Uwe Tellkamp: Zu Uwe Tellkamps Gedicht „Veranda an Dante“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Uwe Tellkamps Gedicht „Veranda an Dante“.

 

 

 

 

UWE TELLKAMP

Veranda an Dante

Zwischen den Särgen zuckten Flammen wild
Und gaben solche Glut den Sarkophagen,
Wie kaum zur Eisenschmelze nötig gilt.
All’ ihre Deckel waren aufgeschlagen,
Und harter Jammer scholl daraus hervor:
Man merkte, daß hier Schwergeplagte lagen.
Ich fragte: „Meister, was ist dieser Chor,
Der eingesargt da drinnen mit so schwerer
Wehklage sich ankündigt unserm Ohr?“
Und er: „Hier sind die ketzerischen Lehrer
Mit ihren Jüngern, und ich sage dir,
Weit mehr, als du es wähnest, gibt es derer.“

DANTE: DIVINA COMMEDIA, Inferno, IX. Gesang
(Übersetzung von Gildemeister)

 

(DIS: STYX) – bewegung, kri:iechn-Wurrm, der schwarz
gekochte Schlangenfluß, lappt, schwappt, und lackt
die Pendlerfüße, schwerer Teer, die Rolltreppen am Rande
dieser Zone, wie die U-Bahnen strahlen
förmig schießen, Peitschenwürmer
bohrung die kleben bleibt im Saum im Öl
bremsmantel. – bewegung, Langsam-Lauf der Schall-,
der Schattenplatte, Funkentöne, zungenfaul
die angeschrägten Stimmen, schwer
metallisch zugeschleppte Lippen, kri:iechn-
Kraken schweler Dünste, hörst du, der mir folgt, die
Klöppel schlagen? ranzig unter Butter
glocken, Endstation, die Vorortzüge ticken nach wie
Todeskampf, die Sushi-Esser steigen aus, die Lotophagen
früher, weiße Kragen, – löse die Münze hinab
in die Stadt der Vier Zeitalter
die auf Feuer und Eis geschrieben ist und
eine Windrose. Niemand kannte das Ziel,

singen die Leichten, die Schleier-, Schleien
hände, singen die Äolusstimmen (-wind, der Wind, das
himmlische Kind) Feuerzeichen hoch vom Turm,
die Ghettoblaster, -booster-Flammen, Licht
griechen, die riefenstrahlen übers Kohlenmeer, hol
über, Fährmann Phlegyas
, singen die Weißen, die
Reinen, die mit Milch Beflügelten, singen
hier unten gibt es keine Zeit. Nur Gegenwart.
Jeden Morgen warten wir vor den Schaltern, eingewiesen
vom Schaffner, der unsere Zonen bestimmt, dann
klicken die Token-Eggen, wir treten an die Fährstation
und sehen Licht von den Musik-Etagen
—————————————Schallplatte,
– bewegung, Reisende, die eilig aufsteigen, blei
blau ihre Schritte, schwer vom Dunst vom Mohn,
der seine Blüten öffnet in der Flut. Die Mohnsirene
löscht Fortunas Küste, das kreisende Roulette der Sonnenkugel,
die Hemisphäre der Verschwender und der Geizigen,
die sich wie Tag und Nacht bekriegen. Brodem.
Das Aschenschiff erscheint, zieht seine Schneise,
wo Hände greifen, Atem aus der Luft zu pflücken,
so unter-, umgepflügt. Nagelkrallen, angenagelt ist
der Dornenkönig, von Grünewald gemalt in Isenheim.
Styx-, Styxbewegung, und die Ruh’ ist hin, hier
tobt der Jähzorn unter fahler Flagge – Tellkamp!
Hüte dich! Sonst steckst auch du in dieser Pampe
. Es ist
kein angenehmer Aufenthalt
, singen die Bekränzten die
wohnen hoch im Licht mit schaumgeborenen Füßen
——————————————Schallplatte,
– bewegung, das festgezuckerte (manche
freilich müssen drunten sterben
) – Pferd? Nein,
Rolls-Royce mit Silberrädern, da wird ein Blüten
dealer was verwechselt haben, geritzter
Mohn vertropft zu Traum und Geld, zu samen
weißen Schwangerschaften. Das Aschenschiff passiert.
Teil der Flotte, die den Abraum aus der Stadt verklappt,
den Müll, die Asche und die Ausgesonderten.
Mit Mohn die Schreie tiefgestimmt. Wir brauchen
Nasenklammern, nähern uns den Halden, Rehe können
auf der Brühe gehen, Mohnlakritze, Phlegias
gibt vollen Schub. Von der Stadt hört man die Riverdrives, die
Morgenbeats aus Bassmembranen, unplugged, und
die Börsen werden hochgefahren, Flimmern überm Horizont wie
Suchscheinwerfer. Mondboote fahren von Entladebrücken,
viel zu hoch getrimmt, wie sie schlingern von den Schiffen,
die Asylbewerber mit den Fliegenmasken, vorgeschnallten
Filtern, Recht- und Namenlose aus dem Limbus dieser Stadt,
den Chinatowns, den Slums. Es riecht nach Ammoniak und Fallobst,
herbsüße Mischung, sagen Parfümeure, hinten, am Terrassenrand,
springen die Entsorgten, die Ausgesonderten, die überm
Kassen-Index liegen schon zum dritten Mal. Dies
ist der Schlamm, in dem Geysire glucksen, der Hügel
wirft und Krater. Schlamm-Canyons, wie sie toben,
die dort wohnen, in den Höhlen, die Entsorgten, wie sie
drohen. Rotschlamm, Bohrschlamm und der kupferfarbene
Mohn, so zäh wie Leim. Fäkalschlamm. Aschenwind, der weht,
man trägt hier überwiegend Schwarz deswegen. Schüsse
vom Patrouillenschiff: ein Wildschwein, ein Verdammter?
—————————————————Schallplatte,
– bewegung, neongelbe Buggies, Jeunesse dorée im Pistenrausch.
Schon auf der zweiten Müllterrasse. Wir nähern uns der Stadt
in Kreisen. Stillgelegte Zechen, Eisenhüttenkombinate,
aufgelassene Industrie. Ein Denkmal reckt die Faust
in den Gemüsematsch am Boden. Bauschutt, wehende
Plastikfetzen, über den Eichbäumen der Aufgang des Saturn.
Braune, rote Fahnen unter-, umgepflügt, Parteiabzeichen
rasseln unterm Kiel, die weggeworfenen Hände, von Kompaktoren
mit Schaufelschnauzen, Dornenrädern festgestampft. Klares Orange
leuchtet auf im Zwielicht, jemand winkt herüber.
Die Einweiserin, genannt die Stygische Pechmarie.
Die Vogelkutten jener in den Pestiziden
—————————————————Schallplatte,
die Waschkaue: Im ersten Ring der Stadt.
Handkontrolle. Der Verschmutzungsgrad wird untersucht,
gibt Auskunft über frühere Tätigkeiten. Ein Spektrometer
scannt die Iris ein: Identitätskontrolle. Im zersplitterten
Blick erscheinen allzuviele Tore, allzuviel
Freiheit wird uns hier verheißen. Die Bilder brechen
aneinander ab und spiegeln Wahrheit
einen Zwilling gegenüber, so daß kopierte Wahrheit
Doppelwahrheit ist und uns erscheint
wie Lüge. Und dieses Spiel, das Zweifel heißt,
läßt uns Befehle lieben. Die Asphodelenduschen, hier
werden Körper abgegeben. Wie Efeu steckt Vergangenheit im Blut,
und wird es Tau sein, der die Augen wäscht? Cyanblau
lockt die Kachelhalle, die Flucht der perforierten Blütenteller.
Angetreten, Argonauten! schallt es aus den Mikrophonen
hinter den Delphin-Mäanderfriesen. Dampf.
Die Tranquilizer, die plötzlich Mohn-Geflügelten
im Bittermandellicht. Seife an Gedanken, waschen,
waschen. Die Häute schmelzen: wesentliche und unwesentliche
Kompromisse, zwischen Lüge und Lüge
der Unterschied, Sich-Anpassen, Nicht-Anpassen, sich
im Nicht-Anpassen anpassen und auch die Negation
der Negation. Das Spiegelbild ein Fangball zwischen Spiegeln.
Leben gegen die Erfahrung
—————————————————Schallplatte,
Schneiderei Harmonie: Im zweiten Ring.
So frisch, so jung verlassen wir
die Asphodelenquellen. Resthaut schmerzt, Erinnerung.
Wir treten nackt hinaus. Wir wollen nicht
in schweren Kleidern bleiben. Die Flügel
scheren, Vogelschneider, entblößt die Vene: Injektion
klar-klar im Rot der Spritzen-Geist… Das hängende Klavier,
die musikalische Nähmaschine. Wir beißen
auf den Filz der Hämmerchen, ein wenig Schmerz
für diese alte neue Uniform: die Menschenhaut
aus den Labor-Tauchbädern der Abteilung
Identitäten. Der Kantor spielt,
die Nadeln senken sich und schreiben
Melodien in unsere Körper, die Funktion,
obwohl wir mit den Armen Fliegen üben,
die Vogel-Automaten sirren, schneidern
jedem seine neue Hülle. Der Rohstoff
muß unerschöpflich sein, die Techniker
schieben immer neue Garderoben in den Kleidersaal.
Keiner schlafe, keiner friere. Stechuhren
rufen unsere leichten Schritte
—————————————————Schallplatte,
der Kreißsaal, im dritten Ring,
die Kopiergeräte: Kupferschlitten, Tomogramme, langsam
hochgeblättert die kopierten Schichten und verglichen
mit Frakturschriftkatalogen, was durch Nabelschnüre
wandert, per Mausklick am Phantom gesucht, die Augen
farbe richtig abgemischt: Wie heiter stimmt dies Licht
debüt, der blaue Honig deines Blicks. Die Zunge sei
vergittert hinter Zähnen, die klare Dokumentenschrift
voll heimlicher Kopien. – bewegung, die Pipetten
titrieren jetzt dein Lächeln leicht. Aber die Worte
sind dir aus den Schritten gebrochen? Deine süß
gepeitschten Lippen. Mit Schrift ist deine Stirn
bepflanzt, die Heb-, die Kupferamme ruft
ihr rotes Haar, den Kupfermohn zur Wundenstillung,
die schöne Styxbewegung dieser Hüfte, Bienen
sprache ihrer Finger, und die Gehilfen
mit den rosafarbenen Pupillen hier
im Eros-Center, die schöne rothaarige
Stifterin, ihre Flügelhände sagen: Es gibt dich
noch ein zweites Mal, es gibt noch einen, der
dir folgt, es gibt den Schatten deiner Stimme,
und die Gehilfen in den Kupferkleidern
üben deine ersten Schritte an den Fruchtwasser
schnüren, schöne Herrin, Reißverschluß im Blick, ihr
biologisch abbaubares Ja

 

„Veranda an Dante“

ist ein Auszug aus dem gleichnamigen ersten Teil meines Epos’ „Der Nautilus“.

Epos: die adäquate Form, unserer Zeit und Welt im Weltentwurf zu begegnen, da es allein in der Lage ist, viele widerstreitende Stimmen, indem es sie als Teil eines größeren Ganzen und das Ganze somit als Partitur behandelt, in einer Komposition zu harmonisieren. Das kurze Gedicht zeigt Weltausschnitt, nicht Welttotale. Es suggeriert eine Abgeschlossenheit, die nirgends zu entdecken ist. Man kann es, seiner Intention nach, als klassisch verstehen. Unsere Welt aber trägt, in der Wiederkehr der Uraltthemen Krieg, Vertreibung, Wechsel der Werte, Unsicherheit, Bedrohung, Jagd nach Glück und Geld (das geprägte Freiheit ist), in der Wiederkehr einer Märchenmechanik des Alltags, romantische, wenn nicht archaische Züge. Moderne Dichtung wird archaisch, weil gegenwartsgesättigt sein. Der moderne Dichter, wie ich ihn verstehe, ist wieder Dom-Baumeister; er ist damit, wie diejenigen, die sich aufmachten, Kap Hoorn zu umsegeln oder einen Seeweg nach Indien zu finden, zwangsläufig pathetisch – was er in Kauf nehmen kann, wenn es ihm gelingt, die grundlegenden menschlichen Empfindungen wieder zu gestalten. Er öffnet sich dem Leiden und der Freude wieder, der Hingabe. Auch wird er im Grunde ein Hoffender sein und damit auf der Seite des wilden, zuckenden, melodramatischen, kitschigen, kraftvollen Lebens stehen. Er hat genug von den Trockenschwimmübungen der Theoretiker und postmoderner Lauheit, die zwar unpathetisch und ironisch gebrochen ist, aber müde, und die niemanden wirklich bewegt. In der Schiffsrolle der Ozeanfahrer soll sein Name verzeichnet stehen. Dante, einer der Admirale der Ozeanfahrerflotte, ist der große Vor-Fahre, die „Divina Commedia“ sein Admiralspatent.

Am inneren Ufer des Styx (5. Höllenkreis) befindet sich Luzifers Residenz Dis (6. Höllenkreis), zu der Dante und Vergil im 8. Gesang des „Inferno“ fahren. Die Stadt bildet zugleich die Grenzscheide zwischen der oberen und der unteren Hölle, den Sünden der bloßen Unmäßigkeit und des mangelnden Eifers für das Gute einerseits („Fortunas Küste… die Hemisphäre der Verschwender und der Geizigen“) und denen der Bosheit andererseits. Fährmann über den Styx, gerufen von den am Ufer Wartenden durch Flammenzeichen von einem Turm, ist Phlegyas, der einst, weil Apollon seine Tochter überwältigte, den Tempel zu Delphi niederbrannte.
Im 9. Gesang des „Inferno“ gelangen Dante und Vergil an das Eingangstor zur Höllenstadt. Vergil zögert, und Dante fragt ihn, ob es schon einmal jemandem aus den äußeren Höllenkreisen vergönnt war, ins Innere hinabzusteigen. Vergil bejaht; er kennt den Weg in die unterste Hölle, den Kreis des Judas – für die Zauberin Erichtho hatte er einmal einen Toten von dort heraufholen müssen. Erinnyen, die Rachefurien, bedrohen die beiden Wanderer von den Mauerzinnen und rufen nach Medusa, deren Blick versteinert und die (nach Philalethes: König Johann von Sachsen) den das Herz versteinernden Zweifel symbolisieren soll.
Im 10. Gesang gelangen Dante und Vergil ins Innere der Stadt. In Feuersärgen, deren Aufstellung Dante an die antiken Gräberfelder von Arles und Pola erinnert, verbüßen die Ketzer, die „Sünder wider den alleinseligmachenden Glauben“, ihre Strafen, die Irrlehrer und ihre Jünger. Zur Rechten haben die Epikureer ihren Platz, die Sünder der Völlerei; vernunftstolze Leugner des Jenseits, deren Sinn nur auf Irdisches, Genuß, Größe, Geltung gerichtet ist.

Anlaß zur vorliegenden Auseinandersetzung mit Dantes Dichtung war die Überlegung, das als mittelalterlich geschilderte Dis in unsere Gegenwart zu transponieren. Aus Filippo Argenti, der im Styx, den Schlammzonen des Jähzorns, büßt und seinen Namen erhielt, weil er seine Pferde mit Silber beschlagen ließ, wurde ein „Blütendealer“, dessen steckengebliebener Rolls-Royce auf Silberrädern fuhr (s. die Videoclips diverser Rapper); ein Mohnhändler (Vergessensmotiv: Mohn, aus dessen Kapseln das Opium gewonnen wird, Grundlage für die Opioide, zu denen der nach dem Schlafgott Morpheus benannte Schmerzstiller Morphin zählt).
Ausgehend von den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts müßte ein modernes Dis mehrere „Stadtteile“ enthalten: eine „rote Stadt“, bestehend aus den Bildern von Stalins Moskau und des GULag, eine „schwarze Stadt“ mit „Goebbelsohren an den Häuserwänden“, in der sich das Schiff des Reisenden (Marander: der Meerfahrer) in ein U-Boot verwandelt, das zu Klängen der Reichsrundfunkgesellschaft („Lili Marleen“, „La Paloma“ – „Albers singt den Argonauten“) auf Feindfahrt geht; Utopia, Stadt der Vernunft und der Grausamkeit, Verzifferungs- und Ideenbezirk, vielleicht auch nur ein Hologramm an den Ufern des unterirdischen Flusses, den der Nautilus (der Schiffer, Seefahrer, zugleich der Name des Schiffes) befährt; eine „graue Stadt“, die verschiedene Metropolen der Gegenwart in sich vereinigt. Ein modernes geschriebenes Dis müßte Hieronymus Boschs Vision einer „musikalischen Hölle“ aufgreifen (Schallplatten-Motiv: „Musik-Etagen“, die Stimmenvermittlung): eine Partitur aus Zeitungsrauschen, Geschwätz, Nachrichten, Fetzen von Soap-Operas, Internet-Chats, SMS, Börsentickern, beschallt von den „Releases“ diverser Pop-Gruppen, „Sounds“ und den Plattentellern der DJs.

Aus Manfred Enzensperger (Hrsg.): Die Hölderlin Ameisen, DuMont, 2005

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