerkt

ist 1985 ein Buch erschienen, das stärkere Beachtung verdient hätte. Denn hinter dem Titel „Unbekannte Nähe. Moderne niederländische Lyrik bis 1980“ verbirgt sich etwas für deutsche Verhältnisse ganz und gar Ungewöhnliches: 168 Gedichte von 73 zum größten Teil noch lebenden Autoren und Autorinnen aus Belgien und den Niederlanden in der Originalfassung und der deutschen Übersetzung. Seit mehr als 20 Jahren liegt damit erstmals wieder eine Anthologie niederländischer Lyrik auf dem deutschen Markt vor, die zudem den Vorzug hat, durch Umfang und Auswahl einen repräsentativen Überblick über die zeitgenössische Poesie in Belgien und den Niederlanden zu ermöglichen.
Einen einzelnen Übersetzer hätte ein solches Mammut-Unternehmen wahrscheinlich überfordert, verantwortlich zeichnet denn auch ein Übersetzerteam. Innerhalb von zwei Jahren haben sieben deutsche Übersetzer in Zusammenarbeit mit einer niederländischen Kollegin und zwei niederländischsprachigen Lyrikern mehr als 300 (!) Gedichte zunächst in Einzelarbeit übertragen und anschließend bei acht Treffen gemeinsam überarbeitet. Ermöglicht wurde dieses Experiment vom Europäischen Übersetzer-Kollegium in Straelen, das sich in seiner Verlagsarbeit in der Reihe Straelener Manuskripte besonders der schwierigen Gattung Lyrik widmet.
Aufgenommen wurden Gedichte aus vier Jahrzehnten. Die Auswahl beginnt mit einigen Beispielen vom Ende der 30er und Beginn der 40er Jahre und endet um 1980. Der Leser lernt so die verschiedenen Tendenzen, Schulen und Gruppierungen ebenso wie Randfiguren kennen, die die Entwicklung der niederländischen Poesie in den vergangenen vier Jahrzehnten beeinflusst und geprägt haben. Nicht zufällig wird die Sammlung mit dem „Lied der achtzehn Toten“ eröffnet, das der Journalist und Widerstandskämpfer Jan Campert (gest. 1943 im KZ Neuengamme) 1941 anlässlich des Rotterdamer ‚Geuzenproces‘ geschrieben hat. Die Zäsur, die der II. Weltkrieg und die nationalsozialistische Schreckensherrschaft für die niederländische Literatur darstellen, kann dem Leser kaum deutlicher vor Augen geführt werden. Sie bilden die Voraussetzung für jene wichtige, und in der Sammlung auch ausführlich dokumentierte, neue Dichtung der ‚Vijftigers‘, mit der die Lyrik in den Niederlanden den Anschluß an die europäische Avantgarde gewonnen hat. Zu den neuesten Beispielen zählt das Gedicht „Neutronen“ von Wim de Vries, das Kriegsgefahr und Menschenverachtung, wie sie sich uns seit den 70er Jahren darbieten, evoziert. Die Form der Anthologie bietet dem Leser so die Möglichkeit, thematische Konstanten der unmittelbaren literarischen – und gesellschaftlichen – Vergangenheit zu entdecken und gleichzeitig ihre typische Veränderung aufzuspüren. Dies gilt natürlich auch in formaler Hinsicht. So ist es hochinteressant zu sehen, wie nach der surrealistischen Revolution der ‚Vijftigers‘, den Sprachspielen in den 60er Jahren junge Dichter in den 70er Jahren plötzlich wieder zu längst tot geglaubten klassischen Formen zurückkehren. Wie Gerrit Achterberg in den 40er Jahren in seinem Gedicht „Die Putzfrau“ benutzt auch Jan Kal für seine Liebeserklärung an die Stadt Amsterdam die Form des Sonetts. Der Unterschied im ‚Ton‘ macht die seitdem zurückgelegte Wegstrecke freilich deutlich.
Problematisch wie bei jeder Anthologie ist die Anordnung der Gedichte. Als Ordnungsprinzip wurde eine chronologische Reihenfolge gewählt, und zwar entsprechend dem Geburtsjahr der Autoren. Im großen und ganzen entsteht auf diese Weise ein ungefähres Abbild der verschiedenen Lyrik-‚Generationen‘ seit dem II. Weltkrieg, im einzelnen aber ist dieses Prinzip einer inneren Gliederung abträglich. Statt Zusammenhänge zu verdeutlichen, führt es zu einer isolierten Sicht des einzelnen Dichters und seines Werks. Diese allerdings muß bei durchschnittlich drei Gedichten pro Autor notwendig fragmentarisch bleiben. Zweifelhaft wird der Sinn dieser chronologischen Präsentation zumal dann, wenn die Gedichte aus ganz unterschiedlichen Schaffens- und Lebensperioden kommentarlos nebeneinander gestellt werden. Die Angabe der Erstpublikation bei jedem Gedicht hätte hier zumindest für mehr Transparenz gesorgt, denn auch die Quellenhinweise im Autorenverzeichnis bieten dem Leser keine Orientierungshilfe, da oft nur Gesamtausgaben angegeben werden.
Doch auch für dieses Manko bietet die vorliegende Anthologie selbst ein Gegenmittel. Das ausführliche Vorwort von Hugo Brems, Hochschullehrer in Leuven und renommierter Lyrikspezialist, ist nicht weniger als eine kurz gefaßte Geschichte der niederländischen Lyrik seit der unmittelbaren Vorkriegszeit, die auch demjenigen, der sich bislang nicht eingehender mit ihr beschäftigt hat, die verborgenen Zusammenhänge erhellt.
Über die ‚Richtigkeit‘ der Übersetzungen kann in vielen Fällen sicherlich gestritten werden. Maria Csollánys Werkstattbericht, in dem sie u.a. auf das Zustandekommen und die Auswahlkriterien der Anthologie näher eingeht, dokumentiert, daß auch in der Übersetzergruppe durchaus gestritten worden ist. Die Gegenüberstellung von Original und Übersetzung sollte man daher ruhig als Aufforderung zum Streiten, d.h. zum Vergleichen, Nachfragen und Suchen anderer Vorschläge verstehen. Sie bietet nicht zuletzt die Möglichkeit, sich mit dem Wortkunstwerk Gedicht wirklich intensiv auseinanderzusetzen.

Fazit: für jeden, der nicht bereits eine mehrbändige Sammlung niederländischer Lyrik im Bücherregal hat, ist dieser Band, der Einstieg und Vertiefung möglich macht, unentbehrlich.

Andrea Grewe, Nachbarsprache Niederländisch, Februar 1988

1 Antwort : Unbekannte Nähe”

  1. Michael sagt:

    Bei einem Besuch in Maastricht war deutlich etwas zu spüren von der Wertschätzung, die Poesie in den Niederlanden genießt. Glückliches Land – bei allen kritischen Anfragen an seine politische Situation.

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