Ursula Krechel: Zu Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht „Über das einzelne Weggehen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht „Über das einzelne Weggehen“ aus dem Band Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. –

 

 

 

 

ROLF DIETER BRINKMANN

Über das einzelne Weggehen

Als sie weinte, ging ich
weg, den schmalen Lehmweg
hinunter in den Ort. Eine

Wut, die still ist, trocknet
aus. Jedes Haus war aus-
getrocknet, und darüber die

Milchstraße, die ausgetrocknet
war, für mich viel zu weit
weg, um dorthin zu gehen, bis

sie ging, den einen Schuh
lose am Fuß schlenkernd, weil
der Lederriemen gerissen

war, den Berg hinunter, in
das Zimmer, wo sie stand
und wir uns anschauten.

 

Auf den ersten Blick

Es gibt unzählige Gedichte über das Weggehen aus einer Liebe. Einer bricht auf; eine Frau hört auf, die „liebste“ zu sein; eine Frau bricht auf in eine andere Richtung. Zurückhalten, Weggehen, die Unmöglichkeit, jemanden aufzuhalten, sind eins. Unzählige Gedichte haben diesen verwickelten, mit allen Sinnen verwobenen Schmerzzustand thematisch aufgenommen. Wenn man Lesebücher oder die solid gebundenen Hausschätze deutscher Lyrik durchblättert, könnte man zu der Auffassung gelangen, Abschied von einer Liebe sei einer der am meisten strapazierten lyrischen Topoi und deshalb möglicherweise in der gegenwärtigen Lyrik kaum mehr zu ertragen. Gedichte des jungen Goethe, Gedichte von Mörike, Eichendorff fallen einem ein und immer wieder eine bestimmte Stillage, die hoch und sehr vergangen ist, aber in ihrer milchigen Historizität auch leicht konsumierbar.
Rolf Dieter Brinkmann hat ein ganz anderes, sehr nüchternes, aber äußerst bildkräftiges Gedicht über das Weggehen aus einer Liebe geschrieben. Dieses Gedicht spricht von einem gedoppelten, fast spiegelverkehrten Weggehen. Einer bricht von einer Frau auf, von der in zwölf Zeilen nichts anderes gesagt wird, als daß sie beim Aufbruch weinte. Ging er, weil sie weinte? Weinte sie, weil er gehen wollte? Ertrug er ihr Weinen nicht und wessen Wut trocknete da aus? Der, der aufgebrochen ist, geht, aber die weinende, zurückgebliebene Frau geht auch, unsicher „schlenkernd“. Brinkmann stellt nur ein winziges Detail von ihr vor. Wie in einer ruhigen Kamerabewegung saugt sich der Blick fest und will sich nicht mehr losreißen von dem Detail aus der Beschreibung eines fragilen Aufbruchs, dem gerissenen Lederriemen am Schuh der Frau. Ein Detail, so überaus deutlich, daß das Gedicht von ihm lebt.
Ebenso springt auch der Blick zwischen Nähe und Entfernung wie der Blick einer Kamera. Der Aufbruch führt den schmalen Lehmweg hinunter in den Ort, den Weg begleitet die Milchstraße, aber er ist so weit, daß die größte Entfernung von der Frau nicht weit genug weg führt. Der Mann und die Frau, die aufgebrochen sind aus der Gemeinsamkeit und getrennt weggegangen sind, finden sich am Ende des Gedichts, das eine schöne, ruhige Kreisbewegung beschreibt, in einem geschlossenen Raum, dem Zimmer. Das Kameraauge, der unpersönliche, gelenkte Blick wird still, nach innen gekehrt, wo „wir uns anschauten“.
So verschieden ist dieses Gedicht von allen lyrischen Assoziationen, daß die Bewegung der beiden Menschen in der ausgetrockneten Gefühlslandschaft ganz für sich einnimmt. Brinkmann, der immer auf der Einfachheit, dem direkten Ausdruck eines Augenblicks bestand, hat hier ein Gedicht hinterlassen, das in seiner kunstvollen Einfachheit viele Augenblicke stehenbleiben kann.
Es findet sich in Brinkmanns letztem, kurz nach seinem frühen Unfalltod erschienenen Band Westwärts 1 & 2: ein Gedicht von einer biegsamen Klassizität, die seine früheren poetologischen Äußerungen Lügen straft, zum Beispiel, daß auf eine immer kompliziertere und chaotisch gestörte Außenwelt nur noch widerständisch mit der Spiegelung des Chaos im Gedicht geantwortet werden könne. In diesem Gedicht ist (auch) die Einfachheit, wie sie Brinkmann immer an Songs bewunderte, denen er sehnsüchtig in den angelsächsischen Sprachraum nachstarrte. In Westwärts 1 & 2 geht Brinkmann einen Schritt weiter und einen zurück. Sein Interesse an einer unmittelbaren Wiedergabe von Wirklichkeit, seine Polaroid-Sucht, wie ich sie nennen möchte, wird schwächer. Die Oberfläche der Dinge genügt ihm nicht mehr. Er zerbricht sie. Das Chaos, das sich hinter der glatten Oberfläche verborgen hat, bricht auf: eine nüchterne, hellsichtige Ordnung. Vieles ist gleichzeitig, ein Augenblicksbild genügt nicht mehr. „Mag sein“, schrieb er in der Vorbemerkung zu Westwärts 1 & 2, „daß Deutsch bald eine tote Sprache ist. Man kann sie so schlecht singen. Man muß in dieser Sprache meistens immerzu denken, und an einer Stelle hörte ich, wie jemand fluchte: Ihr Deutschen mit euren Todeswünschen, wenn Ihr sprecht! Bezogen auf die Erfindung der Psychoanalyse stimmt das. Was für ein Entzücken, die Straße hinunterzugehen, während die Sonne scheint.“
„Über das einzelne Weggehen“ ist deshalb ein so erstaunliches Gedicht, weil es den Bildern traut, die es aufnimmt, sie ernst nimmt, wie sie sind, und nicht durch das Vorschieben neuer Bilder – das ist eine Gefährdung Brinkmanns – verstellt. Er, der sich lange und mit aggressivem Hohn gegen ein metaphorisches Sprechen gewehrt hat, überläßt sich hier den Bildern, und die Bilder setzen einen Ernst, einen Reichtum frei, der das Ausschnitthafte des Augenblicks transzendiert. Heißt es bei Celan „Das Auge ist ein Bilderknecht“, so arbeitet sich Brinkmann an den (alten) Bildern ab, dient um sie, und sie werden ihm gefügig, vom gerissenen Schuhriemen bis zur Milchstraße, als lebten sie nur in diesem und für dieses Gedicht. „Ein Denken in Folgerichtigkeiten zeugt längst nicht mehr für ein empfindliches Bewußtsein“, schrieb er 1969 im Nachwort zu Acid, einem Sammelband zur amerikanischen Literatur der Pop-Kultur. Folgerichtiges Denken muß davon ausgehen, daß das Bewußtsein noch nicht demoliert ist. Dem widerspricht unsere Alltagserfahrung aufs entschiedenste. Gewiß kann auch Brinkmann nicht ganz ohne Logik, ohne nachvollziehbare Ordnung in seinen Sätzen auskommen. Sein Denken ist aber durchsetzt und gestört durch Warnsignale, die von der Wirklichkeit aufgezwungen und hervorgerufen werden: die Empfindlichkeit für den Wunsch nach einem einfachen Leben und die permanente Erfahrung des Mißlingens dieses Wunsches in der Geschichte, im Alltag. Nichts anderes reflektieren Brinkmanns Gedichte in übersteigerter, konzentrierter Form.
Was ist das „einzelne Weggehen“? Ist damit die Auflösung dieses einen Paares unter vielen anderen gemeint? Wenn das Ganze nicht mehr erfaßt werden kann, dann doch das einzelne Teil, der gerissene Riemen, die Frikadellenbude, eine Rolltreppe im August, eine Laufmasche an einem Bein. Die Momentaufnahme braucht keine Erklärung, sie will nichts außer sich selbst bedeuten, auf nichts verweisen. Es gibt keine Bedeutung.
Nicolas Born rühmte an Brinkmanns Gedichten, daß „sie dem Horror des Banalen eine ungeheure Wahrnehmungsschärfe entgegengesetzt haben“. Es ist die Wahrnehmungsschärfe dessen, dem jedes Teil gleich wichtig geworden ist, dem die Filter, die rationalen Zuordnungen abhanden gekommen sind, die Übereinkunft des Sehens: auf den ersten Blick, beim zweiten Blick, beim Wiedersehen. Über das einzelne Weggehen duldet keine anderen Bestimmungen als die der Zeit und des Ortes; mit „als“, „bis“, „wo“ beginnen die Nebensätze. Um so bedeutsamer wird der einzige Begründungszusammenhang: „Weil / der Lederriemen gerissen / war.“ Das Banale, Brüchige für sich genommen, jedes metaphorischen Verweisungscharakters entkleidet, ist nicht mehr banal.

Lesarten. Gedichte, Lieder Balladen. Ausgewählt und kommentiert von Ursula Krechel, Luchterhand Verlag, 1982

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