Ute Druvins: Zu H.C. Artmanns Gedicht „Bei Rotwein“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu H.C. Artmanns Gedicht „Bei Rotwein“ aus  H.C. Artmann: Aus meiner Botanisiertrommel. 

 

 

 

 

H.C. ARTMANN

BEI ROTWEIN und legenden
sitzt minstrel hadubrand,
blickt in die laue donau,
der weibchen vaterland.

und er hebt an zu singen
von wasserfeyn ein lied,
von veilchendunklen augen
in sommerschwülem ried.

von einem glatten leibe,
der sich im röhricht zeigt,
wenn hadubrand, er selber,
den nixenwalzer geigt.

wenn sich in abendauen
der glühwurm heftig regt,
hat hadubrand der minstrel
sein lied zurecht gelegt.

da steht er am gestade
mit seiner violin,
der bogen fiedelt magisch
über die saiten hin.

zu wien auf der piazza
erhebt sich stolz ein haus,
es hält ein echter kaiser
das ohr zum fenster raus.

juchheissa, ihr zigeuner,
hier wallt gar wildes blut,
die fiedel läßt zur ader,
bringt haut und herz in glut!

des stephansdoms geläute
vergeht vor diesem klang,
was ohren hat, das lauschet
dem zauberischen klang.

den taktstock unterm arme
steigt auf der donaugreis,
er suchet nach der tochter,
sein haupthaar sträubt sich weiß.

er stolpert über frösche,
kommt unken in die quer,
tritt einen salamander,
mäandert hin und her.

sein kind ruft er vergebens,
die eule merkts beim bier,
das macht ihn arg verdrossen
wie weiland könig lear.

es träumt ein leeres bette
im kühlen donaugrund,
die schläfrin weilt woanders
um mitternächtge stund.

wo wird sie denn grad weilen?
so fragt minstrel hadubrand!
der wirds am besten wissen,
weil er dies lied erfand..

 

Sänger verführt Nixe

H.C. Artmanns Sammlung von Balladen und Naturgedichten Aus meiner Botanisiertrommel, aus der das vorliegende Gedicht stammt, erschien zur Buchmesse im Herbst 1975. Zur selben Zeit kamen neben einer ganzen Reihe von Lyrikbänden mit Enzensbergers Mausoleum, Novaks Balladen vom kurzen Prozeß und Delius’ Bankier auf der Flucht weitere Balladenbücher auf den Markt. Die Literaturkritiker waren für das Anwachsen der lyrischen Produktion, zumal im schon zum soundsovielten Male totgesagten Genre des Erzählgedichts, so dankbar, daß einer von ihnen – Rolf Michaelis in der Zeit – dieses Jahr in Anlehnung an klassische Vorbilder sogleich zum ,Balladenjahr‘ ausrief. Artmann, mitschwimmend im literarischen Trend? Liest man Michaelis’ Rezension genau, so hat man schnell eine Antwort: Die These, daß die vier Autoren denselben Zugang zur Realität hätten, daß sie allesamt nach „Dokumenten, Materialien, Protokollen der Wirklichkeit“ suchten, paßt auf Artmann nicht, und auch die Betrachtung der Artmannschen Gedichte bleibt als einzige merkwürdig ungenau, klischeehaft – der Rezensent weiß mit den Texten wenig anzufangen. Auf solche Hilflosigkeit gegenüber dem Autor wie dem Werk trifft man häufig; den Grund dafür nennen heißt, einen Topos der literaturkritischen und literaturwissenschaftlichen Artmann-Rezeption aufgreifen: Da ist ein Werk (Gedichte, Erzählungen, Tagebücher, Theaterstücke und vieles mehr), das sich in seiner Vielfältigkeit nicht auf eine handliche Formel reduzieren läßt, da ist ein Autor, der ob seiner ständig wechselnden Posen als ,Chamäleon‘ oder ,Proteus‘ apostrophiert wird. Und der Topos hat seine Berechtigung!

Husar oder Surrealist, Volksdichter oder sich barockisch unterwerfende Kreatur, Agitator oder chinesischer Hofdichter, Weltreisender oder Wiener Vorstadtpoet, ruheloser Wanderer oder stadtbekannter Bürger, Rauf- und Trinkbold oder empfindsamer Lauscher an Nachtigallenschnäbeln, Donaumonarchist mit antisemitischen Neigungen oder anarchistischer Freigeist, galanter Liebhaber oder Carrasco der Schänder.

Dieser Versuch einer Annäherung von Peter O. Chotjewitz spiegelt in seiner Buntheit Verwirrung wie Vergnügen, und das sind die beiden wichtigsten Elemente der ,H.C. Artmann-Atmosphäre‘. Literaturwissenschaftliche Beschäftigung tut sich da schwer, zumal wenn sie auf umfassende Überblicke aus ist. Zwar gibt es schon anregende Thesen zu einer Gesamtdeutung (etwa von Jörg Drews), aber gerade bei einem Autor wie H.C. Artmann scheint es mir wichtig, sich auf viele einzelne der so unterschiedlichen Texte einzulassen – natürlich in dem Bewußtsein, jeweils nur eine ganz kleine Probe gekostet zu haben.
In der Ballade „Bei Rotwein“ gibt Artmann sich volkstümlich. Die Staffage baut er aus traditionellen Motiven der Volksliteratur auf: einem fahrenden Sänger und einem König, Nixen, Zigeunern und Wassermann, historischen Schauplätzen und naturmagischen Elementen. Mit einfacher Syntax, regelmäßigem Strophen- und Zeilenbau, simplen Reimen, verschiedenen Archaismen sowie überraschenden Handlungsbrüchen und Schauplatzwechseln trifft er genau den schlichten Ton der Volksballade. Jedoch haben wir es nicht mit einem naiven Wiedererweckungsversuch zu tun, der ungebrochen die Sagen- und Märchenwelt neu erstehen läßt. Die fiktive Wirklichkeit, die der Autor hier erschafft, ist nämlich nicht nur durchsetzt mit Partikeln, die den schlichten Rahmen sprengen – etwa die Erotika oder die Bildungsreminiszenzen –, sie ist auch mit großer Kunstfertigkeit inszeniert, d.h. so zusammengesetzt und präsentiert, daß ein naiv-ungebrochener Genuß nicht zustande kommen kann, zu viele kleine Fußangeln, winzige Widerhaken stellen sich einem glatten Rezeptionsvorgang in den Weg, lenken ihn m unerwartete Richtungen, irritieren.
So ist hier zwar – wie in der lyrischen Sonderform ,Ballade‘ üblich – Handlung dargestellt, die Handlungsträger lassen sich leicht ausmachen, und auch die Schauplätze sind relativ einfach bestimmbar. Jedoch: es gibt keinen im engeren Sinne erzählbaren Inhalt. Macht man die Probe aufs Exempel, findet man sich bald im verwirrenden Spiel mit den Erzählebenen und Erzählhaltungen nicht mehr zurecht. Die ersten fünf Strophen scheinen zunächst keine Probleme aufzugeben: Erzählt wird von einem Sänger und seinem Gesang, welcher mit der an klassische oder romantische Balladen erinnernden Technik des ,Lieds im Lied‘ dargeboten wird. Wir haben es also mit zwei Erzählebenen zu tun, derjenigen der Balladen-Handlung (1–5 und 13–20) und derjenigen des Liedes (6–12). Schwieriger ist die Einordnung der drei Mittelstrophen. Berichtet wird von der Reaktion auf das Lied, gewiß, aber auf derselben Erzählebene wie in der ersten Strophe, oder haben wir hier wieder das Lied vor uns? Und wem ist der Ausruf (25–28) in den Mund gelegt, dem Sänger, dem Kaiser? Ähnliche Rätsel gibt die Einordnung des zusammenhängenden Geschehens in den letzten Strophen auf. Das Verschwinden der Nixe könnte, ordnet man es der Balladenhandlung zu, ebenfalls als Reaktion auf das Lied gedeutet werden, ebensogut kann die Handlung um die Wassergeister aber auch Inhalt des Liedes sein, zur zusätzlichen Verwirrung trägt die geheimnisvolle Andeutung in Strophe 3 bei. Die letzten, desillusionierenden Verse der Ballade verweisen eindeutig auf die zweite Variante, aber von hier aus erheben sich sowieso neue Zweifel: ist nicht das gesamte Geschehen, mit Ausnahme der Rahmenstrophen 1 und 13, als ,Lied im Lied‘ zu verstehen?
Nicht weniger verwirrend ist das Spiel mit den Erzählhaltungen, durch das zusätzliche Irritationen subtil inszeniert, raffinierte Zwischentöne fast unmerklich erzeugt werden. Beispielsweise in den drei mittleren Strophen, die ja schon dadurch, daß man sie verschiedenen Erzählebenen zuordnen kann, unterschiedliche Färbung annehmen. Dieser Effekt wird durch Artmanns ,Sprach-Alchymie‘ noch verstärkt. So scheint die sechste Strophe mit der genauen Ortsangabe und dem Auftritt eines „echten“ Kaisers die Szenerie einer österreichischen Volkssage zu entwerfen, in entsprechend naivem Ton. Komisch-verfremdende Wirkung wird jedoch durch die witzige Montage in Zeile 21 erzeugt, und vollends läßt die Wahl des Adjektivs in Zeile 23 die gesamte Szene in ironischer Beleuchtung erscheinen. Auf diese Weise sensibilisiert, entdeckt man den eigentlichen Bildgehalt der abgesunkenen Metaphern in den beiden anderen Versen neu – die auf den ersten Blick harmlos wirkenden Zeilen können so gelesen den komischen Effekt noch verstärken. In der siebten Strophe, die zunächst ganz unverdächtig als Ausdruck überbordender Lebensfreude dasteht, wirkt bei näherem Hinsehen die gleich zweifache Verwendung einer Alliteration zu raffiniert, die Metapher in Zeile 27 zu gesucht – der temperamentvolle Ausbruch soll offensichtlich als geschickt inszenierte Pose erkennbar bleiben. Ähnliches gilt für die in ganz anderem, nämlich betont schlichtem Ton gehaltene folgende Strophe, die unübersehbar an das romantische Loreley-Motiv anknüpft. Der Widerhaken steckt hier in der überzogenen Schlichtheit des identischen Reims. Diese Unbeholfenheit ist gewollt, das naheliegende passende Reimwort kann man in -zig Balladen nachlesen. Auf solche Weise wird signalisiert, daß die artifizielle Einfachheit romantischer Kunstballaden neu in Szene gesetzt und gleichzeitig ironisch gebrochen wird. Und trotzdem – auch wenn man Artmanns Verfahren durchschaut hat, ist man als Leser nicht festgelegt, kann man den Text ,naiv‘ oder ,wissend‘ lesen, wie bei einem Vexierbild einmal diese und einmal jene Gestalt erscheinen lassen. Es sind nicht zuletzt diese Effekte, die das Lesevergnügen ausmachen.
So wie Artmann vergangene Balladentöne und -formen virtuos handhabt, vertraut und distanziert zugleich, so präsentiert er auch längst tot geglaubte Stoffe und Motive neu, kombiniert das Sänger-Motiv mit dem Melusinen-Stoff, vermischt beide mit Anklängen an den Loreley-Mythos. Die Gestalt des Sängers, komisch bestückt mit einer Berufsbezeichnung, die ans mittelalterliche England erinnert, und mit einem Namen, der auf Althochdeutsches verweist, gehört keinem bestimmten, sicher aber einem längst vergangenen Zeitalter an. Sie repräsentiert etwas, das in den Liedern Oswalds von Wolkenstein oder François Villons greifbar war, in den Sänger-Balladen der Klassik und Romantik aber nur eine untergeordnete Rolle spielt: Sinnlichkeit. In dem Lied wird die erotisierende Wirkung von Natur und Naturwesen beschworen, aber hier ist nicht mehr ein Mensch den naturmagischen Kräften hilflos ausgeliefert, sondern der Leser erfährt schmunzelnd, daß der Sänger es ist, der diese Atmosphäre erschafft. Benutzt werden dabei verschiedene Elemente naturmagischer Balladen, jedoch in schwül-sinnlicher Variation bis hin zur sexuellen Anspielung an der Stelle, wo Umstände und Inhalt der Lied-Produktion ununterscheidbar ineinander übergehen, Ried, Röhricht und Abendauen in eine Vorstellung zusammenfließen. Der Sänger erscheint jetzt als Magier der Töne, der in der von ihm erzeugten Stimmung selbst gefangen und erotisch stimuliert wird, wie das Naturbild zu Beginn der vierten Strophe andeutet, dessen sexueller Gewalt offenkundig ist. Der eigentliche Clou der Ballade aber liegt darin, daß ein Sänger durch den Zauber seines Gesangs eine Nixe betört! Dies ist nicht nur komische Umkehrung des Loreley-Motivs, sondern auch zugleich seine Entschärfung und umdeutende Neubelebung.
Entschärft wird dieses Motiv, indem ihm die bedrohliche Dimension genommen wird. Die Nixe stand von jeher für die verstrickende und verderbenbringende weibliche Erotik, tiefenpsychologische Erklärung deutet sie als männliche Angstprojektion (verschlingend, dabei kalt). Hier nun ist die Wasserfrau diejenige, die sich erotisch faszinieren läßt, und der Sänger ist es, der als Verkörperung, vor allem aber als Schöpfer von Sinnlichkeit in den Mittelpunkt rückt! Durch diese Umdeutung des Loreley-Mythos entsteht ein neuer Dichter-Mythos, in dem sinnfällig ins Bild gefaßt wird, was für Artmanns Werk allgemein ganz zentral ist:

die Restitution der Sinnlichkeit der alten Literatur. (Drews)

Und es scheint durchaus legitim, noch einen Schritt weiter zu gehen und in diesem poetischen Spiel mit der Rolle des Sängers eine Selbstinszenierung des Dichters H.C. Artmann zu vermuten: der Dichter als erotischer Verführer. Solches Rollenspiel wird im übrigen in anderen Gedichten der Sammlung Aus meiner Botanisiertrommel wiederholt und phantasievoll variiert, unter den wechselnden Masken findet man gleich anfangs den tändelnden Minne-Sänger oder den galanten Rokoko-Dichter. Jedoch wird in unserem Gedicht auch diese Pose nicht ungebrochen präsentiert, die Distanzierung wird gleich mitgeliefert, und zwar auf vielfältige Weise.
Da sind die geheimnisvollen Eingangsverse, schwer entschlüsselbar, aber so viel verratend: Nicht die als fad beschriebene Natur vermag den Sänger zu stimulieren, doch auch die sagenhafte Überlieferung aus alten Zeiten reicht nicht aus, es bedarf zusätzlich des alkoholischen Rauschmittels. Und da ist die Darstellung der zunehmenden erotischen Erhitzung, die der Erzähler auf merkwürdige Art komisch bricht, wenn in jeder der vier Strophen das Aphrodisiakum, also der Vorgang der Liedproduktion, in immer neuen Wendungen bewußt gemacht wird: Die ganze Szene erhält dadurch einen Beigeschmack angestrengter Bemühtheit. Und zu alldem setzt der Autor dann in der letzten Strophe mit der Anleihe bei studentischen Ulkliedern in Eichrodtscher oder Scheffelscher Manier noch das unübersehbare Signal, alles nicht zu ernst zu nehmen. Insgesamt und zumal mit – abschließendem – Blick auf die leicht melancholische Wassermann-Handlung gilt: Die Leser sollen das Spiel mit der Sprache genießen, etwa die Plastizität, mit der das kaltklitschige Interieur des Wasser-Reiches versinnlicht wird (Strophe 10). Sie sollen die vielfältigen literarischen Anspielungen auskosten, ohne bedeutungsschwangere Assoziationen überzustrapazieren. Dies demonstriert der Erzähler etwa in der elften Strophe, in der die mögliche Tragik der Vater-Gestalt mit der Nennung des Namens Lear angedeutet, im selben Augenblick aber zurückgenommen wird durch den Nonsense-Einschub in Zeile 42 und den komischen Reim „bier/lear“, so daß die naheliegenden Assoziationen an die Heide-Szene des Shakespeare-Dramas zwar vage geweckt, aber dann doch wieder überlagert werden. Spätestens mit der Pointe der letzten Strophe wird klar: Das Spielerische überwiegt.
In Artmanns Tagebuchaufzeichnungen vom Herbst und Winter 1963, veröffentlicht unter dem Titel Das suchen nach dem gestrigen tag oder schnee auf einem heißen brotwecken, findet man unter dem 26. Oktober die Eintragung über Buttericks Zauberladen: In der Beschreibung so skurriler Gegenstände wie Teufelsseife, Katzenschwanz oder Schlangenhut tut sich eine phantastische Welt auf, ein Fundus, der für Artmann überaus kostbar sein muß, denn er wünscht sich ihn am Schluß als Grundlage für die neue Kunst. Diese Tagebucheintragung weist über das einprägsame Erlebnis hinaus auf H.C. Artmanns Verhältnis zur Wirklichkeit und gleichzeitig auf die Eigenart der dargestellten Wirklichkeit im Werk. Nicht die uns unmittelbar umgebende, in pragmatischer Sprache beschreibbare Realität interessiert den Autor. Er sucht die – in welcher Weise auch immer – artistischen und artifiziellen Erscheinungsformen von Welt, etwa die des Films, des Schlagers, der Trivialmythen, vor allem aber der Literatur, deren vergangene Formen vom Minnesang bis zum Surrealismus er aufgreift. In besonderem Maße gilt dies für die Zusammenstellung der Sammlung Aus meiner Botanisiertrommel. Hier scheint ein Butterickscher Fundus geplündert worden zu sein, die Töne, Formen und Themen sind so bunt und vielfältig wie die magischen Dinge im Zauberladen.

Ein Triton, ein Pinguin, eine Fee und ein Anachoret, Jules Verne und Fantômas, Diebe, Imker und Intelligenzler, ein Gnom, ein Senn, ein Czar, ein Anarchist, ein Sänger, der Lothar heißt, ein Haziendero (h. c. iendero) – das sind nur einige der Personnagen, welche die ebenso elysische wie handfeste Landschaft dieser Gedichte bevölkern. (Zitat aus dem Verlagsprospekt)

Artmann schafft eine Gegenwelt, deren Impulse Urs Widmer als „Reaktion auf die naßforsche Welt der Technokraten“ deutet. Diese These hat zugleich Erklärungskraft für die Wirkungspotenzen Artmannscher Texte, heute vielleicht noch mehr als bei ihrer Formulierung vor zehn Jahren. Das gilt ebenso für die im selben Band publizierte These von Jörg Drews, der die politischen Implikationen von Artmanns unpolitischer Dichtung betont:

sie ist der literarisch-utopische Hinweis darauf, daß jeder potentiell mehr Rollen, mehr Charaktere, mehr Lebensmöglichkeiten in sich hat, als der Alltag durchzuspielen erlaubt, den der Leistungsdruck rigoros unter Kontrolle hält.

Die Flucht in eine poetische Gegenwelt wird also verstanden als politische Oppositionsgeste, und auch der Nonkonformismus des Autors wird häufig als bewußte gesellschaftliche Verweigerung gewertet. Mögen solche politischen Deutungen auch die Intentionen H.C. Artmanns quasi ,gegen den Strich bürsten‘, so zeigen sie doch, welche Wirkungen die phantasiereichen Dichtungen und die faszinierenden Dichterposen entfalten können. Kleinster gemeinsamer Nenner ist dies: Projektion für Sehnsüchte und Wünsche des datenverarbeiteten, medienverdummten Gegenwartsmenschen zu sein.
Steckt aber in den Gegenentwürfen von Welt, die ausschließlich von traditionellen Mustern leben, nicht die Gefahr, sich in rückwärtsgewandte Utopien zu verlieren? Das ist bei ungebrochenem Wiederaufgreifen nicht auszuschließen. Zumindest aber erschöpft sich das Lesevergnügen, z.B. bei Artmanns Barock-Epigrammen „Vergänglichkeit und Auferstehung der Schäfferei“, recht rasch. Lebendig, phantasieanregend und gegenwärtig können nur solche Texte sein, die wie die Ballade „Bei Rotwein“ die Neu-Inszenierung virtuos vorführen, aber gleichzeitig brechen. Die bloße Sehnsucht nach dem „Reichtum von Welt […], der vielleicht bald unwiederbringlich dahin ist“ (Drews), macht unproduktiv. Nur wenn die Vergeblichkeit dieser Sehnsucht mitgedacht wird, wird sich die Phantasie auch auf Gegenwart und Zukunft richten. Eine Menge solch lustvoll anregender Texte ist im umfangreichen Werk des Dichters zu entdecken: dies ist eine Aufforderung, H.C. Artmann-Leser(in) zu werden. 

1

Ute Druvins, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982

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