Uwe Grüning: Innehaltend an einem Morgen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Uwe Grüning: Innehaltend an einem Morgen

Grüning/Butzmann-Innehaltend an einem Morgen

DIE ARCHE

Als ich das Schiff betrat, blinkte
noch der Ararat über den Wassern,
und die Oliven an seiner Flanke
hatten die Friedenszweige mit Früchten behängt.
Der Regen ließ sie verfaulen.

Hoffnungsbeladen
fand ich das Schiff,
aber Liebe und Glaube
waren nicht in der Arche.

Vierzig Tage
währte die Flut.
Nun aber, wo sie
hinter den Hügeln verstummt
und die vergessenen Länder
aufsteigen erneut aus den Wassern
verschlammt, aber fruchtbar,
bringt statt des Ölzweigs
die Krähe das Lebenskraut.

So ruht
ein wenig aus, ehe ihr eßt,
tapfere Zimmerer!
Legt schon die Äxte zurecht,
legt die Waffen zu Häupten!
Ihr werdet
um dieses Bitterkraut Leben – ich weiß es –
euch töten, sobald ihr erwacht.

 

 

 

Uwe Grüning artikuliert in seinen Gedichten

ein humanistisches Grundanliegen: Er befaßt sich mit dem von Ängsten befreiten Heimischwerden des Menschen auf dieser Erde. Die existentiellen Situationen des Menschseins gestaltet er in Natur- und Landschaftsgedichten voller Farbe und Glanz. Er beobachtet genau die Grenzwerte des Lichts und der Temperatur, hält das Prozeßhafte fest. Die Reisegedichte beschreiben Erlebnisse und Alltagsentdeckungen, aber auch „Seelenreisen“ in die Geschichte, die Philosophie und die Welt der Mythen. Auf Reisen begegnen uns Menschen und Orte, aber auch die Musik vergangener Jahrhunderte, Werke der Malerei und der Literatur. Einen neuen Ton hat der Autor in Gedichten über das Altern gefunden: dem Lebensende wird nicht nur mit Trauer entgegengesehen; in der Reife des Alters entdeckt Grüning Lebensgewinn. Das Auskosten der dem alten Menschen verbliebenen Lebensfreuden steht im Vordergrund und die Wichtigkeit der zwischenmenschlichen Zuwendung wird hervorgehoben. Stoffe und Motive aus der antiken Mythologie, aus dem Alten Testament und Volksstoffe regten Uwe Grüning zur erneuten Gestaltung an. Er greift auf die alten Quellen zurück, um zum Verständnis heutiger Menschheitsentwicklung zu gelangen.

Union Verlag, Klappentext, 1988

 

Innehaltend an einem Morgen

– Zu einem neuen Gedichtband von Uwe Grüning im Union Verlag Berlin. –

„… und als ein gleiches gilt uns das Durchlittene und das Erträumte.“ Uwe Grüning in Moorrauch

In den Händen halte ich einen kleinen Stapel von Zetteln, bedruckt mit Gedichten von Uwe Grüning, die mir bisher unbekannt waren, die Blätter auseinandergeschnitten aus den großen Vorabdruckbögen für einen neuen Gedichtband. Dazwischen ein paar schemenhaft-dunkle Bilder, Radierungen von Manfred Butzmann. Ich ordne sie sorgsam nach den Seitenzahlen, lese, lese wieder. Die Blätter fallen mir aus den Händen, und dann lese ich sie ganz einfach, wie sie der Zufall mir ordnet, und jedes einzelne Gedicht wird zum kleinen Kunstwerk, und manches wird ganz wichtig, vieles anderes lese ich schnell, überblättere es und finde ein neues ansprechendes. Jedes Gedicht hat seine Zeit, wie Empfindungen, Erlebnisse ihre Zeiten, ihre Orte haben – Enttäuschungen und Zuwendungen, Einsamkeit und Zärtlichkeiten, Durchlittenes und Erträumtes…
Das ist der Vorteil dieser losen Blätter, das Unvoreingenommensein. Ich lese: „Der Sommergarten“, „Der Oktobergarten“, „Novemberfrost“, „Hinterlassenschaft eines Junitages“, „Oktoberblüte“, „Sintflut“, „Und fand sie schlafend“, „Friedhof im Ghetto“, „Abreise und Ankunft“, wieder: „Ankunft“ oder „Erinnerung an mein Leben“, „Rechtfertigung meines Lebens“:

Spiegel in des Spiegels Scherbe:
Träume trösten und bedrohn.
Spiel der Augen in der Scherbe:
um den Mund spielt schon der herbe
Zug des Alters und das herbe
Licht des Abends schon..

Aber wir sind neugierig, wollen wissen, wollen kennen und erkennen – Paradiesesflucht und –segen. Die Natur, die Zeiten, die Mythen und Bilder und alten Geschichten, die Augen, das Gesicht des anderen sind uns Spiegel der Erkenntnis, wie die Worte des Dichters, die Sprache:

Noch gleicht
einer Sehnsuch das Licht,
einem Wunsch,
der sich niemals erfüllt.

Das ist der Unterschied: der „… Stein, / der nichts hervorbringt und liebt, / bricht nicht sein Schweigen.“ – „wir aber fliehen / aus den Orten der Niederlage / in die der Verführung / durch ein Chaos aus Geist, aus Glauben, aus Trauer…“, und schließlich und immer wieder die Frage:

Und brachen
wir die Früchte denn,
um zu erkennen?

Der neue Gedichtband Uwe Grünings, den der Union Verlag wie alle drei vorherigen veröffentlicht, trägt den Titel Innehaltend an einem Morgen. Es ist der Titel eines der Gedichte. Schon dies weist auf Fragen nach, auf Umgang mit Zärtlichkeit, Zeit, Lebenszeit, Tageszeit – er weist auf Besinnung, auf Zäsur. Uwe Grüning hat schon früher innegehalten, bedacht. Ein Gedicht in einem seiner Gedichtbände heißt: „Auf den Beginn des vierunddreißigsten Jahres“ („Und ich, als gölte noch der Widerstreit / der Jugend, die sich spöttisch von mir wendet, / laufe im Tretrad, rastlos wie ein Eichhorn…“) Es steht im Zyklus „Hinter den Spiegeln“.
Nun im Buch des Siebenundvierzigjährigen das Gedicht: „In dieser Nacht vollende ich mein sechsunddreißigstes Lebensjahr.“ Das weist auch auf Rückschau, Bedenken von Durchlittenem und Erträumtem.
Einen Hinweis auf die Entstehung der Gedichte gibt es nur noch an einer Stelle, im Gedicht „Kurpromenade“, eine Satire das ganze, mit fast hölderlinschem Versmaß:

Urlaub vom Ich ins Ich.
Rückseitig dies alles
auf eine Traueranzeige geschrieben
im Strandkorb des Optimisten
im Jahre
achtzig und vier.

Also: Meine Neugier, mehr über die Entstehung der Gedichte wissen zu wollen, heißt, mehr vom Dichter in Erfahrung bringen zu wollen, von dem, der mir, dem Leser, diese Gedichte wie Spiegel vorhält, sich zeigt, ehrlich, ohne sich zu entblößen. Einen Buchumschlag mit Klappentext, der Angaben zur Person enthalten wird, habe ich nicht. Die Gedichte sind in sechs Zahlen unterteilt, die nun keine Titel mehr tragen. Thematisch kehrt Früheres wieder, manche Gedichte scheinen schon vor einiger Zeit entstanden. Manche Titel erinnern direkt an frühere: „Hinter Tannrode II“ und „Oktobermorgen hinter Altstrelitz“, mit dem der Band eröffnet wird (das zweite Gedicht in Spiegelungen hieß „Altstrelitz“). Aber die zeitliche Zuordnung ist schwierig und wohl auch weder beabsichtigt noch notwendig. Die Bilder, die Metaphern, aus der Natur, aus Geschichte, Antike, vor allem aus der Bibel, gebraucht Uwe Grüning, sie in all ihrer Weite bedenkend und mit ihnen ganz frei umgehend wie in den früheren Gedichten, oder Texten: Die Erde kehrt in die Arche zurück – welch ein Bild mit so vielen Dimensionen! Die Miniaturen aus Laubgehölz im November (Union Verlag 1983) sind hier zur Versform verdichtet. Vielfach wieder kommen die dunklen Monate, die grauen Jahreszeiten. Ein wenig erschreckt mich das Thema: Herbst, Altern, das das Werk durchzieht, ja zeitweilig überdeckt, vor allem in der Abteilung V., deren Gedichte mir zu den jüngeren zu gehören scheinen „… und ein Scherbengericht / entscheidet über mein Leben“. „Der Geruch / der Blätter verweht, leer werden die Herzen.“ Und ein Titel daraus:

Zu widerrufen sind wir gekommen.

Im letzten kleinen Zyklus gibt es auch „die Boten des Tods“, aber in ihm ist, ich möchte es vorsichtig sagen, eine leise, innige Hoffnung, die sich in wenigen Liebesgedichten verrät, auch in dem wunderschönen Gedicht „Zeit ists“ (nach Marina Zwetajewa – die Grüning übersetzt hat) und im Titel „Schenk mir Herbstblumen nicht, / solang es nicht Herbst ist!“
Ich möchte noch auf zwei Gedichte des Buches verweisen, die mir besonders wichtig und wertvoll erscheinen, ganz unterschiedliche. Es ist einmal die Ode „Collage“, ein Menschengedicht könnte man es nennen, in großen biblischen Bildern:

Noah sprach in der Arche: „Ich werde
eine neue Erde erschaffen,
wenn verströmt ist die Flut,
werde Wein ziehn und den Babelturm baun
und verfluchen den Sohn,
der aufdeckt die Blöße der Väter.“

Es gibt da die Zeile „Ein Rauchpilz stand über Gomorrha“. Die Zerstörungen, die Gefährdungen haben die Menschen geschaffen – das „Sintflutgeschlecht“.
Und dann noch ein Liebesgedicht, ein ganz anderes. Ich las selten so viel Verhaltenheit in der Flut von Liebesgedichten, die die Menschen sich schreiben. Es heißt: „Vor dem Erwachen“.

Ich bin so müd
die Rundung deiner Schulter hinab
und von Geweb zu Geweb
bis an die Bögen der Brüste.

Ich bin so müd
bis hinauf in dein Haar
und in die schlafverwachsenen Brauen

Nun habe ich doch zu ordnen versucht, und dies ist schon wichtig, der Dichtung angemessen, den Strophen eines Dichters, der bemüht ist, Leben sinnvoll zu ordnen und es in bezug zu einer anderen, höheren Ordnung zu verstehen.

Sabine Neubert, Neue Zeit, 17.4.1988

 

Botschaften aus dem Land der Poesie

– Eine Begegnung mit dem Autor des Union Verlages Uwe Grüning. –

Befragt nach der wahren Gastfreundschaft erzählt der Rabbi Levi Jizchok: Welcher Unterschied ist zwischen Abraham und Lot? Alle preisen die Gastfreundlichkeit und Barmherzigkeit Abrahams, der die drei Engel mit Butter, Milch und Fleisch bewirtete… Lot lud die Engel doch ebenso freundlich zu sich ein wie Abraham. Der Unterschied ist der, Lot wußte, wen er vor sich hatte. Von Abraham heißt es aber: „Und als er seine Augen aufhub, sah er, da stunden drei Männer vor ihm.“ Die Engel erschienen Abraham also als gewöhnliche Menschen, und doch nahm er sie gastfreundlich auf.

Zugestanden, die Sätze aus einer ostjüdischen Legende sind gesucht, nach einem Gespräch, einer Begegnung gesucht, die als tiefen Eindruck das Erlebnis der Gastfreundschaft hinterlassen hat. Nicht zufällig aber wurde der Text in der Weisheit jüdischer Überlieferung gesucht, ist sie doch eine der Quellen für das dichterische Werk, zu denen sich mein Gastgeber und Gesprächspartner bewußt bekennt. Später, während unserer Unterhaltung, macht er mich auf ein soeben bei Reclam erschienenes Büchlein des polnischen Juden Michal Strzemski aufmerksam, das den Titel Das abgebrochene Gespräch trägt und ein Stück Lebensphilosophie der „kleinen Leute“, „der so plötzlich ausgelöschten Welt der polnischen Juden“ bewahrt.
Ich war zu Gast bei dem Schriftsteller Uwe Grüning im thüringischen Greiz, und das, was hier zunächst als nebensächlich erscheinen mag, das Angebot des gemeinsamen Essens, Nahrung selbstverständlich mit dem Fremden geteilt, ist ein Gleichnis für empfangene und mitgeteilte „geistige Nahrung“.
Aber vom Essen ist in Uwe Grünings Texten kaum die Rede, nur in „Leiningen“, dem „Ort der Träume, der immer so ist, wie man ihn im Traum sieht“, gibt es eine große Schüssel Kartoffelsalat und Wiener Würstchen, und „noch nie hat es so gut geschmeckt wie dort“. In Leiningen sind die Brombeeren nicht sauer und die Schlehen nicht bitter. Aber die gebratenen Tauben fliegen nicht in den Mund, und es ist eben nicht Schlaraffenland, sondern „ein Bild der Kindheit“, wo es keinen Neid und keine Gleichgültigkeit gibt, wo das Wasser klar ist und… wohin nur die Kinder und die Alten gelangen.
Damit ist an Uwe Grünings Erzählung „Der Weg nach Leiningen“ erinnert (NDL 1984). Sie ist eigentlich eine Kindergeschichte, auch für Erwachsene, und in ihr geht der Erzähler mit Bildungsgut sparsam um, das sonst so oft hinter seinen Erzählungen hervorschaut. Wenn Uwe Grüning die Geschichte erzählt, dann nicht mit nostalgischer Trauer um Verlorenes, vielmehr führt sie, gleich dem Märchen, in „das geheimnisvolle Urland der Poesie“, das die Trennung zwischen falschem und wahrem Leben nicht kennt, „dort dürfen wir sein, was wir nicht wurden. Kein Abgrund liegt zwischen Wünschen und Welt, und als ein gleiches gilt uns das Durchlittene und das Erträumte…“ (so in Moorrauch).
Wir finden hier eine zweite Quelle der Dichtungen Grünings, das Märchen, es gibt deren viel mehr: biblische Stoffe, die Kabbala, die Gnosis, Mythen verschiedener Völker und Kulturen, viele literarische Bereiche.
Uwe Grüning hat seit seiner ersten Veröffentlichung vor rund 20 Jahren, zuerst mit Arbeiten für Zeitschriften und Anthologien, seit den siebziger Jahren mit Gedichtbänden, Erzählungen, Kurzprosa und Essays, ein unverwechselbares Werk vorgelegt, das er nun durch zwei weitere Arbeiten bereichert. Im Union Verlag Berlin erschien ein Essayband mit dem Titel Moorrauch, in Kürze ist aus demselben Verlag der Roman Das Vierstromland hinter Eden zu erwarten.
Grünings bisheriges Schaffen mit wenigen Worten zu benennen, fällt schwer und täte ihm wohl auch Gewalt an. Drei Gedichtbände vermitteln die Fülle einer „Botschaft“, wie jedes einzelne Gedicht Zeichen setzt. In einem kleinen Büchlein mit dem Titel Laubgehölze im November (1983, in Kürze wird eine weitere Auflage erscheinen) bedient sich Grüning einer Art Zwischenform zwischen Lyrik und Prosa, der „Miniatur“.
„Sprache bewahren – mit Sprache bewahren“ – eine wesentliche Absicht, die der Autor gleich zu Beginn unseres Gesprächs formuliert. Er versucht, ihr auf vielfältige Weise gerecht zu werden, indem er Bewahrenswertes „übersetzt“, nicht nur als Sprachmittler, sondern indem er Literatur, Persönlichkeiten befragt und Erfahrenes weiterreicht, direkt und indirekt. Der neue Essayband ist ausreichendes Beispiel dafür mit seinen Reflexionen über Werke und Persönlichkeiten, über Turgenjew, Gontscharow, Henry James, Carl Jakob Burckhardt, Robert Walser, Jorge Luis Borges, Johannes Bobrowski.
„Die Intuition bedarf der Stützpunkte des Denkens und Wissens, sonst verkümmert sie in der Welt der Phantasmagorien und Fiktionen“ (aus Moorrauch). Wichtig ist Grüning aber vor allem das unmittelbare Erlebnis, wichtig sind menschliche Beziehungen, die Heimat, die Natur. „Die alltäglichen Dinge sind schön und reich genug, um aus ihnen dichterische Funken schlagen zu können“, zitiert er Robert Walser. So findet man in Grünings Gedichten oder Geschichten die Thüringer Orte beispielsweise, eine erlebte Liebe („Auf der Wyborger Seite“), Bilder der Natur. Diese kamen mir in den Sinn bei der Fahrt ins winterliche Greiz…
Uwe Grünings Gedichtbände tragen die Titel Fahrtmorgen im Dezember (1977), Spiegelungen (1981) und Im Umkreis der Feuer (2. Auflage 1984). Im Nachwort des ersten schrieb Heinz Czechowski:

Der Band… läßt erkennen, daß die ,lyrische Provinz‘ des 1942 in Pabianice bei Łodz geborenen Dichtersauf eine für die Lyrik unserer Zeit erstaunliche Weise die Perspektiven von mythisch entlegenen Zeiten und Räumen bis zum Hier und Heute unserer Gegenwart erfaßt.

Aus der Fülle der Sinnbilder, die dem Dichter Grüning wichtig sind, seien zwei genannt, die wiederkehren, häufig begegnen. Babylon ist ihm Metapher für Zerstörung und Sprachverwirrung. In Fahrtmorgen im Dezember gibt es einen Zyklus „König von Babylon“. Orientiert an der Turmbau-Geschichte, heißt es in Moorrauch über Sprache und Glauben:

In Babel nahm Gott uns die heilige Sprache, die Sprache des Glaubens: Der Glaube ist sprachlos. Dennoch bedarf es der Sprache Dichtung, wo sie dem Wort folgt, anstatt es zu befehligen, ist auf dem Wege zu jener Sprache, die in Babel verloren ging.

Ein anderes Bild läßt den Leser nicht los: der Spiegel. Nicht nur in den Gedichten findet man das Wort, die Metapher, sie kehrt in den Essays wieder. „Der Spiegel bringt keine Bilder hervor, er verdoppelt die Bilder“, schreibt Grüning im Nachdenken über dieses Sinnbild bei Borges. – „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht.“ An dies Bibelwort erinnere ich mit der Metapher ebenso wie die einfache Wahrheit des Märchenspiegleins: Schöner als die Schönheit der Königin ist die der kindlichen Unschuld.
Andere Worte und Bilder findet der Leser: Feuer, Fahrt, Jahreszeiten. Der Rhythmus eines Jahreskreises erhält Bedeutung. „Zäsuren sind im Leben wichtig“, sagt Uwe Grüning im Gespräch – eine Lebenserfahrung.
Der Schriftsteller hat seine Kindheit in einem sächsischen Dorf verlebt, studierte Fertigungstechnik in Ilmenau, promovierte in einem technischen Fach, war 1975 bis 1982 Fachschullehrer an der Jenaer Ingenieurschule. Eine Diskrepanz zwischen technischem Beruf und Schreiben gab es für ihn nicht. Seit 1982 arbeitet er freischaffend. Seine Zeit nutzt er intensiv. Nun wurde Zeit für einen lange geplanten Roman. 1980 heiratete er, seit 1983 wohnt er in der kleinen Kreisstadt Greiz. „Zäsuren im Leben sind wichtig.“
In den Miniaturen finde ich „Greizer Park“:

Ich wußte, daß die Stadt, in der ich seit Wochen wohnte, nun mein Besitz war, Verbannungsort und Heimat zugleich. Wie schön war das Grün der Parkwiesen, wie ungebärdig die Elster! Aber mein Leben, weit besser von Deichen geschützt, zahm geworden in seinem begradigten Bett, sah den Windungen zu… Und ich dachte über die verschenkte Möglichkeit nach, ein anderer zu sein…

Und in einem zweiten Kapitel dazu:

Sag nicht, die Zeichen der Erneuerung hätten getrogen! Es gibt nur die Erneuerung durch das Jahr… Es gibt die Erneuerung durch die Geburt – und manchmal, wie selten es geschieht!, die Erneuerung durch das Leiden.

Leben aber versteht Uwe Grüning als Gleichnis geschichtlicher, kosmologischer Zeit. Er schreibt selten von sich. Er besteht auf einem „inkommensurablen Restquantum zwischen Literatur und Literaturauslegung“ (Brigitte Kahl im Nachwort zu Hinter Gomorrha, 1981).
Nach „Vorbildern“, geistigen Verwandten, befragt, nennt er Erich Ahrendt, Heinz Czechowski, Peter Huchel, auch Bobrowski. Nachdichtungen von Lyrik Mandelstams, Daltschews, Rimbauds, Briussows, Tichonows u.a. gaben Anregungen.
Mit seinem Erzählungsband Hinter Gomorrha begegnete ein „neuer, ganz überraschender Grüning“. Es sind turbulente Geschichten darin, manches erscheint skurril, humorvoll, ist aber vielmehr Satire. Und doch versucht Grüning auch hier die Erschließung neuer Bedeutungsräume oder verlorener Dimensionen. „Wir haben überlebt, und wir sind gleichgültig gegenüber dem fremden Leuchten geworden…“, heißt es in Die Vollendung des Menschen.
Von diesem Buch gibt es Bezüge zu Uwe Grünings angekündigtem Roman Das Vierstromland hinter Eden. Im phantastischen, gnostischen Roman, wie ihn der Autor bezeichnet, unternehmen zwei Herren eine Seelenreise. In „endlosen Dialogen“, findet Aufarbeitung von Geistes- und Kulturgeschichte statt. Für ihn steht das Kunstwerk nicht jenseits von Gut und Böse, auch der Roman wird ethische und geschichtliche Dimensionen haben. In einer „Gomorrha“-Erzählung spricht er von den „Nach-Menschen“, die weder Geist noch Schönheit, die weder Reichtum noch Leiden, noch „ein ungebärdiges Maß von Liebe“ auszeichnet. Dies ist Warnung. Der Schriftsteller malt nicht schwarz, kündigt keine Apokalypse an, aber er kennt die Gefährdungen und die Gefahren unserer Zeit, die Bedrohung des Lebens.
„Doch ist trotz allem schön dieses Leben hat es doch die Rose den Stern und die schimmernden Perlen und die Frau“, zitiert er Ruben Dario. Und in einer kleinen Geschichte des polnischen Juden Michal Strzemski in oben genanntem Büchlein wird die Frage gestellt: „Lohnt es, den Urenkeln Schuhe zu nähen?“ – Wir sprechen über die Verantwortung für die Kinder, die wahrgenommen werden kann im Schuhenähen oder durch Schreiben.

Sabine Neubert, Neue Zeit, 31.1.1986

„Kein Dichter gibt einen fertigen Himmel…“

– Laudatio auf den Joseph-Eichendorff-Preisträger des Jahres 2005 – Uwe Grüning. –
(Auszug)

„Manches bleibt in Nacht verloren“, heißt es bei Eichendorff; und die hier anklingende Stimmung wird auch in Uwe Grünings Gedichten eindringlich beschworen:

Melancholie – die schweigende Übereinkunft von Denken und Grau.

Und auch der Wahrnehmung verschließt sie sich nicht:

Ich erkannte die Schwermut, die sich im Schatten der Säule verbarg und ins Vergangene starrte, als lägen dort ihre Gräber.

Kummer und Leid tragen diese Impressionen: „Hier verbringe ich mit der Traurigkeit meine Abende.“ „Meine Traurigkeit ist eine schlohweiße Greisin… Aber sie zeigt mir ein junges Gesicht und verachtet das Feuer.“ Gerade die Personifizierung zeigt, dass diese Emotionen nicht nur durchlebt werden, dass sie auch einen Wert darstellen, hinter dem ein überzeugtes Bekenntnis steht.
Dieses findet sich in einem Interview; und dort sagt Uwe Grüning:

Nur hilft es uns nicht, wenn wir eine rosarote Welt malen; von ihr möchte ich wie Camus sagen, dass sie mich seltsam entmutigte… Das Bedrohliche muss Teil unseres Horizontes sein. Auch glaube ich, dass das Gemeinverständnis von ,Leiden‘ heutigentags sehr einseitig geworden ist. Zumeist wird darin etwas Schlechtes, etwas, das es um jeden Preis zu meiden gilt, gesehen. Ich glaube vielmehr, dass diese Verdrängung dem Menschen von Schaden ist… Wer nicht des Leids fähig ist, ist auch nicht fähig zur Freude… Leiden führt zur Tiefe, es ist ebenso eine Bereicherung wie die Freude… Die Unfähigkeit zu trauern, die Unfähigkeit zu leiden, ist etwas Unmenschliches…

In seinem Essay „Sprache und Mythos“ hat Uwe Grüning sich deutlich bekannt: „Eine Welt ohne Mythos ist eine Welt ohne Leben, weil das Leben selber ein Mythos ist.“ „Der Mythos bedarf der Sprache und die Sprache des Mythos.“ „Eine Literatur ohne Mythos ist wie ein Wort ohne Aura.“ Und an anderer Stelle erscheint das Mythische als das Archaische und das Typische, deren Verbindung als „wichtig und tief“ charakterisiert wird.

Die Besinnung auf den Mythos stellt Traditionsbezüge her und schafft poetische Reichhaltigkeit; zugleich bekundet sie die ständige Bereitschaft zur Transzendenz. Damit öffnet sich der potenzielle Weg in eine weitere Dimension, den diese Lyrik auch bereit ist zu gehen und dessen Nachvollzug dem Aufnehmenden oft genug staunend den Atem verschlägt.
Eichendorffs „Frische Fahrt“ führt „In die schöne Welt hinunter“; Grünings „Grundlose Wanderschaft“ zielt in die gleiche Richtung; sie „dringt tief in die Flöze hinab, wo kein Silber mehr aufblinkt“. Sie geht weniger in die Weite als vielmehr in die Tiefe, zum Grund, zum Wesen der Erscheinungen; sie erweist sich als abgründig oder eben als „grundlos“. An diesem Ort aber wird die Begegnung möglich mit dem „Pandämonium leuchtender Wesen“. Dass es indes auch hier keinen Stillstand geben kann, dass weitere Grenzen zu überschreiten sind, dass Ruhelosigkeit geboten ist, das klingt aus der Botschaft der seelenverwandten Wesen an, die dem Dichter zu verstehen geben: „Zieh weiter!“ Und ist nicht auch ein gleiches schicksalhaftes Vertrauen bei Eichendorff zu erkennen, wenn er sich am Ende seines Gedichts zuruft: „Fahr zu!“…
So aufschlussreich, so interessant, so gewinnbringend ein Weitergehen in dieser Richtung wäre – von einer Laudatio wird erwartet, dass sie das Gesamtwerk des Preisträgers in den Blick nimmt, einige Eckpunkte zumindest absteckt. Denn sein Umfang und seine Vielfalt machen eine detaillierte Darstellung ohnehin unmöglich.
Einen knappen Überblick vermittelt die Stasi-Akte Uwe Grünings. „Die konspirative Dokumentierung“ – so wird das in der „Sprache der Stasi“ ausgedrückt – der in seiner „Wohnung befindlichen Materialien“ ergab „5.000 Gedichte, etwa 1.250 Aphorismen, Befragungen und Notizen, 1 Roman, mehrere Erzählungen, umfangreiche Tagebuchaufzeichnungen“, wobei unter anderem „Tausend und einunddreißig Versuche, die Welt zu missdeuten“, besondere Beachtung fanden, weil in ihnen „die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands und die sozialistische Staatsmacht der DDR sowie deren Politik“ in – wie es heißt – „arroganter… Art und Weise“ „diskreditiert“ werden. Außerdem brüstet sich die Staatssicherheit damit, im Zeitraum von 1969 bis 1976 eine „Analyse von ca. 500 dokumentierten Antwortbriefen und –karten“ vorgenommen zu haben. Das heißt im Klartext, dass die Post geöffnet, gelesen und kopiert wurde.
Uwe Grüning wurde also die Ehre zuteil, in einem Operativen Vorgang „bearbeitet“ zu werden. Die Führungsoffiziere hatten ihm den Namen „Ikarus“ gegeben. Das ihm zu Grunde liegende Benennungsmotiv mit seiner mythologischen Anspielung enthält eine Drohung und zeigt noch im Nachhinein, auf was für einem hochgefährlichen Boden sich die vermeintliche Groteske bewegte.
Vieles von dem, was die Inoffiziellen Mitarbeiter damals sicherstellten, ist inzwischen auch zu uns gelangt. Fünf Gedichtbände hat uns Uwe Grüning geschenkt, dazu zwei Romane und zwei Bände mit Erzählungen, auch zwei Essay-Bände und zwei Bände mit Miniaturen. Erwähnung verdienen seine Begleittexte in Bildbänden zu den romanischen Kirchen in Mitteldeutschland, zum Kloster Paulinzella, zu Goethes Gartenhaus und zu seinem Wohnhaus; und das Schillerjahr 2005 hat zu weiteren Essays angeregt. Gerade in ihnen zeigt sich ein profundes Wissen, das auch oft in die Lyrik durchschlägt und dort in pointiert formulierten Sentenzen seinen Ausdruck findet. Doch das gehört überhaupt zu den Charakteristika der Gestaltungskunst Uwe Grünings, zu den unverwechselbaren Elementen seines Personalstils. In enger Beziehung zum eigenen Schaffen stehen die Nachdichtungen Uwe Grünings. …
In einem Interview steht das Bekenntnis:

Das Schönste, was ich mir vorstellen könnte, wäre, dass meine Texte lebten, im Leser lebten und dort etwas hervorriefen.

Das erfordert das Mittun dessen, der sich mit diesen Arbeiten befasst. Joseph von Eichendorff äußert sich dazu ganz ähnlich:

Kein Dichter gibt einen fertigen Himmel; er stellt nur die Himmelsleiter auf von der schönen Erde. Wer… nicht den Mut verspürt, die goldenen, losen Sprossen zu besteigen, dem bleibt der geheimnisvolle Buchstabe ewig tot.

Neben das „Sapere aude“ tritt ein „Laetari aude“. Wagen wir es, die von Uwe Grüning für uns aufgestellte Leiter zu erklimmen. Der Weg zu seiner Dichtung ist kein Spaziergang. Aber die Mühe des Hochsteigens lohnt sich.

Christian Bergmann, Ostragehege, Heft 41, 2006

 

KATALAUNISCHE NACHT
Für Uwe Grüning

In den Lüften, so heißt es,
Kämpften noch lange die Toten. Unhörbar jetzt
Verstummt ist die Schlacht,
Nüchtern das Fleisch
Und ausgeblutet in den Geschäften
Taxiert
Alle Werte, und hinter den Scheiben,
Schön und duftlos,
Die Blumen.

Sagenhaft ist nichts mehr,
Doch alles benennbar. Der Mond,
Eine Scheibe, und die Nacht
Übt in der Stille
Eine Tokkata

Und das Licht
Mündet irgendwo in den Straßen
Der dunkleren Stadt.
Parkende Autos,
Abfahrt bereit,
Als hätte sie jemand vergessen
Oder wäre gestorben
Vordem.

Wir aber gehn.
Die Zeitungen melden
Die alten, die neuen Sanktionen.
Eine Prise Gedächtnis
Verweht in der Nacht.
Und der Abraum der Stadt
Füllt langsam doch stetig
Die Gräben.
Isländisch Moos
Deckt den Atem der Toten.
Der Wind
Wird gebrochen
Eh er das Zentrum erreicht.

Nichts
Ist zu holen
In dieser Stunde, hier
Und auch anderswo.

Die Liebe
Zieht seltsam und müde
Die Vorhänge zu.
Hinter Gittern
Verfalln die Balkone,
Nutzlos, müde geworden
Der Lasten.
Die Wäsche,
Auf Plastikdrähte gehängt,
Gewöhnt es sich ab,
Lustig und duftvoll
Zu trocknen.

Hochhackig klappert
Etwas zur Bar.
Große Gedanken
Werden mit weinfeuchten Fingern
Aufs Tischtuch gezeichnet,
Am Morgen
Den Wäschereien zur Beute:
Lautlos
Drehn sich die Trommeln,
Und um sich selbst
Dreht sich der Tag.

Katalaunische Nacht,
Es dämmert dein Morgen:
Die Fünfuhrzüge
Beginnen zu rollen,
Aus den Depots
Fahren die Bahnen:
Hahnenschrei in der Kurve,
Kugelgestalten,
Abrollend die
Unendlichkeit ihrer Muster.
Möglichkeiten,
Den Tag zu bereiten,
Die Schlacht.

Doch der Morgen kreist ein,
Mit Licht in den Rinnsteinen:
Rosen
Aus Eisen,
Formen
Der Industrien,
Den Tag,
Angeschmiedet
An rostige Gitter.

Nur in den Nächten,
Heißt es,
Kämpfen, unhörbar,
Noch immer
Die Toten.

Heinz Czechowski

 

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Christian Bergmann: Periphere Lexik in der Lyrik Uwe Grünings
Ostragehege, Heft 25, 2002

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Jan Brachmann: Stiller Hochmeister
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.1.2022

Volker Müller: Uwe Grüning feiert seinen 80. Geburtstag
Freie Presse, 15.1.2022

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLG
Porträtgalerie: deutsche FOTOTHEK

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