Ursula Krechel: Zu Alexander Bloks Gedicht „Die Zwölf – V“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Alexander Bloks Gedicht „Die Zwölf – V“ aus dem Band Alexander Blok: Die Zwölf. –

 

 

 

 

ALEXANDER BLOK

Die Zwölf

V

Katja, hast am Hals ’ne Schramme,
Muß von einem Messer stammen;
Auf der Brust ’nen roten Fleck,
Katja, und der will nicht weg!

Komm, komm, schwing das Bein!
Beinchen will geschwungen sein!

Kamst so fein daherspaziert,
So seidenspitzenfein.
Hast mit Leutnants schon poussiert –
Laß dich mit mir ein!

Komm, komm, laß dich ein,
Hab ein Herz, ist nicht von Stein!

Ja, das Messerchen, es traf
Den Herren Offizier…
Weißt noch, sakra, wie’s ihn traf,
Oder zeig ichs dir?

Oder zeig ichs, zeig ichs dir –
Na? Das Bett steht hier!

Weißt was von Gamaschenstiefeln,
Hast Bonbons gelutscht,
Warst mit deinen Junkern schwiemeln,
Lernst, wie’n Landser knutscht?

Noch ’ne Sünde, eine mehr,
Und das Herz ist fröhlicher!

Übersetzung Paul Celan

 

Die Ungleichzeitigkeit des Jahres 1918

Das berühmteste Werk des russischen Dichters Aleksandr A. Blok ist das Poem Die Zwölf. Es erschien im April 1918. Sogleich wurde es von der sowjetischen Presse gebilligt; es wurde auf vielen Veranstaltungen in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution vorgetragen und gab zu unzähligen Deutungen Anlaß: einmal als ein Preislied auf die Revolution, ein anderes Mal als eine neue Variation des Themas „Schöne Dame“. Am Ende des Poems verschmilzt die „schöne Dame“ mit Christus, der ein Held der Revolution ist. Das Ästhetische, das Religiöse und das Politische fallen in eins. Blok hat selbst diese merkwürdige Konstruktion erklärt und später wohl auch bereut: „Noch muß es Christus sein, da kein anderer da ist.“ Blok ist ein Dichter des Übergangs, aufgerieben im „tragischen Einverständnis mit der Zeit“, wie Paul Celan, der seine Gedichte ins Deutsche übertrug, schrieb. Die europäische Unruhe um die Jahrhundertwende, die Vorboten der russischen Revolution, die Anarchistenattentate und die hoffnungsvolle Erwartungshaltung der russischen Intelligenz blieben nicht ohne Wirkung auf Kunst und Literatur. Symbolismus heißt eines der Zauberwörter in der vorrevolutionären Kunsttheorie in Rußland.
Die Symbolisten, zu denen Blok gehört, bemühten sich um Synthesen, Gesamtschauen in der Kunst. Ihre Anstrengungen richteten sich vor allem gegen ein simples Nacherzählen der Weltläufe, das sich mit der Ausbreitung von echtem Milieu, von tatsächlichen Zuständen und Vorkommnissen zufriedengibt. Die Symbolisten strebten eine Authentizität kosmischer Art an. Der Text sollte im Zusammenstoß der Andeutungen, Analogien und Suggestionen den kosmischen Zusammenhang aller Erlebnisse des modernen Menschen herstellen. So will der Symbolismus einerseits eine „reine“ Kunst ermöglichen und andererseits will er, um mit Aleksandr A. Blok zu reden, „andere Welten schauen“, Blok schreibt 1910:

Ich stehe vor der Schöpfung meiner Kunst und weiß nicht, was ich tun soll. Anders gesagt: was ich mit diesen Welten tun soll, was ich auch mit dem eigenen Leben tun soll, das von nun an Kunst geworden ist, denn seine Schöpfung lebt neben mir – nicht lebendig, nicht tot, eine blaue Vision.

Bloks Weltverständnis ist das eines Visionärs. Der Aufbruch der „analytischen“, eher der Ratio verpflichteten Künstler, der Aufbruch eines Ejzenstejn, Chlebnikov, Majakovskij ist nur in der Reaktion auf den vorangegangenen Zeitstil zu verstehen. Aleksandr A. Blok bestand auf einem mystischen Erleben – auch der revolutionären Vorgänge. Er begrüßte die Oktoberrevolution emphatisch: so wurden endlich die Sünden des Zarenreiches gesühnt.
Während er an dem Poem Die Zwölf arbeitete, glaubte er, einen ohrenbetäubenden Lärm zu hören: „wahrscheinlich das Zusammenstürzen der alten Welt“, wie er ihn selbst deutete. Etwas von diesem Lärm in seinem Kopf, in seinen Gefühlen ist auch in seinem Poem zu spüren, die Dissonanzen des herbeigesehnten Untergangs, die Mischung von Pathos, Gewalttätigem und Burleskem. Daß der Dichter des silbernen Zeitalters überhaupt Partei ergriff für die Bolseviki, ließ viele seiner Kollegen, die schon auf gepackten Koffern saßen, bis ins Mark erschrecken. Blok „horchte auf die Musik der Revolution“ und schrieb:

Die Revolution als schrecklicher Wirbelsturm, als Schneesturm bringt immer Neues und Unerwartetes, grausam enttäuscht sie viele, leicht verschlingt ihr Strudel den Wertvollen und bringt oft unversehrt den Wertlosen ans sichere Ufer, aber das ist ihre Eigenart und ändert weder die Gesamtrichtung des Stromes noch das furchtbare, betäubende Getöse, mit dem er daherkommt. Dieses Dröhnen ist in jedem Fall Ausdruck ihrer Erhabenheit.

Blok ist alles andere als ein Realpolitiker. Die Revolution ist für ihn nur denkbar in ihren kosmischen Dimensionen, als Welttheater; für die Theorie des Klassenkampfes hat er keinen Sinn. So beruhte sein Optieren für die Bolseviki auf einem Mißverständnis. Was er sich erhoffte, konnten sie nie und nimmer erfüllen. Er sieht in der russischen Revolution ein Menschheitsthema, ein chiliastisches Ereignis, vergleichbar mit der Geburt Jesu, dem Beginn des christlichen Zeitalters. Die Revolution ist kosmische Katastrophe und Naturereignis. Trockij, der in Literatur und Revolution so strikt zwischen den Schriftstellern sondiert, hat mit großem Respekt über Blok geschrieben. Er billigte ihm zu, „von dem wirklich mystischen Dunkel der Jahre, die der ersten Revolution voraufgingen und von der unwirklich mystischen Ernüchterung, die ihr folgte“, geschrieben zu haben.
Blok schrieb Die Zwölf im Winter 1918, in den Tagen, die die Welt bewegten. Unter dem Datum des 29. Januar 1918, als Blok das Poem abschloß, steht in seinem Notizbuch: „Ich verstehe Faust. -Knurre nicht, Pudel!“ Durch den Kugelhagel, den Schnee und den plündernden Pöbel bahnen sich zwölf Rotarmisten ihren Weg, während Petrograd von Straßenkämpfen heimgesucht wird. Die alte Ordnung und die neue Ordnung reiben sich blutig aneinander: eine einfache und gleichzeitig geniale Konstruktion. Ein Mütterchen begreift nicht, daß man guten roten Stoff für Spruchbänder verwendet, die Kinder laufen doch barfuß und brauchen Kleider. Ein Bürger gräbt sein Gesicht in den schützenden Mantelkragen, er könnte einen Schnupfen bekommen im Schneegestöber. Eine alte Bürgerin gleitet im Schnee aus, ein Pope ist verdrossen, ein Dichter „schwebt im Äther“, heißt es im ersten Teil. Die Dirnen machen es nicht mehr so billig und verlangen feste Preise. Ein klappriger räudiger Hund erscheint als Symbol der alten Welt, doch jeden Augenblick kann er sich in ein zähnefletschendes Untier verwandeln. Bilder schichten sich übereinander, lösen sich flackernd ab. Einer der Zwölf, Petrjuska, schießt die Hure Katja in den Kopf, weil sie ihn „betrogen“ hat. Bei der Abschaffung des Privateigentums ist ihm entgangen, daß die Hure niemandem gehört, folglich auch nicht betrügen kann. Sie will Bonbons lutschen und Geld im Strumpf. Aber nicht einmal für diese persönliche Erkenntnis bleibt Zeit. Die anderen verwehren Petrjuska die Trauer, jetzt „werden schlimmre Sachen kommen, drum, Genosse, schick dich drein“.
Sind die Zwölf, Geringste der Geringen, mit einem Bein schon im Zuchthaus – zwölf Jünger, von ihrem Herrn in der Dunkelheit am Kreuzweg verlassen? Von ihm in die Irre geleitet? Abgefallen? Nicht triumphal trägt dieser Christus die blutigrote Fahne, eher wie eine Last, wie ein Kreuz auf einem anderen Leidensweg.
Die Rhythmen von Tanzliedern und Romanzen, Revolutionsparolen und Volksliedern werden in Die Zwölf aufgegriffen; Straßenjargon wechselt mit einer lyrisch überhöhten Sprache, die Metrik wechselt mit den auftauchenden Figuren: es ist die Ungleichzeitigkeit des Jahres 1918 in Petrograd.
Das „Hurengeschmeiß“ Katja steht im Mittelpunkt des V. Teils des Poems: ein lockender, tänzerischer, tändelnder Rhythmus, eine Werbung, in die sich schon die Empörung über die eigene Tat mischt. Den beiden betonten indikativischen Strophen stehen Imperative und Fragen gegenüber. Hin und her wird die Frau gezerrt in Wünschen („Komm, komm, laß dich ein“) und Anwürfen („Lernst, wie’n Landser knutscht?“). So bleibt das Gedicht offen. In der Rede des Mannes entsteht das Bild der Frau, nur in seiner Werbung und Verachtung ist sie da, und doch vollkommen deutlich. Zwei Jahre später wollte Blok in den Zwölf keine politischen Verse mehr sehen. Seine Gesundheit ist zerrüttet. Armut und Hunger gaben ihm den Rest. Als er 1921 starb, fast schon ein Klassiker, war er 41 Jahre alt.

Lesarten. Gedichte, Lieder Balladen. Ausgewählt und kommentiert von Ursula Krechel, Luchterhand Verlag, 1982

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