Ursula Krechel: Zu Konrad Bayers Gedicht „die oberfläche der vögel“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Konrad Bayers Gedicht „die oberfläche der vögel“ aus dem Band Konrad Bayer: Das Gesamtwerk. –

 

 

 

 

KONRAD BAYER

die oberfläche der vögel

sagen sie mir doch
muss man über flüsse setzen?
zu welcher stunde?
wo?
sagen sie mir doch
ist da
das schlachthaus?
die gasanstalt?
sehen sie doch
dort oben
hoch oben
aufgehoben
aufgetrieben
vom lichtdurchlässigen
luftstrom
schweben
die vögel
weder kalt noch warm
weder gesehen noch gehört
weder das eine noch das andere
schweben
die vögel
sehen sie doch
oben
dort
in der höhe…
(1957)

 

Fragen und keine Antwort in der Luft

Alles ist gleichzeitig in den Texten von Konrad Bayer. Obwohl die Sätze das zeitliche Kontinuum des Gelesen-Werdens brauchen, sperren sie sich gegen die vergehende Zeit. Jeder Satz ist eine Setzung, eine kategorische Behauptung, die sich notfalls mit Ellenbogen, häufig auf Kosten des vorangegangenen oder nachfolgenden Satzes Raum schafft. Keine Zeit für Entwicklungen, keinen Augenblick für Grautöne gönnt Bayer seinen Gegenständen. Einzelteile werden montiert, manchmal genialisch heranzitiert und nachlässig, als herrsche ein steter Überfluß an ihnen, wieder fallen gelassen. Von allen Tempi das liebste ist Konrad Bayer das Präsens. Es erlaubt die stete Anwesenheit, Gegenwärtigkeit. Was gewesen sein könnte, was berichtet werden müßte, gibt es nicht in seinen Texten. Die Fiktion ist für ihn eine dauernde Erschaffung der Welt. Es gibt keinen Status vor der Erschaffung und keinen danach.
Eine solche Gleichzeitigkeit, eigentlich „Unzeitlichkeit“ aller Teile und Versatzstücke, aus denen die Fiktion besteht, haben nicht einmal die Konstruktionen des literarischen Erfinders par excellence, Raymond Roussel. Dieser vertäut den Prozeß der immerwährenden Fiktionalisierung häufig in einer (erzählten) Vergangenheit der Fiktion. Eine solche ahistorische Gegenwärtigkeit haben auch Märchen, magische Texte, Beschwörungsformeln. Das surrealistische Element in Bayers Texten dient dazu, der sich beim Schreiben, im Erzählvorgang entwickelnden Zeit Widerstand zu leisten, sie aufzustauen, den Prospekt des sich Entfaltenden hochzuklappen und alles, was geschieht, simultan da sein zu lassen.
Literatur bedeutet deshalb für Bayer nicht, die Wahrnehmungen aus einer wie immer gearteten Wirklichkeit einzukreisen, zu ordnen, zu strukturieren. Literatur ist für ihn Konstrukt. Rudimente vertrauter Sprachschichten – österreichisches Raunzen, Höflichkeitsfloskeln, der Gestus des Wissenschaftlichen – wirken in ihr nur noch wie ferne Erinnerungen. Vielfach verlassen sich seine Gedichte auf das Klangbild der Wörter, der wie selbstverständlich herbeizitierten Wörter einerseits; andererseits entwickeln sie durch Wiederholungen einen Zustand vollendeter Gegenwart, einen Ist-Zustand im Zeige-Gestus.
Frageformen, die nicht zu ihrem Ziel, einer Antwort, führen, bestimmen den ersten Teil dieses merkwürdigen, sich allen direkten historischen Zuschreibungen entziehenden Gedichts „die oberfläche der vögel“. Frageformen, schlichteste Bausteine menschlicher Kommunikation, werden mit einer quälenden Beharrlichkeit aneinandergereiht. Fragen, wie sie ein Besucher stellt, der sich in einer fremden Stadt durchfragt, Fragen, die beim Erlernen einer fremden Sprache nach allen Regeln der Grammatik eingeübt werden. Die schöne, volksliedhaft einfache Metapher – durch einen Fluß voneinander geschieden sein – verknappt Bayer zu der formelhaften Wendung: „muß man über flüsse setzen?“ Während die Fragen einem Ort zusteuern – „wo?“ – sich konkretisieren – „ist da / das schlachthaus? / die gasanstalt?“ – an einem Punkt, der nach der ersten tastenden Frage der Annäherung nur als ein Ort des Todes, des zivilisierten Verbrennens und Vergiftens begriffen wird, nimmt der zweite Teil des Gedichts eine unerwartete Wendung. Frage- und Antwortteil klaffen auseinander, nicht nur im Material, sondern auch in der optischen Perspektive. Das horizontale Band des Flusses muß überwunden werden.
In immer neuen Schüben, Ansätzen, die fast an Flugversuche erinnern, lenken die Zeilen des zweiten Teils den Blick in die Vertikale, in eine entfernte Höhe. Das ist in diesem Gedicht wie auch in der Realität eine schwierige Aktion, eine Überzeugungsarbeit, auf der zweifach bestanden werden muß: „sehen sie doch“ – wie im ersten Teil zweifach die Verbindlichkeit einer Antwort eingeklagt wurde: „sagen sie mir doch“. Aber was dann gezeigt wird, wenn der Blick endlich in die Höhe verführt worden ist, ist so unbestimmt, so paradox wie der Titel des Gedichts „die oberfläche der vögel“. Denn der in die Luft starrende Betrachter sähe ja allenfalls die der Erde zugewandte Unterseite der Vögel, ein flächiges, oberflächliches Bild. Die Grammatik verweigert die Konkretion. Das Prinzip des Ausschlusses wird beim Wort genommen: „weder das eine noch das andere“. Die Vögel wollen für sich sein: ein flüchtiges poetisches Bild, Anlaß, den Blick in die Höhe zu lenken, ins Offene.
Solche rhetorischen Fragesituationen, die in keiner „vernünftigen“ Antwort aufgelöst werden, sind im absurden Theater der fünfziger Jahre nicht unüblich; auch in Nonsens- und Kinderversen wird mit solchen vertrauten einfachen Formen gespielt. Konrad Bayer hat immer die Übereinkunft, was Wirklichkeit ist und wie ihr mit Worten beizukommen sei, gescheut. Er ist ein vielfältiger Anreger, Vorläufer, Nicht-zu-Ende-Bringer, einer, mit dessen Pfunden andere wuchern. Seine Texte, Stückvorlagen, Romane, Gedichte, Gemeinschaftsarbeiten mit anderen Vertretern der konkreten Poesie haben nur eine geringe Verbreitung gefunden – und eine sehr spezifische Öffentlichkeit. Woraus andere ein Lebenswerk machten, da ließ er Fragmente stehen.
Konrad Bayer schrieb „die oberfläche der vögel“ 1957; er war damals 25 Jahre alt. Sein Leben und seine literarischen Arbeiten sind eine Aneinanderreihung verschiedener Experimente. Er war sechs Jahre lang Bankangestellter, nachdem ihn – einem autobiographischen Text zufolge – seine Eltern „7 jahre gezwungen (hatten), das geigenspiel zu erlernen“, ihm dann aber ein Studium an der Akademie der bildenden Künste versagten. Bayer beschäftigte sich mit Magie, mit Geheimriten, experimentierte mit seinem Körper; er wollte fliegen können und wunderte sich, daß er sich nicht unsichtbar machen konnte. Seine Einakter, seine kabarettistischen Sketche und Happenings, seine (wenigen) Gedichte und seine Prosaarbeiten sind Zeugnisse einer radikalen ästhetischen Revolte mit der Sprache, in ihr und gegen sie. Anders als seine literarischen Freunde Artmann, Achleitner, Rühm hat Bayer komprimiert, zusammengefaßt, während sie sich mehr und mehr in einer methodischen Equilibristik der Wiederholung erschöpften. Bayer versuchte, das Fragment eines Ganzen oder das Fragmentarische als Ganzes darzustellen: programmatisch paradoxe Weltentwürfe, Scherbengerichte. Er war ein produktiver Unruhegeist, mit der gebrechlichen Einrichtung der (österreichischen) Welt, der Funktion der Sprache, den Möglichkeiten der Literatur höchst unzufrieden. Am 10. Oktober 1964 machte er seinem Leben ein Ende. Er drehte den Gashahn auf.

Lesarten. Gedichte, Lieder Balladen. Ausgewählt und kommentiert von Ursula Krechel, Luchterhand Verlag, 1982

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