Uwe Dick: Zu Uwe Dicks Gedicht „Szenenwechsel“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Uwe Dicks Gedicht „Szenenwechsel“ aus dem Band Uwe Dick: Ansichtskarten aus Wales. –

 

 

 

 

UWE DICK

Szenenwechsel

Der Schattenkönig naht.
Sein Szepter schwarz, die Pappel.

Kurztagetouristen
fliehen in den Bus.

Fort schnorrt er. Kulisse
wird wieder Landschaft.

 

Szenenwechsel: Erfahrungen mit Erfahrungstexten

Eine meiner ANSICHTSKARTEN AUS WALES, zu Papier gebracht im Winter 1976: nach Autostop- und Fußreisen durch das Land an der Irischen See – 1970 und 1974.
Doch gleich zu Beginn sei’s klargestellt: auch Bilder, die ich zu anderen Zeiten und in anderen Regionen einbrachte – auf den Hebriden, den Färoer-Inseln, den Arans, in Jütland oder im Innviertel; nicht zu vergessen die Er-Äugnisse beim Lesen von Dichtung – wurden beim Schreiben neu geschaut, in Beziehungen gesetzt, sprachlich ausgeformt, kurz – gestaltet.
So könnten einige ANSICHTSKARTEN – „Szenenwechsel“ beispielsweise – durchaus unter Reisebildern aus Holland oder Slawonien sich finden. Denn unterwegs im fremden Lande treffe ich ja nicht nur auf das Typische, das Unverkennbare – sondern auch auf Vertrautes, Gemeinsames, auf das (vermeintlich) Allzubekannte.
Beides meldete sich zu Wort, als ich an einem Januar-Morgen 1976, frei von Alltagskram, Geldsorgen und unproduktiven Ablenkungen anderer Art, eine Reise in meinen Kopf begann, um wieder einmal zu erfahren, was ich denn nun wirklich (Be-)Nennenswertes erfahren hatte. Erfahrungen läppern sich nämlich keineswegs von alleine zusammen; sie wollen erarbeitet sein. Gegen Widerstände unterschiedlichster Natur, insbesondere aber gegen den Widerstand der Wörter, denen der Bequeme rasch erliegt. Und je bequemer ein Mensch, desto weniger Erfahrungen gewinnt er. Zu lasch für Schmerz und Lust, gewöhnt er sich – und wird gewöhnlich. Entsprechend sieht sein Leben aus. Leben? Ohne Kreativität? (Zum Beispiel beim Lesen?)
Womit ich wieder beim Verbraucher bin, für den auch Landschaft ein Konsum-Artikel ist. Übrigens nur die erhabene, bizarre, kontrastreiche Landschaft: „Herrjott, is det’n Panorama!“
Nicht viel anders der Zeilenkilometerfresser, der durch Bücher rast, versessen auf Handlung; auf außerordentliche, sich überschlagende, versteht sich. Gedichte? „Ach, da passiert doch nichts! Zumal bei diesen Modernen, die sich hinten nicht mal reimen.“ Der Baum, der Fluß, der Mond, die Glorie des Lebens?
„Nun-ja!“ sagen sie kalt. „Hier ist doch nüscht los.“ Und ab und davon zum nächsten Dunnerlüttchen.
Nein, für die – schreib ich nicht.
Für wen dann?
Für mich. Zu meiner – ich betone: privaten – Unterhaltung. Und nur einen kleinen Teil dessen, was ich schreibe, adressiere ich gelegentlich – in einem späteren Arbeitsgang – als Buch oder Sprechplatte an jene Menschen, die gleiches oder ähnliches suchen, wie ich.
Keineswegs also setzte ich mich – damals im Januar – in der Absicht an die Maschine, ANSICHTSKARTEN AUS WALES zu schreiben. (Der Titel ergab sich erst, als die Mehrzahl jener Texte vorlag.) Nein, ganz anders. Zuerst war da die Parodie auf einen seriellen Kurzgedichteschreiber, einen Wortkunstgewerbler, der, begabt aber zu schnellfertig, Wohlstands-Tautologien fabrizierte, und sie, höchst clever, einem großen Verlag andrehte. Und die „Kritik“, überwältigt von dieser Größe, haute es erst einmal um.
Nun, die Mache dieses Machers hatte ich bald heraus. Wohl eine Stunde mochte ich dahin-parodiert haben (zu meiner Unterhaltung), als mir der Vorrat solcher Laune zu Ende ging.
Schneetreiben. Dösen durchs Atelierfenster und – – – Abfahrt nach innen.

Erinnerungen steigen auf:
Es stöhnt das Tier, die Dämmerung, das Meer.
Ins Gegenlicht stemmt sich die Krüppeleiche.
Sie droht mit schwarzer Mispelfaust.
Fischreiter tauchen aus dem Traumsee.

heißt es in THERIAK, 13 Fügungen, einer früheren Arbeit. Es bilderte wieder einmal. Einst gab ich dieser magischen Kraft nach, schrieb mit, knüpfte riesige Bildteppiche.
Reisen – wurden es stets. Reisen durch konkrete geographische Landschaften ebenso, wie durch mythische, dichterische Welten. Aber jetzt, aus der Parodie heraus – persiflierend hatte ich mich warm geschrieben – reizte mich die Kurzform.
Also unterbrach ich den Bilderreigen, griff ein, organisierte, versetzte, baute Zitatanschlüsse, verfremdete. Zu konzentriert bin ich bei solcher Arbeit, als daß ich dabei mein eigener Reporter sein könnte. Mancher Text wurde dreißig-, vierzigmal und öfter umgeformt, angereichert und wieder gekürzt. Andere wieder… Aber was weiß ich schon zu sagen über die meist unbewußten Tätigkeiten vor einer Niederschrift? Entsteht nicht manche Zeile im Gespräch? Beim Fahrradfahren? Oder kurz vor dem Einschlafen?
Nicht immer ist das Notizbuch zur Hand. Vieles vergeß’ ich. Was mich aber nicht beunruhigt: weil sich „wichtige“, mir wesentliche Sätze, wiedermelden. Über Büchern, beim Chiantitrinken, bei Musik… … Vor allem aber, wenn ich in eine Gesellschaft von „interessanten Persönlichkeiten“ geraten, also völlig allein und ungestört bin.
„Szenenwechsel“. 21 Wörter zu sechs Zeilen, schrieb ich, wie man sagt, „auf einen Satz hin“.
Zwei, drei Striche Korrektur, fertig. Ein Zwei-Minuten-Gedicht?
Und die Vorarbeiten der Phantasie?
„Der Schattenkönig naht.“ – Ist er nicht der Thronfolger von „König Finster“, aus THERIAK?

„Sein Szepter schwarz, die Pappel.“ – Schriebst du nicht Jahre zuvor: „… und Pappeln. Schwarze Schwerter, himmelwärts gestellt.“ Und sahst du die Pappel nicht jüngst wieder: als Schreibfeder am Horizont, in irgend einem Tintenfaß-Hügel steckend?
„Kurztagetouristen fliehen in den Bus.“ – Wo in Schottland oder Wales oder Cornwall hing denn das Täfelchen: „short-day-tour“? Die Übersetzung und Umformung des Wortes, war sie nicht vorbereitet durch den alljährlichen Anblick von Hopp-hopp- und Sightseeing-Groups auch in München, Berchtesgaden, Oberammergau? Würstchen-knack und Fotoklick und alles einsteigen bitte?
„Fort schnorrt er.“ – Du suchtest ein Schallwort, das Motorgegrolle nachhall-tig zu intonieren, und, wer weiß, ob nicht das Geschäftsmäßige dieser Bus + business-Fahrt und die Klangverbindung jenes „schnorrt“ aus dem Gedächtnis abriefen. Schnorrt und fort. Schnorrt von Schnorrer, Schmarotzer.
Sicher waren und sind da noch andere Gedankenverbindungcn im Spiel – bis hin zum „Fliehen“ der Positivsten vor den Schatten- und Nachtseiten des Lebens. Doch nur für den klingt solches mit an, der ähnliche Erfahrungen hat.
Für jedermann einsichtig hingegen dürfte die Welt der Bühne sein: Szene, Kulisse. Auftritt des Schattenkönigs, Abtritt der Heran(e)chauffierten, Zurückverwandlung der Landschaft.
Kurz und eindeutig genug ist die Miniatur, als daß man mehr hinein- oder herauslesen sollte:

SZENENWECHSEL

Der Schattenkönig naht.
Sein Szepter schwarz, die Pappel.

Kurztagetouristen
fliehen in den Bus.

Fort schnorrt er. Kulisse
wird wieder Landschaft.

Fände sich ein unerwünschter Nebensinn, der Text wäre nicht fertig.
Ansichtskarten?
Den Titel wählte ich, weil nun einmal Ansichten vorherrschen. Nur wenige Wochen im Dylan-Thomas-Land, darf ich mir nicht einbilden, ich sähe bereits durch! Der Vordergrund bestimmt die Reiseskizzen. Und der Leser, der nicht wie ein Kurztagetourist von Ansicht zu Ansicht hastet, mag bemerken, daß ich, der Seh-Fahrer, im ersten Text des Bandes Abschied nehme auch von meiner bis dato erfahrenen Küste des Langen Gedichtes, daß ich während der nun folgenden Erkundungsgänge vom Meer auf mich selbst zurückgeworfen werde, daß ich mit dem „Szenenwechsel“ von inneren Monologen zu Du-bezogenen Texten überwechsle, zu gesellschaftskritischen mitunter, bis hin zur Schlußkadenz, der Huldigung an einen höchst lebendigen Toten: Dylan Thomas.

Keine lose Folge also, sondern wieder einmal – ein durchkomponiertes Buch. Und da ich nicht trenne zwischen Literatur und Leben, vielmehr nachweislich mein aufgezwungenes Dasein zum Gesamt- oder bescheidener: zum Lebenskunstwerk gestalte, ist es nur logisch, wenn sich meine Erfahrungstexte zugleich als eine Reise durch den Formenschatz alter und neuer Lyrik erweisen. Bin nun mal kein Wortgewerbetreibender. Und darum auch nicht „im Geschäft“. Ich kann warten, habe Zeit: Kurztageschreiber fliehen in den Bus. Fort schnorrt er. Nach Frankfurt. Kulisse wird wieder Landschaft.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00