Unica Zürn: Gesamtausgabe, Band 1 – Anagramme

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Unica Zürn: Gesamtausgabe, Band 1 – Anagramme

Unica Zürn-Gesamtausgabe, Band 1 – Anagramme

DER EINGEBILDETE WAHNSINN

Deine Wege ins Hinterland B.
Da regnet es blind hinein. We-
Weh! Deliria sind Gebete. N-N-N-
Der Wind blaest. Eingehen in
wahnsinnige Bilder endete
in Leid. Eng ist der Wahn. Eben
Steigen, dann Leiden. Hib! Wer?
Er! Wann? Nie! Eingebildet-H-D-S?
Was? Rien! Elend beginnt: DEHI-
DEHI, bewegtes Deliria-N-N-N-N-
Endet das nie? Nein! G-B-L-I-H! Wer?
Der eingebildete Wahnsinn.

 

 

 

Bemerkungen zur Ausgabe

Edition
Die vorliegende Ausgabe entstand nach Durchsicht und Vergleich aller vorhandenen Quellen: Handschriften, Typoskripte und bereits vorliegende Druckfassungen. Handschriftliche Fassungen wurden von Zürn in Heften gesammelt, manchmal mit Anmerkungen zur Entstehung und kleinen Zeichnungen versehen. Einzelne Seiten sind mit Collagen, Bildern aus Illustrierten und Zeitungsausschnitten beklebt. Das Heft Eisenbahn, so benannt nach einer auf die vordere Umschlagseite geklebten Ansichtskarte, enthält Zeichnungen und 44 Anagramme. Eine Aufschrift datiert die Entstehungszeit mit 1960, als Entstehungsorte sind Palavas-les-flots, Paris, Berlin angegeben. Weitere handschriftliche Anagramme finden sich im Rosa Heft, entstanden Anfang April 1963, es sind dies Varianten von älteren 21 Anagrammen, die sich in Zeichensetzung und Zeilenbruch von den Vorlagen unterscheiden. Das Heft Orakel und Spektakel enthält 18 handgeschriebene Anagramme in Zeichnungen eingefügt. Es ist mit 1963-64 datiert, als Entstehungsorte sind Paris und Ile de Ré angeführt. Mit den Anagrammsammlungen in Heften verfolgte Zürn wohl die Absicht, in sich geschlossene ,Bücher‘ als Präsentationsform ihrer Werke herzustellen, die sie auch fortlaufend numerierte. Eine Sonderform stellt die Sammlung Serment Conjuration Evocation dar. Hier sind 3 Anagramme auf Kartontafeln handgeschrieben. Die Widmung „Hermann Melville, siehe auch das Buch von Jean Giono“, sowie der Titel verweisen auf eine persönliche Assoziation Zürns, die sie später im „Mann im Jasmin“ beschreibt: Hermann Melville „hat seinen Moby Dick begonnen, nachdem ihm die ,irische Dame in der Postkutsche auf der Fahrt durch England‘ begegnete… Sie hat es nur zu gerne geglaubt, daß diese Begegnung, die sich nicht wiederholt hat, das größte Werk von Hermann Melville ausgelöst holt.“ Die von der Autorin letztlich gewählte Fassung der Anagramme ist in Form eines nahezu vollständigen maschinenschriftlichen Konvoluts vorhanden: ein Anagramm pro Seite, von Zürn mit Ortsangabe, Entstehungszeit und manchmal auch mit einer Anmerkung versehen. Die Typoskripte unterscheiden sich von den handschriftlichen Fassungen meist in Variationen von Groß- und Kleinschreibung, Worttrennungen und Zeichensetzung. Diese letzte Bearbeitungsstufe der Anagramme wurde nun als Druckvorlage der Ausgabe verwendet; die von Zürn vorgegebene Ordnung nach Ort, Datum und innerhalb dieser Bestimmung nach dem Alphabet wurde übernommen, ebenso ihre Kommentare. Fehlten die maschinenschriftlichen Fassungen, wurde im Vergleich der handgeschriebenen Anagramme eine entsprechende Fassung gewählt. Die teilweise eigenwillige Schreibweise und Interpunktion (vor allem beim Apostroph) wurden beibehalten. Im Fall der „Hexentexte“, 10 Anagramme mit Zeichnungen, die 1954 von der Galerie Springer, Berlin, veröffentlicht wurden, fehlen Originale und Datierung. Entstanden sind diese Anagramme wahrscheinlich im Zeitraum von 1953-54. Zusätzliche Anmerkungen, die an den Typoskripten nicht aufscheinen, sind im Anhang vermerkt. Die geringfügigen Varianten der einzelnen Textfassungen, die meist bloß in Schreibung und Interpunktion voneinander abweichen, finden sich ebenfalls im Apparat. Bis auf wenige Ausnahmen in Kunstzeitschriften, der Publikation Hexentexte wie der Sammlung Oracles et Spectacles, blieb der Großteil der Anagramme Zürns zu ihren Lebzeiten unveröffentlicht.

Verfahren
Über die Arbeitsmethode Zürns gibt ein Kalender Aufschluß. Dieses „Strichheft“ zeigt, daß Zürn, anstatt Buchstabenkärtchen oder bewegliche Lettern zu verwenden, sich nicht vom Papier gelöst hat. Die Ausgangszeile wurde mit jedem Versuch angeschrieben, dann die Buchstaben der gefundenen Worte ausgestrichen. Gelang keine vollständige neue Zeile, mußte Zürn den Vorgang wiederholen: Schreibung der Zeile, Streichung usf. Um z.B. die 13 Zeilen des Anagramms „Das Leben ein schlechter Traum“ zu erstellen, brauchte es 110 Ansätze. Die Ausgangszeilen der Anagramme verweisen als Versatzstücke des Alltags, wie Sprüche, Sprichwörter, Ortsangaben, Hinweise, Verbote, Fragen, auf die soziale Umgebung. Auffallend ist, daß Zürn – entgegen der verbreitet geübten Praxis von Namensanagrammen – nur ein einziges, aus dem Namen ihres Sohnes Christian Laupenmühlen, verfaßte. Stücke oder ganze Zeilen aus Gedichten verwendete Zürn, wenn eine persönliche Beziehung zum Dichter bestanden hatte, wie zu Henri Michaux und Hans Arp. Keine Ausgangszeile ist weit hergeholt, sondern sie mußte durchdrungen sein vom persönlichen Bezug zum Erleben der Autorin. Nur so konnte sich die Technik der Beschränkung, im Finden neuer Bedeutungen lohnen. Die Suche erfolgte von oben nach unten, die Assoziationen und Weiterführungen verfahren Zeile für Zeile. Einzelne Wortteile wurden rasch ausgemacht, in die potentielle Zeile übernommen. Der Rest stellte Material für die Gestaltung weiterer sinnhafter Elemente, die sich zum schon Gefundenen fügen. Manchmal wurde ein Versuch auch abrupt aufgegeben, ein neuer Anfang gesetzt, manchmal nahm Zürn den Rest der vorhergehenden Zeile in die nächste, neu angeschriebene. Paßten die gefundenen Teile als Satz nicht zusammen, wurden sie verworfen und nicht später noch eingebaut. Vielmehr arbeitet das Gedächtnis aus der Wiederkehr bestimmter Teile, insistiert auf spezieller subjektiver Auswahl. Einzelne Sinnstücke wurden beharrlich fortgeführt, unbedingt sollten sie im Anagramm untergebracht werden, doch wenn ihre Umgebung, das Restmaterial nach vielfachen Versuchen nicht ,aufging‘, mußten sie verworfen werden. Die Arbeit eines Tages vielleicht war so vergeblich. Zwei Bewegungen der Produktion sind zu beobachten: Bei Anagrammen, die vor allem lautlich assoziieren, ist es einfacher, das Gebot der Richtigkeit zu erfüllen, hier werden sich ausbildende Syntagmen leichter aufgegeben. Anagramme, die eine Aussage beabsichtigen, geraten in den Sog, unbedingt Sinn erzeugen zu müssen. Hier schleichen sich oft kleine Fehler ein, Flüchtigkeiten, die sich aber zum Nutzen des Ergebnisses für die Autorin auswirken. Meist wird die zeitliche Folge der Erzeugung, die räumliche des Übungsblattes beibehalten, es gibt kaum Sprünge. Sogar die Auswahl bestimmt sich weitgehend innerhalb des Prozesses, nur eine geringfügige Vertauschung von Buchstaben wird zum Schluß noch vorgenommen.

Textgeschichte
Unica Zürn verfaßte die Anagramme im Zeitraum von 1954-64. Ihre ersten Arbeiten entstanden, angeregt von Hans Bellmer, noch in Berlin 1953, kurz nach der Begegnung der beiden. Hans Bellmer, in Paris lebend, war zum Anlaß einer Ausstellung seiner Werke nach Berlin gekommen. Er arbeitete zu dieser Zeit an der Fertigstellung seines Buches Die Puppe, in dem er sich unter anderem mit dem Anagramm beschäftigt. Seine Suche nach Analogien zwischen dem Unbewußten des Körpers und in der Sprache verborgenen Manifestationen des Psychischen, führte ihn zu einer anagrammatischen Bearbeitung des weiblichen Körpers, fiktiver Körper, der in Zerlegung, Vertauschung, Kombination seiner einzelnen Glieder das Begehren freisetzen und unendlich steigern könnte: „Der Körper, er gleicht einem Satz −, der uns einzuladen scheint, ihn bis in seine Buchstaben zu zergliedern, damit sich in einer endlosen Reihe von Anagrammen aufs Neue fügt, was er in Wahrheit enthält.“ Die Arbeit Unica Zürns an den Anagrammen erforderte höchste Konzentration bei der oft tagelangen Suche nach Sätzen in Sätzen. Im „Mann im Jasmin“ bringt sie die Mühe dieser Beschäftigung mit ihren psychischen Krisen in Zusammenhang: „Das alte gefährliche Fieber der Anagramme hat sie gepackt. Eines nach dem anderen entsteht. Gefährlich für sie, weil sie sich wieder vollkommen gegen ihre Umwelt abschließt. Eine neue Krise, von ihr nicht bemerkt, kommt auf sie zu. Keine Halluzinationen, nichts Außergewöhnliches, aber man bemerkt eine Veränderung an ihr. Sie schläft und ißt nicht mehr, sie will frei sein. Sie erklärt, allein leben zu wollen. Dieser Wunsch, der jedesmal zu einer Katastrophe für sie führt und dessen Folgen sie kennt, aber im kritischen Augenblick wieder vergißt.“ Das Verfassen von Anagrammen wurde immer wieder zum gefahrvollen Unternehmen; die Zeit ab 1960 verbrachte Zürn mit Unterbrechungen in der psychiatrischen Klinik St. Anne. 1963, nach ihrer Entlassung, begann sie wieder die Arbeit an Anagrammen. Diese Texte der letzten Phase sind von zunehmender Auflösung der formalen Strenge bestimmt. Ungenauigkeiten, Fehler treten auf, die Konzentration der Form ließ sich nicht mehr wie vorher halten. Sie beschäftigte sich nun verstärkt mit der Verbindung von Text und Bild, arbeitete an der Weiterverwendung bereits gefundener Anagramme und versuchte mit dem Prosatext „Im Hinterhalt“, neue, erweiterte Schreibweisen zu erarbeiten. 1964 entstanden die letzten Anagramme, danach gab Zürn diese Form endgültig auf. Immer wieder aber stellte sie Bezüge zwischen Anagrammen und späteren Prosatexten her: einige Stücke werden in den „Mann im Jasmin“ eingearbeitet, am offensichtlichsten zeigt sich die Absicht der Verbindung am Text „Trompeten von Jericho“, wo Ablauf und Zusammenhang der Anagramme die Gestaltung der Prosa vorgeben. Das Rätsel Anagramm wird als Rätsel des Lebens von Unica Zürn befragt, die Geschlossenheit der Form sucht in der Prosa Erweiterung und Aufschluß. Für Zürn war das Anagramm Auseinandersetzung mit Gegebenheiten, die sich unter ihrem Namen fanden, Beschwörung, Orakel, Zitat des Lebens: „Das brennt, das regt sich, das bildet sich und kommt von Zeit zu Zeit zurück – in einer Zeichnung oder in einem Anagramm, ausgegossen und umgeformt.“

Sabe Scholl, Aus dem Nachwort

 

Beiträge zu diesem Buch:

Birgit Bosold: Der Sprung aus dem Sinn.
die tageszeitung, 18.2.1989

Ilma Rakusa: Das männliche Wesen war ihr so unbegreiflich wie das weibliche Wesen.
Die Weltwoche, 23.3.1989

Ursula Krechel: Kreis und Krise.
Süddeutsche Zeitung, 25./26./ 27.3.1989

 

„ernst ist der Name ICH – es ist Rache“

Unica Zürn (1916–1970)

Zürn! – das heißt, sei heftig, unwillig, aufwallend, ärgernd. Deine Zorn- und Racheader sei immer geschwollen. Und also stilisiert sie ihr ICH: ernst und rächend.
Unica Zürn setzt ihren Ernst gegen die Schlampigkeit der Mutter, gegen die Nonchalance des Vaters, gegen die jungenhaften Einfälle des Bruders in den kleinen Körper der Schwester. Zürnt der Name ist Befehl, der Name ist Programm, Vorschrift vor der schriftlichen Darlegung in ihren Dichtungen, die Offenlegungen sind. Durch die Eröffnungen sehen wir in eine tief gequälte Kinderseele, in Überwältigungen und Vergewaltigungen, in den sich entwickelnden Schmerz der Lust und die Lust und Überlust des Nicht-zu- Verschmerzenden.
Indem ich Unica Zürn zu beschreiben versuche, bleibt mir nichts anderes, als ihrem Schreiben, ihrem wunderwahnsinnigschönen Schreiben nachzufahren. Den Spuren der Zürn’schen Dichtung zu folgen ist dasselbe, wie dem Leben dieser Dichterin auf die Spur zu kommen; Leben heißt in ihrem Falle immer Innenleben. Sie hat es, angetrieben von ihrem Genie, ihrem feurigen Schöpfergeist, zur Sprache gebracht in allen ihren Schriften. Alle sind somit autobiographisch zu lesen, gerade auch die bizarren, im ersten Lesen sich nicht erschließenden:

DER EINGEBILDETE WAHNSINN

Deine Wege ins Hinterland B.
Da regnet es blind hinein. We-
Weh! Deliria sind Gebete. N-N-N-
Der Wind blaest. Eingehen in
wahnsinnige Bilder endete
in Leid. Eng ist der Wahn. Eben
Steigen, dann Leiden. Hib! Wer?
Er! Wann? Nie! Eingebildet-H-D-S?
Was? Rien! Elend beginnt DEHI-
DEHI, bewegtes Deliria-N-N-N-N-
Endet das nie? Nein! G-B-L-I-H! Wer?
Der eingebildete Wahnsinn.

Der eingebildete Wahnsinn ist, gemäß dem Sprachgebrauch der Dichterin, nicht als Vorstellung von Wahnsinn zu deuten, die ohne realen Gegenstand, als grundlose Annahme existierte. Auch ist dieser eingebildete Wahnsinn nicht mit der Selbstüberschätzung oder Wichtigtuerei des sprichwörtlichen eingebildeten Kranken abzutun. Unica Zürn nimmt die Wörter ernst und wörtlich; und also heißt bei ihr Einbildung wieder, was es früher, vor unserer Zeit bedeutete, nämlich „in die Seele hineinbilden“. Es ist gerade die Einbildungskraft, die vis imaginationis, die Zürns innere Bilder zum Leuchten bringt. Diese Bilder sind nicht weit hergeholt, diese Bilder sind nur heraufgeholt. Diese Bilder sind einleuchtende Belichtungen der Kindheitsnegative, die Zürn nach und nach entwickelt und den Lesenden zeigt. Zürn vergegenwärtigt auf diese Weise das Vergangene, auf daß es unvergänglich werde.
1967, drei Jahre vor ihrem Selbstmord, schreibt Unica Zürn die Geschichte ihrer Kindheit; und sie gibt sie rückwärts zu lesen; der Tiefpunkt ihrer Krankheiten ist der Höhepunkt, von dem aus sie zu ihren Anfängen – Berlin-Grunewald 1916 – zurückschaut auf die kleine Ruth. Dunkler Frühling nennt die Dichterin ihre Biographie, die, wie bei dieser Dichterin nicht anders zu erwarten, mehr ist als eine einfache Lebensbeschreibung. Erlebensbeschwörung ist Dunkler Frühling, Unsägliches ist Sprache geworden, Unerhörtes schreit auf.
Vater, Mutter, Bruder sind der kleinen Ruth, die sich später den Dichterinnennamen „Unika“ zulegt – vielleicht, um zu sagen, daß sie ein „Unikum“, ein Einzelexemplar, nicht zu sein vermag, wird die Pluralform „Unika“ gewählt? −, von allem Anfang an nicht vertrauenswürdig. Dennoch, die Tochter liebt ihren Vater:

Ihr Vater ist der erste Mann, den sie kennenlernt, eine tiefe Stimme, buschige Augenbrauen, schön geschwungen. Über lächelnden schwarzen Augen. Ein Bart, der sie sticht, wenn er sie küßt. Ein Geruch nach Zigarettenrauch, Leder und Kölnischem Wasser. Seine Stiefel knarren, seine Stimme ist dunkel und warm. Seine Zärtlichkeit ist stürmisch und komisch zugleich. Er macht seine Späße mit dem kleinen Ding in der Wiege. Sie liebt ihn vom ersten Augenblick an.

Dem „ersten Mann“ widmet die Dichterin die allerersten Zeilen ihres Familienromans Dunkler Frühling. Dem Vater, wie er im Buche steht, gilt der aufnahmegierige, zu jeder Schönfärberei bereite Blick des nachträglich konstruierten Kleinkindes. Offensichtlich liegt in diesem Blick schon Begehren, Begehren nach dem Begehren, nach dem Angeblicktwerden. Aber Papa, so sehr ihn die 1967 schon sterbensmüde Dichterin ins Genrebild zu setzen versucht, Papa ist ein Wegseher und Weggeher und Weghörer. Nach genau 15 Zeilen der ersten Buchseite der Zürn-Autobiographie verschwindet der Vater schon wieder aus dem idealtypisch konturierten und konstruierten Bild:

Aber bald, mit dem Größerwerden, merkt sie schmerzlich überrascht, daß er kaum zu Hause ist. Sie sehnt sich nach ihm. Er macht sich rar, und wer sich rar macht, der wird vermißt… Sie weiß nicht, womit er seine Zeit verbringt. Sie erkennt die Anziehungskraft, die derjenige ausströmt, der sich rar und geheimnisvoll macht. Das ist ihre erste Belehrung… Aber der Krieg geht zu Ende und der Vater kommt wieder. Ernst und mager geworden, sitzt er an seinem Schreibtisch. Ein riesiger Tisch, beladen mit Papieren. Eine Lampe mit einem grünen Schirm bescheint sein schönes, trauriges Gesieht. Er sieht krank aus. Sie weiß nicht, daß er fast an Typhus gestorben wäre, in der Zeit, als sie so nach ihm geschrien hatte.
Sie setzt sich unter seinen Schreibtisch ins Dunkle und streichelt seine blanken Schuhe. Sie beobachtet ihn, wie sie alle Menschen im Hause beobachtet. Es gibt also Männer und Frauen.

Früh also lernt Unica Zürn das Versteck, aus welchem heraus sie beobachten kann, zu schätzen. Und statt eines lebendigen Vaters Zuneigung zu erwerben, beginnt sie, sein Substitut oder Surrogat zu lieben. Und also heißt es später, 1959, in einem Anagrammgedicht:

Ich weiß nicht, wie man die Liebe macht
Wie ich weiß, „macht“ man die Liebe nicht.
Sie weint bei einem Wachslicht im Dach.
Ach, sie waechst im Lichten, im Winde bei
Nacht. Sie wacht im weichen Bilde, im Eis
des Niemals, im Bitten, wache, wie ich. Ich
Weiß, wie ich macht man die Liebe nicht.

Denn Liebe, wie das Kind sie im Elternhaus leibhaftig kennenlernt, ist Überwältigung. Wieder bleibt dem Kind, das später Dichterin und „schizophrene Dichterin“ werden wird, nichts anderes, als sich fremd dem Fremden zu nähern. Obwohl ganz jung, findet das Kind ein uraltes Symbol, das Kreuz, das Leben und Tod repräsentieren kann.

Wenn sie in ihrem Zimmer liegt und einschlafen soll, betrachtet sie das Fensterkreuz. Bei der Form des Kreuzes muß sie an Mann und Frau denken, die senkrechte Linie ist der Mann, die waagerechte Linie ist die Frau. Der Punkt, an dem sich die Linien treffen, bedeutet ein Geheimnis. (Sie weiß nichts von der Liebe.) Die Männer tragen Hosen, die Frauen Röcke. Was sich unter den Hosen verbirgt, erfährt sie durch Beobachtung ihres Bruders. Was sie zwischen seinen Beinen sieht, wenn er sich entkleidet, erinnert sie an einen Schlüssel, und sie selbst trägt das Schloß in ihrem Schoß.

Wieder findet Unica Zürn das Symbol eher als das Symbolisierte, wieder verrätselt sie vor sich und für sich das Rätsel. Statt das Geheimnis des Geschlechtlichen zu enthüllen, macht sie es sich erst recht unheimlich, gemäß den Worten aus der unheimlichen Spukgeschichte „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann:

Sei überzeugt, daß diese fremden Gestalten nichts über Dich vermögen; nur der Glaube an ihre feindliche Gewalt kann sie Dir in der Tat feindlich machen…

Aber kein guter Vater oder guter Geist spricht so zu Unica Zürn. Also vermögen die realen und die phantasierten Schreckgestalten soviel Herrschaft über sie zu gewinnen, daß der französische Psychiater, den sie aufsucht, als sie sich nicht mehr retten kann vor Angst und Irrsinn, die Diagnose stellen muß:

Visionen; optische und akustische Geruchs- und Geschmackshalluzinationen; Beeinflussungswahn; Wahn der Ausbreitung des Eigenen auf Andere; Gedankenlautwerden; rauschhafte Glücksgefühle mit Größenwahn; depressive Verstimmung. Insgesamt ist am ehesten eine Psychose vom schizophrenen Typ anzunehmen.

Statt sich selbst und seinen Körper, findet und erfindet dieses Kind konkret und konkretistisch erlebte Ursymbole.: Kreuz, Schlüssel, Schloß. Diese früh, zu früh gefundenen Symbole bleiben der Widersprüchlichkeit ihres Bedeutungsgehalts zu eng verbunden, als daß sie Ordnung stiften und die Anspannung des Körperlich-Seelischen lösen könnten. Statt der gesuchten einfachen Bedeutung der Lebensgeheimnisse, die jedem Kind ein Rätsel sind, findet Ruth Zürn immer die Mehrfachbedeutungen. Was uns anmutet wie Metaphern, wie Worte, die anderswohin tragen, sind für sie Wirklichkeiten. Und also änigmatisiert sich das Kind immer mehr. Jede Benennung ist zugleich Überdeterminierung und Überdimensionierung. Das Kind Ruth, auf der Suche nach Ergänzung und Kommunikation, findet den Vater nicht. Das gleiche Kind, auf der Suche nach Identifizierung und Versicherung ihres Geschlechts, sucht die Mutter.

Sie… ist von einer heillosen Neugierde geplagt. An einem langen Sonntagmorgen kriecht sie zu ihrer Mutter ins Bett und erschreckt sich vor diesem großen, dicken Körper, der seine Schönheit längst verloren hat. Die unbefriedigte Frau überfällt das kleine Mädchen mit offenem, feuchten Mund, aus dem sich eine nackte Zunge herausbewegt, lang wie das Objekt, das ihr Bruder mit seiner Hose verhüllt. Entsetzt stürzt sie aus dem Bett und fühlt sich tief gekränkt. Eine tiefe und unüberwindliche Abneigung vor der Mutter und der Frau entsteht in ihr. (…) Die… dicken nackten Frauen erinnern sie an ihre Mutter und erregen ihren Abscheu… Sie bedauert es, ein Mädchen zu sein.

Ganz folgerichtig wird das Mädchen keine Frau, sondern bleibt ein „kleines Es“. 1955 – Unica Zürn ist 39 Jahre alt – schreibt sie folgendes Anagramm-Gedicht, das, bei aller Hermetik, doch die Autorin kenntlich macht:

Es war einmal ein kleines
warmes Eisen allein. Kein’
Laerm, kein Wein’ lasse ein.
Leis’ am See rann, weil kein
Eis war, Amselnelke in ein
Samen-Ei. Alle winken, reis’
wie alle Samen. Sinke rein,
Wasserkeim, nein, alleine
in ein Kissen. Alle Waerme
war einmal ein kleines Es.

Als das kleine Mädchen in seinem dunklen Frühling rastlos und gierig nach sich und den anderen sucht, schenkt man ihm, was man einem Mädchen gern zur Einübung in seine Rolle schenkt, eine Puppe. Die Puppe ist, als „Übergangsobjekt“, wie die Psychologen sagen, unbestimmt genug, um das Mädchen selbst darzustellen und um sein zukünftiges Kind zu repräsentieren, welches das Mädchen im Spiel so traktieren wird, wie es es selbst erlebt hat.

Sie weiß nicht, daß die Ehe der Eltern ein Versagen ist, sie ahnt es jedoch, als der Vater eine fremde, schöne und elegante Dame ins Haus bringt, die ihr eine große, kostbare Puppe schenkt. Rachsüchtig und verzweifelt wegen der unglücklichen Zustände im Hause nimmt sie ein Messer und bohrt damit der Puppe die Augen aus. Sie schneidet ihr den Bauch auf und zerfetzt ihre kostbaren Kleider. Keiner der Erwachsenen verliert ein Wort über diese Zerstörung.

Da die Erwachsenen kein Wort verlieren, kann das Kind Ruth eine objektivierende Wahrheit nicht finden. Also erfindet und erdichtet und verdichtet sie sie bis zum Wahn. Denn daß im Wahn mehr Wahrheit als phantastische Dichtung liegt, gilt heute psychologisch als gesichert. Anläßlich einer ersten Zusammenschau von Wahn und Träumen und Wirklichkeit und Dichtung formuliert Sigmund Freud:

Wenn der Kranke so fest an seinen Wahn glaubt, so geschieht das nicht durch Verkehrung seines Urteilsvermögens und rührt nicht von dem her, was am Wahn irrig ist. Sondern in jedem Wahn steckt auch… Wahrheit, es ist etwas an ihm, was wirklich den Glauben verdient, und dieses ist die Quelle der also soweit berechtigten Überzeugung des Kranken. Aber dieses Wahre war lange Zeit verdrängt; wenn es ihm endlich gelingt, diesmal in entstellter Form, zum Bewußtsein durchzudringen, so ist das ihm anhaftende Überzeugungsgefühl wie zur Entschädigung überstark, haftet nun am Entstellungsersatz des verdrängten Wahren und schützt denselben gegen jede kritische Anfechtung. Die Überzeugung verschiebt sich gleichsam von dem unbewußten Wahren auf das mit ihm verknüpfte, bewußte Irrige und bleibt infolge dieser Verschiebung dort fixiert… Wir alle heften unsere Überzeugung an Denkinhalte, in denen Wahres mit Falschem vereint ist, und lassen sie vom ersteren aus sich über das letztere erstrecken. Sie diffundiert gleichsam vom Wahren her.

Die kleine Ruth Zürn, die Puppenmörderin, deren Tat unkommentiert bleibt und darum keine Einordnung in ein kommunikatives Gefüge erfährt, ist diejenige, die der Dichterin Unica Zürn sowohl die dichterischen als auch die wahnhaft entstellten, mehr oder weniger verrückten Wortbilder eingibt. Verzweiflung und Rache und Zerstörungswut toben sich aus im gleichzeitig schöpferischen und erschöpfenden Akt der Poesie, denn „das Leben ist ein schlechter Traum“, und gibt die Buchstaben für das folgende Anagramm:

Der Mensch ist Rauch. Alle beten,
sterbend um Rache. Alle! Nichts
als Nacht. Ich Elender sterbe um
all’ diese Scherben. Nacht! Mut! Er,
der Nebel lacht mich aus. Sterne
ernste Sterne, bald lache ich um
den Irrtum, lache! Lache bestens!
Breche alles mitten durch, Nase,
Bauch, rechten Arm. Elende List
des Liebens! Marter! Ach, Leuchten
des bleichen Traums – er lachte
mich an, der Lebenstauscher
und brachte nichts. Arme Seele.

Da der Tag mit einem lichten Wort dem Kinde nie gegeben wird, verbündet sich die Dichterin mit der Nacht, dem Traum, dem dunklen Wort. Aus Ruth wird Unica, Austritt aus dem eigenen Namen in einen Nom de plume. Einsamkeit, nie Übereinstimmung mit sich, das ist es, was Unica Zürn spürt. Sie ist ein Möbelstück im verlorenen Lebensraum, sie ist „Der einsame Tisch“:

Ich, der einsamste
mischt seine Ader
mit Aschen. Sei der
reisende Mast – ich
reise Nachts. Meid’
ach meid’ sie, ernst
ist der Name ICH −
es ist Rache. Mein des
Samtes Reich, Dein
der einsame Tisch
im Dache. Erst Eins?
Stein, ich rede, Sam-
Simae-Strich. Ende
ich, endet es. Simar,
Simae, Streich’ den
Strich am Ende. Eis
im Tisch. Rasende,
Einsamste ich der
Erde. Ein Mast sich
richte im Seesand,
der einsame Tisch.

Tisch und Mast ergeben wieder das schreckende Kreuz des Geschlechtlichen. Die Balken streben auseinander und ineinander. Das Kreuz gehört zu den Alt- oder Ursymbolen der Menschheit. Dieserart Symbole werden, wie der Psychiater, Schizophrenie- und Kunsterforscher Leo Navratil belegt, besonders häufig von schizophrenen Künstlerinnen und Künstlern verwendet:

Die Paradoxie des ursprünglichen Symbols läßt vermuten, daß es als ein Versuch, im Innern des Menschen vorhandene Gegensätze zu bewältigen, entstand. Die Erfindung des Symbols diente offenbar dazu, die zwischen bestimmten Trieben und Ängsten bestehende Spannung zu mildern. Sexuell erotisches und religiöses Erleben sind ja in der Seele des Primitiven enger als bei den heutigen Menschen vereint. Die Tatsache, daß den Alt-Symbolen ein sexueller und gleichzeitig numinoser Charakter innewohnt, beruht darauf, daß der Primitive auch den Gegensatz dieser beiden Seinssphären noch stärker empfand. Das Symbol sollte ihm helfen, diesen Widerspruch zu überwinden. In seiner schillernden Zweideutigkeit bringt das ursprüngliche Symbol den nicht ganz zu beseitigenden Zwiespalt zwischen Trieb und Intellekt, Natur und Geist zum Ausdruck. Es verliert diesen Charakter erst, sobald es seine Paradoxie verliert und mit rationalem Sinn erfüllt wird.

Für Dichterinnen und Dichter, für diese Teilnehmenden am Ursprünglichen, Mystischen und Ewig-Gegenwärtigen, am Ekstatischen, verliert sich Paradoxie, Wider- oder Gegensinnigkeit, nie. Sie sind Schwarmgeister, offen für Lug- und Trugbilder, die zusammengelesen die ganze Wahrheit offenbaren Unica Zürns Wahrheit ist, daß sie für sich, von Kindheit an, keine Ergänzung finden kann, daß sie immer wieder auf sich selbst und den Lust-Schrecken ihrer eifrigen und zornigen Selbst-Erkundungen zurückgeworfen wird.

Um das kleine neugierige Mädchen aus dem Wege zu schaffen, befiehlt ihm die Mutter, sich nach dem Mittagessen ins Bett zulegen. Unmöglich, in dem verdunkelten Zimmer zu schlafen. Sie denkt nach, um auch für sich eine Ergänzung zu finden. Alle länglichen und harten Gegenstände, die sie in ihrem Zimmer findet, holt sie in ihr Bett und schiebt sie zwischen ihre Beine, eine kalte, blanke Schere, ein Lineal, einen Kamm und den Stiel einer Bürste. Den Blick auf das Fensterkreuz gerichtet, sucht sie nach einer männlichen Ergänzung für sich.

Wie ihre Puppe, zerfetzt Ruth-Unica nun sich selbst, macht sie sich selbst zum entstellten und verrenkten und verrückten Angst-Lust-Spielzeug. Denn immer wieder passiert es: Das Sexuelle ist das Horrible, schwärzt die Kindheit immer wieder, verfinstert grell, winterkalt ist der dunkle Frühling auch im Sommer:

An einem Mittag im Sommer, als sie mit ihrer Freundin von der Schule nach Hause kommt – die Straßen sind leer um die Mittagszeit begegnen sie dem Mann mit dem Fahrrad. Eine schreckliche, abstoßende Nacktheit strahlt blendend und erschütternd von seiner offenen Hose den Kindern entgegen. Er ruft sie zu sich heran und fordert sie auf, sein monströses Objekt, das ihnen in der Länge von mindestens einem halben Meter erscheint, zu berühren. In tödlichem Schrecken fassen sie sich an den Händen und rennen mit aller Kraft nach Hause. Als klebten ihre Füße mit Leim am Boden fest, haben sie den traumhaften, beängstigenden Eindruck, nicht von der Stelle zu kommen.

Traum und Wahn, sagt Freud im schon erwähnten Aufsatz über Dichtung, Traum und Wahn, stammen aus derselben Quelle, „vom Verdrängten her“. Das Unbewußte, so Freud, gewinne Boden, der normalerweise im Wachen wieder geräumt werde. Aber nichts ist normal, alles ist enorm an Unica Zürns Leben und Erleben. Sie wird angeleimt bleiben am Grunde des Unergründlichen, das alles Geschlechtliche ihr bleibt. Zwischen Unterkühlung und Überhitzung wird sie lebenslang kein warmes Plätzchen finden, keine Kuschelecke, nicht einmal eine Position. „Indem ich alle Hoffnung auf Wärme aufgebe, morde ich die Kälte.“ Das schreibt die Dichterin, lebensmüde, sterbenskrank, „in großer Angst, am 24. Februar 1959“:

Wie wohl wäre mir, könnte ich etwas sein, das weder Mann noch Frau sich nennen würde… Ich habe meines Wissens weder vom Mann noch von der Frau zuviel bekommen, jedoch genug um es als hinderlich zu empfinden. Meine zeitweisen Bemühungen, weder das eine noch das andere zu sein, führten zu keinem Ergebnis. Warum? Weil ich mich allein mit diesem Problem beschäftigt habe… Niemand, mit dem ich darüber sprechen kann. Und das ist meine Verzweiflung. Das männliche Wesen ist mir so unbegreiflich wie das weibliche Wesen. Kein Weg dorthin, keine Möglichkeit für mich. Ich kann und kann mich dort nicht befreunden. Welche schreckliche Scham mich ergreift, wenn ich das Männliche oder das Weibliche in mir selbst entdecke! Ich habe geglaubt, daß die Begegnung mit einem menschlichen Wesen – und jetzt spreche ich von der Begegnung mit einem Mann – unsere Vorhänge zum Verschwinden bringen könnte. Mehr noch, daß dieser Vorgang das wesentliche Ergebnis einer solchen Begegnung sei.
Und das ist mein Glauben und meine Täuschung! Indessen – ich werde alt. Fester wickle ich mich in meine staubig gewordene Samtportiere und mir ist kalt.
Hoffnungslos! Ohne Hoffnung!
Um so strahlender wird der Traum! Durchsichtig! Helligkeit! O wie hell! Und das ist mein Trost.
Aus einem frühen Instinkt, den ich früh schon betrog – daß es nämlich die Distanz und nichts anderes als die Distanz ist, die das Wunderbare für mich bedeutet −, träumte ich als Kind von der Ehe mit einem weißen, gelähmten Mann…

Statt auf den erträumten gelähmten Mann trifft sie – real und surreal zugleich – auf den Grafiker Hans Bellmer mit dem sie eine 17 Jahre währende Liaison haben wird. Was schon in der Kindheit und jungem Erwachsenenalter sich zu stilisieren begonnen hatte, wird nun immer mehr in die Realität umgesetzt: Unica Zürn wird zu der Puppe, zu dem Objekt, dem sie alles antun kann, antun muß, was vorher ihr selbst angetan worden war.
Vorhersehend hat Unica Zürn in dem zu erscheinenden Gesicht Hans Bellmers die dringend gesuchte Ähnlichkeit mit sich selbst halluziniert: „Die Besessenheit von einem bestimmten Gesicht begleitet sie seit Tagen. Plötzlich sieht sie sich einer großen Ähnlichkeit mit diesem Gesicht gegenüber, das Gesicht Bellmer. Sie schneidet sich die Haare, um dem Gesicht noch mehr zu gleichen.“ Bellmer wird Zürn in die Gruppierungen der Surrealisten einführen, wird sie mit dem automatischen Zeichnen und dem Verfassen von Anagrammen, buchstabenverliebten Dichtungen, bekannt machen. Unica Zürn findet eine Fülle von Beziehungen und Bezügen an der Seite Hans Bellmers. Es ist und wird gewesen sein Liebe auf den ersten Blick oder nach vorhergesehenen Einbildungen Amour fou, folie à deux. Vorbilder, Nachbilder, Spiegelbilder, das Kabinett der inneren und äußeren Objekte füllt, erfüllt, überfüllt sich.
Schon beim zweiten Treffen bringt Hans Bellmer sein Buch Les Jeux de la Poupée mit. Ein Buch mit seinen Puppen, den Verrenkunggenies, voll. Hier hat Unica Zürn vor ihren eigenen Augen, wie sie erschaut wurde von diesem anderen. Es scheint, als habe er das Innenportrait von Ruth-Unica aufgezeichnet: das Negativ ist als Negativ-Negativ sichtbar.

Bellmer sagt ihr mit einem leichten Lächeln: „Ich habe schreckliche Angst, daß Sie sich vor meiner Arbeit entsetzen.“ Sie betrachtet lange und fasziniert die Variationen der Körperzusammenstellungen seiner Puppe und glaubt, nie etwas so Erstaunliches gesehen zu haben… Es ist nur ein einziges Foto vor dem sie sich erschreckt. Der Kopf und der Mund der Puppe nähern sich ihrem Sex, als wollte sie sich selbst mit der Zunge befriedigen. Bellmer hat selbst das Vorwort zur Puppe geschrieben, ein ausgezeichneter und präziser Schriftsteller, der aus dem Erotismus eine logische Philosophie macht.“

In Bellmers Fotografien und Zeichnungen findet Zürn, was sie immerzu gesucht hatte: die wahnwitzige Mißgestalt, die sie, leer von Hoffnung, als ihre Erfüllung oder Ausfüllung vor-gesehen hatte, die sadistische Ausformung der Lust, die sich als groteske Verformung, als zerstochene, ausgeräumte Puppe des dunklen Frühlings präsentiert. Auf Bellmers Bildern sieht sie alle die verrenkten Figuren, deren Gesamt Unica Zürn in sich weiß, wenn sie außer sich ist. Leben in der Paradoxie, im Gegensinnigen: Männliches und Weibliches kreuzen sich zum Hermaphroditischen; sie, Unica Zürn, die sich zu ihrer Erlösung aus der Geschlechtlichkeit und lpsationsbesessenheit das Ungeschlecht ersehnte, trifft in Bellmer und Bellmers Darstellungen auf das vervielfachte überunmögliche Jenseitsgeschlecht. Immer wieder gestaltet Hans Bellmer falsche und vielfach verfälschte Frauenleiber, zeigt damit seiner Geliebten Unica Zürn die aufgelöste, irrsinnig wieder zusammengesetzte Puppe von einst, von immer. „Die für Bellmer, den Künstler, fündige erotische Mimesis ist offensichtlich allein ihre sadistische Seite, welche die Projektionen der Frau zu denen des Mannes dressiert“, schreibt Peter Gorsen. Ähnlich kommentiert Gisela von Wysocki:

Hans Bellmer in Paris sieht in ihr das Modell seiner „Puppe“: diese Konstruktion ist die Idee fixe seines Werkes. Die „Puppe“, aus verschiedenen Materialien montiert – aus Gips, Stoff, Öl, Holz und künstlichen Haaren −, kann tanzen, sich strecken, sich verbeugen und sich aufrichten. Bellmers collagiertes, endlos umkehrbares Bild der Frau ist für Unica Zürn wie ein neuer Spiegel. Der männliche Blick erfaßt ihren Körper und gibt ihm Kontur und Bedeutung. Ein vielgliedriges Monstrum, eine verrenkte Körpermaschine. Gequält, gepfählt, ans Kreuz geschlagen. Bellmers „Anatomie“ zerlegt den menschlichen Körper – es ist der Körper der Frau – nach den Regeln einer geduldigen Folterung.

Der Sadismus des Künstlers und der Masochismus der Künstlerin verbinden, verbünden, vermählen sich und zeugen Werke von bizarrer Höhe und Tiefe. Während Bellmer, der Kunstleibzeichner, seine Augen schärft, gerät Unica Zürn in die Fänge und Gefängnisse der Anagramme. Sie spießt Sätze auf und verrenkt ihre Buchstaben, fügt sie falsch-neu. Aus Les chants de Maldoror wird:

Tal des Moloch, Narr des
Alls. Rote Mordschande
der Scham – o rasend toll
des roten Dolchs Alarm.

Während Bellmer Gelegenheiten und Frauen am Schopfe packt, um sie auf dem Papier zu enthaupten und wie nie neu zu behaupten, sticht Zürn mit spitzer und unter ihrer Lastlust gespreizter Feder den Wörtern ihre Mehrfach- und Vielfachbedeutungen aus. Aus dem Satz „In meinem Herzen waechst ein Huehnerauge“, entsteht:

Wenn ruhige Traeume nahen, zeichne es heim
im Herzen. Meine Ahnen husten. Graue, weiche
Hechte naehen ihre zween Ringe aus Mumien.
In meinem Huehnerherzen waechst ein Auge.

Immer besessener, zielbewußter macht Unica Zürn sich zum Wort unter Wörtern. Sie hat das Anagrammieren von Bellmer gelernt und es schnellstens als die ihr angemessene Dichtweise erkannt. Beim Arbeiten löst Unica Zürn sich nicht vom Papier; sie schreibt ihren Ausgangssatz, eine Trouvaille, die vom Unbewußten heraufgeschickt wird in den Kopf der Produzentin. Und dann streicht sie die einzelnen Buchstaben aus. Zürns Arbeitskalender wird zum Strichheft. Die Freiheitsgrade bezüglich des Dichtens schränken sich drastisch ein. Aber in der größeren Gefangenschaft wächst Zürns Rach- und Raumsucht erst recht. E entstehen Wunderwerke des Hintersinns und Eigensinns. Wo wöhnliche Menschen nichts sehen als Vordergrund und Oberfläche, schaut und erschaut Zürn die vielfältigen Muster. Was steckt „hinter dieser reinen Stirne“? Dies, wenn sie genau hinsieht:

Hinter dieser reinen Stirne
redet ein Herr, reist ein Sinn,
irrt ein Stern in seine Herde,
rennt ein seidner Stier. Hier
der Reiter Hintersinn, seine
Nester hinter Indien, Irrsee,
Irrsinn, heiter sein – Ente der
drei Tintenherrn, reisen sie −
ein Hindernis – Retter seiner
Dintenherrn – ist es eine Irre?

Diese berechtigte Frage stellt sich Unica Zürn im Verlaufe ihres Anagramm-Dichterinnen-Lebens immer öfter. Einerseits ist ja das Anagramm nur das Umstellen und Neulesen oder Neuschreiben eines Wortes oder Satzes. Hans Bellmers Beschreibung des Anagramm-Schaffens aber mutet an wie eine Beschreibung der Person Unica Zürn:

Das Anagramm entsteht, bei nahem Zusehen, aus einem heftigen, paradoxalen Zwiespalt. Es vermutet Höchstspannung des gestaltenden Willens und zugleich die Ausschaltung vorbedachter Gestaltungsabsicht, weil sie unsichtbar ist. Das Ergebnis bekennt, ein wenig unheimlich, mehr dem Zutun eines „anderen“ als dem eigenen Bewußtsein verdankt zu sein. Das Gefühl einer fremden Verantwortlichkeit und der eigenen, technischen Beschränkung – nur die gegebenen Buchstaben sind verwendbar und keine anderen können zur Hilfe gerufen werden – führt zu gesteigerten Spürsinn, zur hemmungslosen, fieberhaften Bereitschaft des Entdeckens; es läuft auf einen gewissen Automatismus hinaus. An der Lösung scheint der Zufall großen Anteil zu haben, als wäre ohne ihn keine sprachliche Wirklichkeit echt, denn am Ende erst, hinterher, wird überraschend deutlich, daß dieses Ergebnis notwendig war, daß es kein anderes hätte sein können. – Wer täglich ein Anagramm in seinen Kalender schreiben wollte, besäße am Jahresende einen genauen poetischen Wetterbericht von seinem Ich.

Als ein solcher „poetischer Wetterbericht“ lassen sich alle Dichtungen Zürns lesen. Ihr ICH steht und fällt mit dem Ernst ihrer Poesie und der Rachsucht, die von ihren psychischen Lebensbedingungen sich herschreibt. Die Lebensbedingungen, das erkennt Unica Zürn immer klarer, aber auch immer wahnhafter, sind ihre Sterbensbedingungen. Aufs Sterben, auf Selbstmord laufen Leben und Schreiben hinaus. In ihrem Vorlauf zum Tode ist sich Unica Zürn kein Rätsel mehr; sogar das Anagramm demaskiert sich:

Ohne noch gelebt zu haben werde ich sterben
ohne Erben, weich zu Bett den Hals gebrochen
nach zehn gelben Herbstwochen – o die Trübe…

Denn das geschah, „als Du ein Kind warst“:

Als Du ein Kind warst,
warst Du ein Kind als
kalter Wind. Aus sind
Wald und Stern. Asiki
Kidnar alt und weiss.
Dunkel ist das WAR in
Wind und Kreis. Atlas,
Kunstsaal, Dreiwind −
weisst Du, Kind? Alnar
warst Du, als ein Kind
Du warst. Links an die
Wand das Knie! Ir-Lust
rast ins dunk’le Wi. Da
warst Du als Kind ein
Wunderkind. Laßt A I
sein. Lastak wird UND
Du wirst ein Dank als
Stein und Wald. Askir,
trink’ das wilde N. Aus
ist das Lied. Warnunk:
Dunkel ist das WAR in
Atlas, Wind und Kreis.

Obwohl düster, werfen Zürns Zeilen doch auch wieder und immer wieder Licht auf den dunklen Frühling, in dem alles begann. In ihren „Notizen einer Blutarmen“, dem Tagebuch ihrer körperlichen und seelischen Anämie, sieht sie dem Jahresende 1957 entgegen wie dem Lebensende; wieder einmal, noch nicht zum letzten Mal. Unica Zürn ruft nun außer den Worten auch die Zahlen – die 6 und die 9 – zur Hilfe. Zahlen sind zusammen mit der Sprache als Mittel der menschlichen Kommunikation entstanden. Ihnen wurde schon früh metaphysische Bedeutung beigelegt. Eins, Unikum-Einzelwesen, ist die reine, die Gotteszahl; zwei – Unika – ist als erste gerade, teilbare Zahl, die auch die Paarung der Geschlechter darstellt, mit der Symbolbedeutung „Unreinheit“ belegt worden. Die Sechs, Unica Zürns Wahl-Zahl Nummer eins, ist die Zahl der Schöpfung. Die Neun ist – nachdem die vorchristliche Zeit die Acht als Vollendungszeichen angesehen hatte – in christlicher Zeit zur Zahl der Engel geworden. Der Zahlenwert der griechischen Buchstaben des Amen beträgt 99.
Auf der Suche nach Kommunikation verschwindet Unica Zürn in den Zeiten ihrer Krankheiten aus derselben.

29. Dezember 1957, in zwei Tagen ist dieses Jahr zuende und mit ihm, so glaube ich, das Zeichen der 99. Wie kindlich, wie eigensinnig ich in den Orakeln gefangen bin und gar nicht mehr befreit werden will. Das gleicht den Aufgaben, die ich mir an Sonnabendnachmittagen im Grunewald stellte. Mutproben waren zu Überstehen, 3 mal von der höchsten Mauer springen, 3 mal auf den höchsten Ast klettern, 3 mal um das Haus rasen, so schnell es geht – (und ich war nie ein guter Läufer) – bis fast das Herz bricht. 3 mal 3 ist 9! Aber ich kann nicht aufhören, mit der 9 – mit der 99 – nicht jetzt – vielleicht im Frühling – aber nicht jetzt! Ich sehne mich, ich dürste nach dem Wunder. Wie es auch immer aussehen mag.

Das Wunder sieht aus wie 99. Denn, so schreibt Zürn ein Jahr später:

Die Neunundneunzig ist unsere Schicksalszahl.
Nun sucht Dich sein sinnendes Auge als Ziel. Kurz
sind unsere Tage und sinken zu schnell zu Eis. Ach,
unsere Schicksalszahl ist die Neunundneunzig.

Unica Zürn jongliert mit ihren Zahlen, zählt und erzählt. Einfache Buchführung unmöglich, doppelte verdoppelt sich, das, was Bellmer einst als „ein bißchen unheimlich“ bezeichnete, der wörtliche Wahnsinn der Anagramme, wird zum total Unheimlichen:

Die 9, Eure Schicksalszahl stellt sich langsam auf den Kopf und wird zur 6, zur Zahl des Todes, die mit Euch zusammen kopfüber hinunter ins Grab sinkt. Wo regnet es zwischen neun und drei? Es regnet zwischen uns so neu. Der Winde Neun ist zur sechs geworden. Wenn die Wege rot sind, komme zu uns gerannt und alles wird wieder weiss.

Nein, es wird nicht mehr gut, es wird nur noch immer unerträglicher in Unica Zürns Leben. Ruth Henry, eine Pariser Freundin, erinnert sich:

Es war eine veränderte, eine gealterte Unica, der ich 1965 – noch einmal waren drei Jahre vergangen – wiederbegegnete. Ihre „Krisen“, wie sie ihre Krankheitsperioden nannte, hatten die körperlichen Kräfte aufgebraucht und alles Strahlende gelöscht. Tagelang konnte sie das Haus nicht verlassen, zumal sich auch Bellmer immer mehr von der Welt zurückzog. Erstarrt (und in der Tat durch ein katatonisches Syndrom „gelähmt“, unfähig zum Beispiel, Treppenstufen allein zu gehen), saß Unica auf dem Sofa, die ewige „Gauloise“ zwischen den Fingern, verlangsamt in allen Gesten, gebrochen durch die fortan auferlegte chemische Zwangsjacke (eine nie mehr unterbrochene medikamentöse Behandlung), war sie nur noch Geist. Sie legte mir ein umfangreiches Manuskript vor, das sie in monatelanger Anstrengung selbst auf der Maschine getippt hatte. Es waren ihre „Eindrücke aus einer Geisteskrankheit“, sie gab ihm den Titel „Der Mann im Jasmin“.

In diesem Buch faßt Unica Zürn alles, was ihr Leben zum Tode war, noch einmal zusammen: ihre Visionen und Träume, die Wunderwaffen des Wahnsinns, der sie trieb und in dem sie sich suchend verlor.

Einige Tage später erlebt sie in ihrem Leben das erste Wunder. In einem Pariser Zimmer steht sie dem Mann im Jasmin gegenüber. Der Schock dieser Begegnung ist für sie so gewaltig, daß sie ihn nicht überwinden kann. Sehr, sehr langsam beginnt sie von diesem Tage an, ihren Verstand zu verlieren. Das Bild ihrer kindlichen Vision und die Erscheinung dieses Mannes sind identisch. Mit dem Wunsch, sich in ihre Gedanken einzuschließen, um die Realität zu vergessen, vertieft sie sich plötzlich in ein Manuskript „zu Ehren der Zahl 9“. Was sagt der Mann, der im Jahr 99 geboren ist am Morgen des Jahres 66 erwacht? Seine schöne 99 hat sich im Laufe der Zeit auf den Kopf gestellt, und was das bedeutet, das weiß er am besten selbst. Die 66 ist bereit, mit ihm zusammen – Hals über Kopf – in die Ewigkeit hinabzustürzen.

Sie muß endlich mit dem Verstand auch ihren Kopf verlieren. Wieder hat Unica Zürn einer Vision aus der Kindheit zur Wirklichkeit verholfen, zunächst zur Wirklichkeit der Schrift, dann – denn die Schriften sind alle Vorschriften auf den Tod hin, auf den Selbstmord – zur Wirklichkeit der Wirklichkeit. So nämlich stand es schon in der autobiographischen und programmatischen Textwelt Dunkler Frühling:

… ihr Vater ist wie immer verreist… Sie haßt ihren Bruder von ganzem Herzen… Sie wünscht ihm das größte Unglück. Sie wäre zufrieden, wenn er unter den schlimmsten Qualen zu ihren Füßen sterben würde. Und sie haßt ihre Mutter… Sie schreit vor Weinen. Erschrocken stopft sie sich ein Taschentuch in den Mund, aus Angst, daß man sie hören könnte. Sie will niemanden sehen. Selbst, wenn jetzt ihre Mutter und ihr Bruder kommen würden, um sich bei ihr zu entschuldigen, für das Leid, das sie ihr angetan haben – sie würde nicht die Türe öffnen. Sie würde ihnen nicht verzeihen… Sind zwei Etagen hoch genug, um sich zu Tode zu stürzen?

Es wird das Fenster eines sechsten Stockwerks sein, das Fenster von Hans Bellmers Wohnung, aus dem sich Unica Zürn, ganz wie vorgesehen, zu Tode stürzt. Es ist der 19. Oktober 1970, Unica Zürn ist 54 Jahre alt, Quersumme 9. 6 und 9 – Schöpfungszahl und Engelszahl stürzen in eins.

Ruh, also, armes Pendel,
mordpralle Sehne aus
Leder – o Spuren am Hals.
Der Ruhe Psalm-Oel ans
Ohr des Alarmes. Lupen
aus Palmrohr, elendes
Rasen der Pulse – o Halm
am Ur-Pass der Hoellen.

− „ernst ist der Name des ICH“, das auf diesem Hintergrund sich bildete, zu dem die folgenden Lebensdaten gehören:

1916 Geburt in Berlin.
Die Nazi-Zeit erlebt sie fern vom Politischen. Heirat 1942, 2 Kinder, Scheidung 1949
− die Kinder bleiben bei dem Vater
1949 Kurzgeschichten, Märchen für Radiosender.
1953 Begegnung mit Hans Bellmer in Paris.
1954 Anagramm-Gedichte und Zeichnungen werden in Berlin publiziert. 1953, 1957 Ausstellungen in Paris, Begegnung mit Surrealisten.
1957/1958 Anämie, Texte, Notizen einer Blutarmen, Das Haus der Krankheiten – Besessenheit von den Zahlen 6 und 9
1958 Abtreibung in Berlin
1959 Das Weiße mit dem roten Punkt
1959 Teilnahme an der großen Surrealismus-Ausstellung in der Galerie Cordier, Paris.
1960 Psychiatrie-Aufenthalt, Diagnose, Schizophrenie, Anagramm-Gedichte und Zeichnungen – es folgt 2jähriger Psychiatrie-Aufenthalt.
1962 Einzelausstellung der Bilder
1963 Entlassung aus der psych. Anstalt
1963-1964 Orakel und Spektakel, gelegentliche Trennungen von Hans Bellmer.
1964 Ausstellungen in Paris und Frankfurt M.
1965 Beginn der Niederschrift: Der Mann im Jasmin, das 1971 auf französisch erscheint, weil sich kein deutscher Verlag findet. Gute Einsichten in ihre Krankheit; am 6.6.1966 Notizen zur letzten Krise
1967 Ausstellung mit Bellmer, Galerie Brusberg, Hannover
1967 Dunkler Frühling
1968 Die Trompeten von Jericho
1970 Aufzeichnungen einer Geisteskranken. Zwangseinlieferung in psychiatrische Klinik. Kurze Texte, Zeichnungen. Entlassung am 16. Oktober. Selbstmord am 19. 0ktober.

„MistAKE“ ist einer der allerletzten Zürn-Texte:

Der nächste Satz des Arztes aus Essen: Um jeden Preis möchte sie ihr Leben ändern. Aber schauen Sie sich doch einmal die Irrenanstalten an – die Männer und Frauen – Tausende – sind alle auf Wolken dorthin gekommen. Es ist sicher schön für sie, verrückt zu sein. Aber danach? Dann kommt der Zusammenbruch. Jetzt fliegt sie, alles geht gut für sie. Ihr Unglück beginnt mit dem Abklingen. Schluß mit der ganzen Poesie.

Eva-Maria Alves, in Ursula Keller (Hrsg.): „Nun breche ich in Stücke…“, Verlag Vorwerk 8, 2000

Jan Kuhlbrodt: Zu Unica Zürn
signaturen-magazin.de

 

 

DIE AUTOBIOGRAPHIE UNICA ZÜRNS

Die Raumfläche, auf die ich zuschwärme, ist gefüllt mit Blasen, abgestorbenen Stengeln, die wirbeln wie ich trudele, eine bauchige Boje, die sich bläht und zusammenzieht in schlangenhafter Darmbewegung. Dies wird meine Vorgehensweise sein: eine Nomadenkarte heiliger Fata Morganen Zürns, Quellen, die sich in der Heißglut in Kamele verwandeln.

An manchen Tagen bin ich buschig, gefiedert, orchestral, ein Patchwork-Geschöpf, das man gerade skizziert. Eine Augen-Vagina, vertikal zwischen Hinterbeinen. Der quicklebendige Pelz, in den du deine Hände stecken mußt.

Der schieferige Himmel hing voller Augeninseln, Narrenschellen, treibender kalkweißer Wurzeln. Öffnet sich die Ewigkeit? Jeder Akt zerrt an geölten Saiten, der Geist umschlingt die schlüpfrige Hirnmasse. Die freien Entscheidungen bevölkern, die Streitlust fortsetzen…

Marsianerin, vierarmig, mit einem Gürtel rotnippeliger Brüste, x-beiniger Geschwülste, verdrahtet bloß, um widerhallen zu lassen, was sich in Sternenschößen windet.

Entwurf meiner Weigerung, eine Frau zu entwerfen. Bin ich verbindet Eindrücke von Wurzelfasern, Flaschenkürbissen, strangulierten Pfauen, aufgeschnittenen Früchten. Ein millionenporiger, bläßlich lavendelfarbener Kropf, in dessen Schopf ein beinloser Grashüpfer eingebettet ist.

Eine purpurne Fledermaus-Insektenhülle, wie auf eine Windschutzscheibe geklatscht. Damit alles hier verbleibt, beim Aufprall die Unica-Lüge durch einen Schwebezustand ersetzen, wie das Zersplittern der Furcht.

Jetzt, wo ich in einem Funken schlafe, schimmern Bauwerke aus weißen Spinnwebfäden. Augäpfel brechen auf, Stränge ausfransender Kokons. Ein Stern, ein Minarett… Erinnerung an die Straße, die ich erträumte, so-breit-wie-lang, tao-tief, verblüfft von der Finsternis draußen…

Jetzt habe ich zwei küssende Köpfe und den dritten von einer Amphibie, deren Bein sich in eine Schlange verwandelt, die einen Knäuel sprießenden Haars runterschlingt. Dieser sich auflösende lavendelfarbene, elfenbeingleiche Leib… Diese Nadelknochen einer prähistorischen Hand, mein Spiegel, mein aufgedunsenes Winken…

Für dich wurde ich Brühe aus gold-, limonen- und lavendelfarbenem, in Augen versenktem Schlangengewimmel. Mit meinen Leguanhänden tauchte ich durch deinen Regenbogensturm, damit ich verknotet die Doppelhelix der Seelenun(ica)tiefe erreiche.

Für dich warf ich alle Schattentiefe in den Sternenschleim, den Salamander hinterließen beim Trollen über ein triefendes, unerleuchtetes Moor, wo keine Unica, kein Hans, nur unsere zweihundert Ichs, pickelig in schmerzlicher Umklammerung.

Sobald ich zersplittere, setze ich mich in äffischer, selbstnotzüchtiger, sprossender Wachsamkeit neu zusammen. Das soll lustig sein? Versuch mal, deinen Geisteszustand zu zeichnen, wenn er sämtliche Kraftreserven in Hamster zieht, die fallen wie Litaneien von Senkbleien.

Die azurne, kosmische Taucherin, weiß beperlte Wirbelsäule, die am Grunde sucht, das bin ich, ein Fisch in barbituralem Schleier. Für ihn habe ich große Augen aufgesetzt, habe mein ganzes Fleisch über Bord geworfen.

Die Spinne bin ich, die sie unter Drogen setzten, zu der sie sagten: Webe! Als ich losschnellte, ließ ich nicht davon ab, anzuspornen, was in mich reinstieß. Zeichnungen wie Purzelbäume mit Fliegen vernetzt.

Ich fange an, zum Kern dessen, was ich nicht bin, zu gelangen. Der Gedanke, daß alles passieren kann, wird durch einen Verstoß gezügelt, der das Zaumzeug des Abgrunds führt.

Lebe noch im Kinderzimmer: gestillt von Geisterreimen und den Fetzen behaglicher Spielsachen.

Ich bin ein wucherndes Geschwärm malvenfarbener Brüste, eine Lavablase, gehalten vom fragilsten aller Netze. Ein liebevoller Widder wacht über meine Milchkanne. Der gelähmte Ares starrt unten aus meiner Schlüpfluke.

Du, der Quastenflosserleib, mit Hunderten bunter Punkte, wie Stecknadeln auf einer Karte des Nebelflecks, Sterne und Gase, mit Rückenfinne und Lungenrudiment. Die fast amphibische Unica, wirklich draußen, ohne Heimweg.

Verbrannte Benzinspritzer. Erdklumpen lassen graue Farne sprießen. Fahler blutroter Rauch. Das alles stürmt aus dem Unsichtbaren, als wäre das Unsichtbare die Einheit und seine Nachkommen dieses pyrotechnische Verblassen…

Rendezvous. Reiche dem Teufel das Köpfchen. Schlucke nicht, treibe den roten Samen zurück, in jene leeren Gebeintunnel, in den zerstörten Knochenmarkspalast, in seine schwarzen Hände.

Kontakt. Der Samen durchzieht mich, ein roter Faden, er dringt in mich, wo ich einst saugte, vorbei am Kopf, den ich in meinen Armen halte, und erregt meine Fontanelle. Seht meinen neuen Hintergrund: ein Protozoen-Gitter aus roten Neunen.

Es geht weiter, Köpfe erzeugen Köpfe, küssende Köpfe, abweisende Köpfe. Schrecken versüßt, stolziert mit Hirschfüßchen umher. Von einer tätowierten Nausikaa-Welle wurde ich geküsst!

Im geplusterten Hintern eines Papageis leben, zwiegesichtige Madonna, eingemummelte Brüste, keine Füße, keine Arme, nur plätschernde Kunterbuntheit, mit Kopftüchern als Flossen.

Bei Henri Michaux: Füllhörner aus flinker Spitze durchwuchern zerklüftete Anziehung. Wir trafen uns, um die Jalousie erzittern zu lassen, aus der wir schossen. Seht, wie unsere Gespensterfinger quieken und welken. Ich unter meiner Fliegerinnen-Hirn-Kappe, mit dem Cerberus Michaux, der den Eingang zum rattenbespurten Palimpsest des Wahnsinns bewacht.

Abgeschmierte Knaller, die zu feuern versuchen, verschrammt. Aus dem Nirgendwo: roter Ruß. Wer wird meine Einsamkeit über der löwenhaften Weite kitzeln?

Schwarzdornige Knollen, Stückchen, unter denen ich, als versuchte ich, mich zu entzünden, in zinnoberroter Trance kritzle. Halte fest, was von mir blieb. Binde mich an mein Aufflackern!

Aknerauhes Herzfeuer, rankende Blutrisse. Ich scheitere bei der Selbstverzehrung wie der brennende Dornbusch.

Einmündung, vor Selbsterkenntnis immer weiter abfallend – wovon? Ein Fehler, die Mauer Edens zu erklimmen. Furcht, entkernt zu sein.

Auf der Abendseite des sündigen Baums, da bin ich jener Baum, wild wuchernd. Im Bleistiftlaub spritzt ein Penis aus.

Friedliche schematische Verwandtschaft. Von einem Ende zum anderen springt die Alphalope, teilt sich den Omega-Raum, anale Fesseln.

Den Bodensatz aus der homerischen Bowle schlürfen, das Blut in Teiresias Graben riechen. So verriegelt sein, daß keine Linie mehr verbindet, auch nicht die eine, die du nach ganz unten zu mir schickst, in den Anglerfischschlamm.

Da, Schwärme von Laub und Fischen ziehen über die papierne Leere Ich habe deine Augenphone mit meinen Brüsten verbunden…

Machte mich am Gebläse von Bellmers Orgel zu schaffen, tauchte auf, gepanzert, eine prähistorische Groppe, unbezahlbar, wertlos.

Eine verschleierte Viper in Trauer über den Verlust ihres Gifts. Ihre Kritzelschwester nähert sich. Detonation. Ich zeichne stets den Nachhall.

Ein Strauß funkensprühenden Zunders, deiner Achsel gepflückt. Nun wurde er auf mich geworfen, wie auf einen Grabstein. Ruhe in Ruinen.

Von Unica Zürn die Erstickung Hans Bellmers für den anagrammatischen, magischen Befehl: Brenn, Alraune! Zisch, Ulme!

Die Angst, ein Kopf auf einem Körper braunen Qualms zu sein. Gekrakel zu sein, Füllsel. Bloß ein klaffender, grämlicher Mund, der Mitleid veranstaltet.

Geistiger Morast, wo das Niegesehene am Allzu-oft-Gesehenen nagt.

Dyadisch sein, meine Doppelgängerin, ein Clownfisch dicht an seinem Klon, Unica gegen Zürn, begleitet von einem geflügelten Scherzwurm, unsere Schwanzflossen durch Antennen verbunden. Bevor wir unerbittlich eins sind, erwartet uns eine schreckliche Hochzeit.

Schlaffschnäbliger Seelenvogel, all seine Kraft entlädt er seinem Hinterhaupt (ein Federntumor), seinem Rücken (ein röhrenförmiges Flappwerk) und der Ferse eines Beins (ein Riesensporn). Exkrementenwind. Problem von einem, der nichts als Ausgänge dem Eingang gegenüber hat.

Kein Ziel, keine Nachgeburt. Hingesprenkelter Flug als die einzig richtige Gangart. Sie mit einem Eiszeit-Frühling in den Schritten, er mit Mammutrüssel und Krawattenschlinge, an ihre Not gebunden.

Überm Seelenvogelkamm schlägt ein Hitlermond Haken, kreuzt und verhält. In der fahlen Nacht des Lachses war ich ohne Zuflucht. Und deshalb erfand ich: zweiköpfige, farnwedelige Seeungeheuer, präpermische Kobolde, frei von Bewußtsein.

Wie Wolken, die aus schimmeligen Unterseiten grollen, kommen die Anti-Formen: die T-Rex-köpfige Kobra, aus der ein erschrecktes Bärenhaupt pufft. Der kyklopische Biber. Ich zupfe auf unserer Trennung wie auf einer Höllenharfe.

In der Traummilch ein wogender, noctilucaischer Seeteufel, edler Bote aus dem Ozean, der jetzt bis an meinen Mund reicht.

Im Umhang aus springenden Fischen und verzerrten Lippen trete ich auf, Teil von Gottes vernichtendem Profil, strotzend vor ausgemergelten Kreaturen, schreitend wie ein Dinosaurier mit den frühesten Augen des Lebens.

Den Anfang des Sichtbaren zeichnen, wie Abwesenheit etwas gerinnen läßt: bakterielle Apokalypse.

Mohnblumengeister, im Sturm bei verregneter, blutbesudelter Fensterflucht…

Ein Plesiosaurier in freiem Fall, durch Schieferabgründe, damit er hier landet, Gottheit der Verwesung.

Clayton Eshleman, Ypsilanti,Mai-Juni 2005
Übersetzung Jürgen Brôcan

 

UNICA ZÜRN ZU EHREN

Und ich, im weißen Kleid befleckt
ein kecker Bursch von Rabeneltern ausgewiesen
bleckst du in Kleidernischen wie im Festbuch
wer weiß schon, wen die Flecke kleiden.
Wies flucht, hinter dem Rücken ausgeheckt!
Blicke blindkeß ins Aug, flicht den Marderkragen
übers Schulterweiß. Flick niemals Hemdenblicke
ungezürnt, leide, flenn und meide weiße Blicke
geh nicht im wäschesteifen Burschenkleid
nein, bleck das Kragenweiß, soweit es schneit.

Ursula Krechel

 

UNICA ZÜRN

Aber tief in mir drinnen
bin ich sim salu buh
ein grausiger Wolf
eine Schwanzträgerin
wie Barbarossa ein Kon fuh.

Peter Wawerzinek 

 

Natascha Gangl und RDEČA RAKETA: Die Revanche der Schlangenfrau – Klangcomic – beim Droste Festival 2020

Zum 100. Geburtstag der Autorin:

Katrin Bettina Müller: Das Schwermütige zog sie an
taz, 9.4.2016

Nicola Kuhn: Die Gespensterbraut
Der Tagesspiegel, 20.6.2016

Ingeborg Ruthe: Himmelsblau in einer Nussschale
Frankfurter Rundschau, 3.2.2019

Martin Vögele: Faszination der Balance
Mannheimer Morgen, 14.7.2016

Fakten und Vermutungen zur Autorin + KLG + IMDb + Facebook +
Internet Archive + Kalliope

 

Unica Zürn Tribute mit Zeichnungen, Fotos, Porträts und der Musik von Diamanda Galas.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00