Verschollene und Vergessene – Theodor Däubler

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch Verschollene und Vergessene – Theodor Däubler

Verschollene und Vergessene – Theodor Däubler

DAS STERNENKIND

Der Mensch muß fliegen! der Mensch muß fliegen! verbreitet den Sturm!
Vertilgt im Herzen, vertilgt im Leibe den furchtsamen Wurm!
Ersehnt im Winde, erhofft im Winde den wehenden Geist!
Beruft im Dunkel das Kind der Sterne, das Schweben verheißt!
Erträumt Gefahren, erfiebert Schrecken, entfesselt das Leid!
Kometen helfen. Gestirne drohen. Erfaßt euch im Streit!
Den Wurm ertötet, den Wurm verachtet, verwundet den Wurm,
Bewacht die Warten, sie harren und warten, entwuchtet den Turm!
Der Tod ist machtlos! Entfliegt ihm lachend! Verbreitet den Sturm!

Der Mensch muß fliegen, den Schwindel besiegen, die Erde bekriegen!
Die See hat Wolken, die Seele ihr Wollen, der Mensch muß fliegen!
Der Strand hat Bäume, der Geist seine Träume, der Mensch wird siegen;
Das Meer hat Wellen, der Mensch seine Hellen, sich lichtwärts zu wiegen;
Der Wind hat Spiele, das Kind seine Ziele, es wittert das Fliegen –
Den Zäumen entträumt: die Räume zu säumen, entbuchtet im Sturm!
Die See hat Stürme, die Seele hat Türme, umwittert den Turm!
Die See kann sehen, die Seele erwählen, verwundet den Wurm!

Ich wähle die Seele, erwäge die Geister und schwebe als Traum;
Ich schaue in Herzen, berausche mich schaudernd: ihr traut einem Baum!
Ihr grünt und erblüht, ihr durchsprüht, überflügelt den Raum;
Es glauben die Herzen, wie glühende Kerzen. Es leuchtet der Baum!
Es beugen die Fichten die Träume der Sterne zur Erde hernieder;
In Weiblein und Wichten erwachen so gerne unwichtige Lieder;
Euch alle belichten Geschichten der Ferne, die still sind und bieder:
Wie gerne erschimmern die Sterne, wie herrlich erglüht euer Baum!
Erblühen schürt Glühen. Und Glühen Entsprühen. Der Baum wird ein Traum.

Der Traum ohne Baum ist ein Band ohne Saum. Entbrandet als Schaum!
Bewacht eure Schäume, berauscht euch durch Träume. Es leuchtet der Turm!
Die Lichtfichte flimmert. Die Goldwolken drohen. Es blutet der Sturm.
O träumende Kinder! Der Wind wird gelinder. Nun zuckt schon der Wurm.
Wer Schneewehen wittert, bedenkt sich, erzittert. Jetzt dunkelt der Turm.
Die Jugend erstirbt nicht. Die Weite gebiert sich. Die Kindheit wird siegen!
Was naht ohne Alter? Was will, durch die Finsternis schwirrend, sich wiegen?
Ein glastender, kalter wahrhaftiger Falter wird Fernen erfliegen.
Wer wirbelt? Was hascht sich? Wann wähnt sich ein Wagnis? – Wir fliegen!
Wir fliegen? Es sterben die Sterne. Wie gerne, wie ferne! Wir fliegen.

 

 

 

Einführung

Verström dich im Gesang, und alle Weltbelastung weicht.

Wer den Lebensspuren Theodor Däublers nachgeht, der sieht sich mit wachsendem Erstaunen verlockt von der Entdeckung, daß der Mensch Däubler, den als Dichter der irisierende Ruhm umzuckt, einen kosmologischen Mythos geschaffen zu haben, selbst schon zum Mythos geworden ist. Die Zeugnisse von dem menschlichen Wesen, als das sich Däubler gehabte, lassen sich kaum unterscheiden von den Bekundungen, die nur den Dichter meinen. Prüft man das Werk, aufmerksam geworden auf die gleichsam bald unterirdisch rauschenden, bald ätherisch duftenden und bald sternig leuchtenden Ströme, die es nähren und die ihre Quellen keineswegs im ästhetisch begrenzten Gebiet der künstlerischen Ebene haben – nur Zuflüsse kommen von daher –, dann wird es klar, warum das Werk als in sich geschlossenes Ganze, als reine Künstler-Leistung, allein nicht zu wirken vermochte, sich nicht als begehrte Erbauungslektüre von seinem Schöpfer sonderte und ein felsig uerzacktes Monstrum blieb, aus dem man nur Drusen brach, zauberhaft gerundete Gebilde voll allerdings wunderbarer Kristalle der Dichtung. Es wird klar, daß Däublers Werk erst Einhelligkeit gewinnt in der untrennbaren Verknüpfung mit der Gestalt und Existenz Däublers, mit dem leiblichen, seelischen und geistigen Phänomen, als das Theodor Däubler unter den Lebenden wandelte.
Er war nicht ausschließlich Dichter in der herkömmlichen Vorstellung. Sie paßt auch nicht auf ihn als Mensch. Wer war er eigentlich? Selbst seinen Freunden und Bekannten, den Zeitgenossen, denen sich das Bild seiner Gegenwart auferlegte, erschien er als ein ungemein eindrucksvolles Rätsel von schöpferischer Existenz. Sie verstiegen sich dazu, ihn zu vergleichen mit Swedenborg, mit Dante, mit Paracelsus, mit Jean Paul und nahmen in ihrer Verlegenheit sein Werk auf als eine neue Gnosis. „Das Gedicht des Okzidents“ wurde sein Hauptwerk genannt (Carl Schmitt). Däubler war ein Künder. Aus den Mitteilungen über sein stets beredsam sich auslassendes Wesen erwirbt der nachdenklich Teilnehmende den Eindruck, als habe er es zu tun mit einer jener menschlichen Erscheinungen; die – seltsam und rar über die Jahrhunderte verstreut – begabt sind mit okkulten Kräften und sich der Menschheit präsentieren mit der Gebärde, der Rede- und Darstellungsgewalt, mit der Selbstüberzeugung und dem Pathos von Rhapsoden, Sehern und Propheten. Sie sind ein Born von Wissen und Kenntnis, der im letzten Grunde unerklärlich bleibt, Er ergießt sich so unmittelbar, so selbstverständlich, so mitfortreißend, daß er die Nächsten, die ihn mit höchster Verwunderung hören, in Bann schlägt, die ferner Stehenden aber – zumal in geistig festgefahrener und skeptischer Zeit – nur noch verblüfft. Vernehmen wir, was Stimmen aus Däublers Umgebung über ihn aussagen!

Mit seiner breiten Gestalt und seinem langen wallenden Bart schien er von weither mit einer Botschaft zu kommen.
Helene von Nostiz

Däubler hatte in seinen guten Jahren etwas Jupiterhaftes, etwas Übermenschliches an Kraft und Geist, eine Souveränität, die mit spielender Leichtigkeit einfach alles zu beherrschen schien, das Dichten wie die Politik, die Philosophie wie die Malerei und Musik, die Geschichte nicht weniger als die Zukunft und die landläufigen Dinge nicht weniger als das Okkulte und den Sternenhimmel. Er war ein magischer Mensch…
Dr. W. Grohmann.

Er war der leibhafte Jupiter tonans – wer ihm das erste Mal begegnete, dachte sich: den kenne ich doch? Jawohl! Von den Gipsabgüssen der spätromischen Klassizistik. Er wandelte unter uns Staubgeborenen in falschen Anzügen, weil kein Schneider für diese olympischen Dimensionen die Maße fand. Er paßte in kein irdisches Format, weder im Leben noch im Schreiben. Mit 14 Jahren war ihm die Idee zu seinem Riesenepos gekommen, beim Anblick eines Rabenschwarmes, der über die Küste von Capri hinwegzog, krächzend: Ra! Ra! „Ra – das ist der Name des Ägyptergottes, die Hauptsilbe des Berges Ararat, der Urlaut der Menschheit!“ Fünfundzwanzig Jahre lang durchstreifte Däubler Europa mit seinem Köfferchen, das nichts enthielt als eine Zahnbürste, ein Hemd und das monströse Manuskript.
Walter Mehring

Er ist – man sieht es seinem Bildnis an – im Zeichen des Löwen geboren. In den Straßen Kairos riefen ihm die Kinder „Sebna“, das heißt: Löwe, nach.
Johannes Theodor Kuhlemann

… das seltsam Erregende seiner Erscheinung: ein großer, schwerer Riese, wuchtende Körperlichkeit; allein dieses ausladend Stoffliche, überwältigt durch den Geist, der aus dem Antlitz sprach und aus dem edlen Pathos seiner Gestik… Sein Werk gleicht völlig seiner Erscheinung: ungefüge Blöcke, und immer wieder aufglänzend in der Formung des Geistes. Die Sonne war sein erhabenstes Symbol. – Man muß Däubler gehört haben, von Griechenland und seiner Inselwelt erzählen, von dieser Kunst und von diesen Menschen: die Erzählung ward zum homerischen Gesang, zwingend in ihrer prallen, fast die Augen blendenden Anschaulichkeit und getragen von reifer, milder Weisheit. Ich habe Gelegenheit gehabt, Däubler in sehr verschiedenen Gesellschaften zu bewundern, in Universitätskreisen, unter Künstlern, unter Industriellen usw. Und ohne seine Absicht, gänzlich ohne Eitelkeit und Geltungssucht, war er stets bald der Mittelpunkt. Denn er hatte Entscheidendes zu sagen, und er sagte es in einer Weise, die aufhorchen machte. So verstummten allmählich die anderen oder beschränkten sich auf knappe Bemerkungen, und er erzählte.
Prof. Dr. Emil Utitz, Prag

Ich wohnte damals in Rom. Eines Morgens ganz früh, ich hatte noch nicht einmal gefrühstückt, kommt mein italienischer Diener zu mir und erzählt, mein Onkel wäre da mit einem großen dicken Herrn, der keine Strümpfe anhätte und zwei mächtige Bücher unter dem Arm trüge. Ich ging hinüber in mein Atelier. „Hier bringe ich dir Theodor Däubler“, sagte mein Onkel und verschwand. Däubler erklärte mir, mein Onkel hätte ihm schon viel von mir erzählt, und begann dann gleich, aus seinem Nordlicht – das waren die beiden dicken Bücher – vorzulesen. Und das alles auf nüchternen Magen! Es war sehr anstrengend. Als es 9 Uhr abends geworden war, konnte ich nicht mehr und fragte schüchtern, ob wir nicht etwas essen wollten. Däubler hatte wie immer kein Geld. So lud ich ihn ein. Er aß immer doppelte Portionen, zweimal Makkaroni, zweimal Beefsteak, zweimal Erbsen, und goß unheimlich viel Wein in sich hinein. Es wurde eine teuere Rechnung.
Der Maler v. Flotow

Däubler wird bei Dr. W. in Athen zum Abendessen erwartet. Er erscheint pünktlich auf die Minute. Es sind noch andere Gäste da, meistens Archäologen. Man setzt sich zu Tisch, und es beginnt ein Gespräch über den Wiederaufbau des Parthenon. Däubler ist hungrig. Man reicht ihm eine große Schüssel mit weißem Käse. Er nimmt die ganze Schüssel, stellt sie vor sich hin, schüttet Fruchtsaft darauf und beginnt zu essen. Zum Erstaunen Aller vertilgt er im Nu die große Menge Käse und greift nun zu den Orangen. Es sind Riesenfrüchte, wie man sie wohl nur dort auf dem Balkan findet. Für jeden von uns ist scheinbar eine Orange bestimmt. Aber Däubler nimmt für sich eine Frucht nach der andern, schneidet sie quer durch und löffelt sie schnell aus. Die entleerte Schale wirft er mitten auf den Tisch. Das alles geschieht in einem merkwürdigen Gemisch von Freude am guten Essen und andererseits doch völlig unbewußt. Während er nämlich diese Riesenmengen in sich hineinstopft, spricht er und ereifert er sich über die fast unlösbare Aufgabe, das Parthenon wieder aufzubauen. Der Genuß des Essens und die Selbstvergessenheit beim Gespräch, das ihn tief berührt, wirkt als seltsamer Gegensatz für den Zuschauer. Nun ist er satt und erhebt sich von der Tafel, immer weiter sprechend, und merkt nicht, daß all die Andern noch kaum etwas gegessen haben. Aber alle folgen ihm ins Wohnzimmer, und die Unterhaltung geht weiter. Bei Wein und Kuchen erleben wir das gleiche Schauspiel. Es wird gern und viel getrunken und zum Kuchen gegriffen, ohne auch nur für einen Augenblick die Höhe des Gespräches hinuntersinken zu lassen. „Erde und Himmel, geeint in einem Menschen“, sagte nach solch einem Abend ein Freund über Däubler.
Toni F. Sußmann.

Großartig und erhaben wirkte Däubler auf die für sein bedeutendes Wesen Aufgeschlossenen und auf die Verständigen; grotesk kam er denen vor, die gegenüber seiner unbekümmert sich gebenden, vital mächtigen Verkünder-Erscheinung unfähig blieben, ihre seelische Größe zumindestens ahnend aufzufassen.
Theodor Däubler wurde als Sohn deutscher, aus dem schwäbischen Teil Bayerns stammender Eltern am 17. August 1876 in Triest geboren. Der Vater war Großhändler und gewährte dem auffällig begabten Knaben eine sorgfältige, den jungen, lernbegierigen Wünschen nachgiebige Erziehung. Frühe Eigenart, selbständiges Denken, empfindliches Zartgefühl und unbändiger Freiheitsdrang führten schon bei dem Kinde zu nicht auszugleichenden Differenzen mit den Lehrern. Der Gymnasiast absolvierte die oberen Klassen privat. Für den vom Vater ausersehenen Kaufmannsberuf ergab sich weder Eignung noch Neigung.
Nach der unfroh als Einjährig-Freiwilliger verbrachten Dienstzeit bei einem Festungsartillerieregiment in Wien gestatteten Däubler seine vorzüglichen Sprachkenntnisse und die Gelegenheit der eben eingeführten Differenzialzölle eine vielwöchige Reise als Dolmetscher durch Italien und Sizilien. Die Lust zum Abenteuerlichen und die Sehnsucht nach fremden Ländern wurden geweckt. Als Schiffsjunge auf einem Dreimaster befährt der Ausreißer das Mittelmeer. Aber die Mannschaftsdisziplin behagt seinem Freiheitsdrang nicht. Er kehrt nach Triest zurück und will sich dem Beruf des Schriftstellers widmen. Nur bei Nacht arbeitet er und entdeckt seinen Hang zum Religiösen und Okkulten. Mit zwanzig Jahren wird in großen Zügen Das Nordlicht entworfen. Ein Jahrzehnt, während dem Däubler teils in Paris und der Bretagne, teils in Triest lebt, vergeht über der Ausarbeitung. Um 1910 taucht Däubler in Florenz auf, „ein Mann mit dunklem Vollbart und in einem Samtanzug, der für seine mächtige Gestalt nicht ausreichen wollte“, schreibt Alice Behrend in Italienischen Erinnerungen und fährt fort:

Ein Mann, von dem man sich zuflüsterte, daß er ein Epos geschrieben habe, das noch einmal so viel Verse umfasse als Dantes Göttliche Komödie. Man sagte es ohne jeden Spott, sondern durchaus in der Verehrungsfreude der damaligen Jugend, und man sah mit Ehrfurcht auf den kleinen, gelbbraunen, zermürbten Lederkoffer, den der Dichter stets bei sich trug und der das gewaltige Manuskript enthielt. Däubler kam aus Paris. Man erzählte sich, daß er die Nächte dort unter Brücken geschlafen, mittellos, obdachlos wie er war, aber trotzdem am Tage, dank seines Genies, seines hinreißenden, weltumfassenden Wissens wegen, das seine Gespräche so lebendig machte, in den vornehmsten gesellschaftlichen und geistigen Zirkeln verkehrte, in aristokratischen Salons – wo man seine Kleidung als originell hinnahm und über seinem geistigen Reichtum vergaß, an seine materiellen Verhältnisse zu denken. Wirklich verkehrte Däubler auch in Florenz bald in den allerersten Kreisen. Dem Triestiner war Italienisch so gut wie Deutsch Muttersprache, und ebenso war ihm Französisch auf das Eleganteste geläufig. – Mit dem Nordlicht wurden wir durch Vorlesungen bekannt. Malerfreunde stellten begeistert ihre Ateliers zur Verfügung. Das erste, was wir hörten, war der Sang an Rhaa, den Gott des Lichts, der alle Hörer erschütterte und mitriß. Zu diesen Hörern gehörten im wechselvollen Kreis erst einmal die Gründer des Futurismus, die damals die Zeitschrift La Cerba herausgaben, deren Mitarbeiter Däubler war. Da waren Severini, Pallazzeschi, Righini und last not least Marinetti. Da war Jakob Hegner, Däublers späterer Verleger, da war Barlack und da waren Finnländer, Franzosen, Russen und Schweden. Der großen Wirkung dieser Vorlesungen verdankte das Nordlicht seine erste Ausgabe, die als Subskriptionsausgabe erschien. Auch der Armseligste aus dem Freundeskreis hielt es für seine Pflicht, zu unterschreiben und mitzuhelfen. Uns speziell brachte das Leben in nahe Freundschaft mit Däubler, der, obwohl er abstrakt immer im eigensten Denken oder Wollen verstrickt, wie man es auch gar nicht anders wünschte, doch großer tiefer Freundschaft fähig war. Jedes Gespräch damals führte weit ins Kosmische, konnte aber auch erkenntnisvoll sein für die Gegenwart und nähere Zukunft. Im Sommer 1914 waren wir, ein größerer Freundeskreis, in dem Seebad Forte dei Marmi. Wie deutlich erinnern wir uns alle, wie geradezu hellseherisch uns damals Däubler vorhersagte, wie die Weltgeschichte weitergehen würde. Von ihm hörten wir zum erstenmal das Wort ,Weltkrieg‘, damals noch von niemanden geprägt, lange bevor die erste Kriegserklärung gefallen war.

Als Italien 1915 in den Krieg eintrat, floh Däubler mit einem Auto im letzten Augenblick über die Grenze. In der alten Heimat boten sich keine Lebensmöglichkeiten. Er übersiedelte nach Berlin zu Verwandten. Auch hier gewann er sich ähnlich wie in Paris und Florenz bald einen erlesenen Freundes- und Bewundererkreis. Entscheidend wurde für ihn, zumal für die Kontur seines äußeren Lebens, die Begegnung mit Frau Toni F. Sußmann. In ihr fand er eine treue Beschwichtigerin seiner unendlichen Daseinsnöte und eine beratende Freundin bis ans Lebensende.
Kaum war der Frieden geschlossen, als sich in Däubler erneut die Wanderlust regte. Sie trug ihn nach Griechenland, das seit je seine Träume mit lockenden Bildern erfüllt hatte. Er fand Unterschlupf in Athen beim Deutschen Institut, Rue Phidias. Geld konnte er sich vorerst nur durch Stundengeben beschaffen und lebte schlecht genug. In einem Brief an seine Berliner Freundin heißt es:

Warum es nicht sagen. Vorläufig ziehe ich ohne Schuh’ und anderes –, nähre mich von Reis und Makkaroni, eine Orange im Tag, etwas Tabak, c’est tout. Ich schlafe im Abort, meine Sachen gehn am Boden ganz zu Schanden. Nie ein Theater, kein Konzert. Der Schuhe wegen kein Museum, keine Akropolis, keine Sehnsucht bei Sonnenscheiden!

Aber er blieb kein Unbekannter. Die Atmosphäre seiner menschlichen und dichterischen Existenz bezwang auch die Athener Gesellschaft. Der griechische Staat bezahlte die Besohlung der Schuhe. Däubler konnte wieder schweifen. Zuweilen trafen vermögende Fremde in der Metropole des klassischen Landes ein. Betroffen und hingerissen von der geistigen Kraft, dem sagenweiten historischen Wissen und der schrankenlosen poetischen Gewalt des Dichters nahmen sie Däubler mit auf die Reise zu den antiken Stätten. Unter den Jammer über die bedrängte Lage, das Vergessenwerden und das damit zusammenhängende Versagen der schöpferischen Impulse mischen sich in den Briefen Entzückung über den Zauber von Landschaft und Inselmeer und Äußerungen über visionäre Gesichte, mit denen die Kultorte den Beschwörer der alten Mythen beschenkten. Einige Zeit lebte Däubler unter den Mönchen des Berges Athos, dessen uralte und in Einsamkeit verschollene Klöster er alle besuchte. In ihrer Stille schrieb er sein Athosbuch.
Sechs Jahre verweilte Däubler im Bereich der altklassischen Welt als ein Erwitterer der Essenzen, die an den geschichtlichen Orten und sagenumwobenen Trümmerstätten nachgeblieben sind von Götter- und Lebenskult und frühchristlicher Mystik. Obschon er immerfort klagte, daß sich das Pathos zu einem großen Werk verweigere, schuf er doch aus der Fülle der Eindrücke und der an ihnen entzündeten Gedanken eine Reihe von Gedichtzyklen („Päan und Dithyrambos“, „Attische Sonette“, „Der sternhelle Weg“) und eine Menge von Essays und Aufsätzen, aus denen sich die Leitideen seines kosmologischen Denkens wie kaum an anderer Stelle erhellen. Aber der Zug seiner schweifenden Seele, sein unstillbarer Durst nach Quellen frühsten Menschengeschehens, trieb ihn weiter, zog ihn über das Mittelmeer fort nach Ägypten und Palästina. Er reiste den Nil hinauf. Er drang mit einem Nubier als Ruderer in schwankem Boot vor bis zu den Katarakten. Die Spuren seiner Wege haben sich verwischt, nur der Reichtum an Beschreibung und das kennerische Eingehen auf wichtige Plätze dieser Lande, was seine Bücher und zahllosen Feuilletons auszeichnet, lassen erahnen, wohin sein Schweifen ihn geführt hat.
Als Däubler gegen Ende der zwanziger Jahre nach Europa zurückkehrte, verfügte er über eine Sammlung von Erlebnissen und ein gehäuftes Wissen, was beides seine mythologischen Gedankengänge mit erweiterten Grundlagen versah und mit neuen farbträchtigen Bildern belebte, so daß er in die Lage versetzt war, aus einem unerschöpflichen Vorrat von Eingebungen Vortrag um Vortrag zu speisen. Die Originalität, mit der er seine Themen wählte, seine sprachliche, seine dichterische Begabung, die unerhörte Deutlichkeit, mit der er bei allem, was er sagte, überredete, und sein echter, vom Dargelegten ergriffener und mitreißender Enthusiasmus schürten die Aufmerksamkeit derer, die ihm lauschten, und begeisterte sie für das einzigartige Unikum und Ungetüm von Mensch, Dichter und Denker, als welches er, der bärtige Riese mit den kindlich leuchtenden Augen, in Erscheinung trat. Über Deutschland kehrte er wieder in Frankreich ein. Er fuhr nach England, besuchte Holland und Schweden und wurde in Prag und Wien gehört. Sein Ruf festigte sich merkwürdigerweise im Ausland zuerst. Er sprach an Universitäten, vom Pult literarischer und wissenschaftlicher Gesellschaften, vor der breiten Öffentlichkeit und in privaten Zirkeln. Das Vermögen, sich fast überall in der Landessprache zu äußern, erleichterte es dem großen letzten Barden, einen Ruhm zu begründen, stärker als es ihm durch Bücher gelang. Aber auch in Deutschland wuchs sein Ansehen. Daß die Universität Berlin ihn zum Ehrendoktor ernannte, unterstrich dies. Däubler wurde als Mitglied in die Akademie der Künste berufen. Der PEN-Club, Sektion Deutschland, wählte ihn zum Vizepräsidenten. Satirische Zeitschriften widmeten ihm ganze Seiten. Ihren witzigen Auslassungen und spottvollen Karikaturen, zu denen. komische Anekdoten über Däubler Stoff genug boten, fehlte jedoch nie der Unterton respektvoller Anerkennung. Zu Berichten über gesellschaftliche Ereignisse zeigten illustrierte Blätter in groß aufgemachten Fotos den im Frack würdevoll sich gehabenden Weltenwanderer, wie er umgeben war von Staatsministern oder von prominenten. weiblichen Schönheiten aus den Filmateliers.
Aber die Gesundheit des berüchtigten Essers und Trinkers war geschwächt. Schon in den Briefen aus Griechenland waren Klagen über herabgemindertes Wohlbefinden laut geworden. In der mächtigen Gestalt nagte eine noch namenlose Krankheit. Der PEN-Club schickte Däubler zur Erholung nach Davos und Arosa. Immer eindeutiger wurde die Diagnose. Das Leiden saß in der Lunge. Auch ein Versuch, im Süden, auf Anacapri, zu genesen, versagte. Im Herbst 1933 kehrte der Dichter verdüstert von dort zu seinen Berliner Freunden zurück. Sein Räuspern klang gefährlich, unausgesetztes Spucken wurde zur Manie. Den Mittellosen und über der verhängnisvollen Zeitenwende fast schon Vergessenen logierten Gönner und Freunde im Sanatorium St. Blasien im südlichen Schwarzwald ein. Hinter der Wildnis des struppig gewordenen Bartes schrumpfte, was an Theodor Däubler leiblich imponierend war, langsam dahin. Der in den sternigen Tiefen des Kosmos beheimatete Dichter verschwebte in der Horizontalen des ihn nicht mehr entlassenden Krankenlagers.
Mit dem Enden des Lebens fand sich Däubler zurecht. Was ihn schreckte, war allein, daß sein Werk zu keinen Ufern reichte; es wies noch weit hinaus ins Ungesagte. So ermannte er sich mit letzten Kräften, in vielen Ansätzen Verstreutes zu sammeln und diktierte fremder gewissenhafter Hand den Abschied seines Denkens in den essayistischen Abrissen „Gleichgewicht im Kosmos“ und „Heimgang der Stämme“. Beides ruht noch im ungehobenen Nachlaßschatz.
Am 15. Juni 1934 beeilten sich alle großen und kleinen Zeitungen Deutschlands, ihren Lesern, meistens unter einem Bildnis vom bartumrahmten Gesicht Däublers und im Ton aufgescheuchten schlechten Gewissens, mitzuteilen, daß in der vergangenen Nacht der Schöpfer des gewaltigen Gedichtes Das Nordlicht unerwartet erst achtundfünfzigjährig verstorben sei.
Nicht ohne Trost war Theodor Däubler verschieden. Die Gegenwart seiner Schwester Edith und der Freundin Toni Sußmann, die das Versprechen, über das Werk zu wachen, noch einmal bekräftigte, besänftigte die Stunde des Todes.

*

Bei der eingehenden Beschäftigung mit den einzelnen Werken Theodor Däublers stellt sich für den, der nach Umrissen von der Welt des Dichters sucht, bald heraus, daß sie nirgends eine geschlossene Linie bilden und die Bücher entweder fragmentarische Quader oder eine Ansammlung von Bruchstücken sind. Als Ausnahme davon lassen sich jene ansprechen, die das rein Erzählerische geben, die Romane und die Novellen. Aber sie haben auch nicht das Gewicht, das den poetischen Segler mit seinen hohen Masten und seinem Tiefgang aufrichtet. Sie werden von den Freunden des denkerisch dichtenden Theodor Däubler übertrieben mißachtet. Vorwurfsvoll zur Rede gestellt, befleißigte er sich, ein Schuldbewußtsein vorzuweisen, und redete sich damit heraus, er habe auf schnelle Weise Geld verdienen müssen und also diese Bücher lediglich wegen äußerster Not geschrieben. Dabei verleugnen sie in keiner Zeile das Vergnügen, auf typisch Däublerische Art bunt zu fabulieren und dem Lauf der Geschichten überraschende dichterische Lichter über den Weg zu hängen. Immerhin liegen sie am Rande seines Schaffens und zeigen nicht unmittelbar die Richtung an, in der wir auf das Zentrum der schöpferischen Existenz Däublers stoßen.
Denn hier geht es nicht um bloß formal oder stofflich sich rechtfertigende Kunstwerke, sondern um die Entäußerungen, um das Verstrahlen und Verströmen einer aus der kahlen, nur noch sachlich geschäftigen Welt herausgehobenen und mit dem Blutfeuer eines Schauenden schwangeren Existenz. Verlieren wir das über der Lektüre und Betrachtung der Däubler-Werke aus dem Auge, dann behalten wir vor diesem bei nüchterner Strenge der Prüfung oft nichts als sprachlich und logisch ungehemmte, mit Mühe von der Syntax gezügelte Aussagen. Selbst wo es so scheint, ist es nicht eigentlich ein bewußtes Streben nach originellem Ausdruck. Es ist die Gewalt und Bildkraft des Dranges, sich mitzuteilen und in der Mitteilung den Ton und die Farbe des visionär Erlebten packend zu treffen: es sind die echten dichterischen Impulse. Er fehlt und entgleist, wenn sie, diese blitzhaft gewitternden Entladungen, erlahmen und er überbewußt nachhilft –, dann verheddert er sich leicht im Abstrakten. Dazu gesellt sich die sprunghafte Eile seiner schweifenden Natur. Nur dem haftenden Typus gelingt es zu bosselieren, eine bis ins Feinmaß getriebene Arbeit zu liefern.
Die Größe und Kraft des dichterischen Vermögens bestimmte Däubler zu einem der Zeit höchst notwendigen Aufreißer und Umpflüger und dazu Neubesäer der Sprache. Es ist kein Zufall, daß er, der Triestiner, dem die Wahl offen stand, welche Zunge er gebrauchte, nicht auf die klassisch gebändigte italienische, sondern auf die deutsche verfiel, um mit ihr seine Gesänge und Reden zu erheben: die deutsche Sprache bot ihm die größere Weite und Beweglichkeit. Ihre bedrohliche Verflachung und Versteifung zersprengte er mit seinen Eruptionen und erleuchtete ihre erblindeten Worte mit den Flugfeuern seiner Gesichte. Sie war fähig und wandelbar genug, dieses ohne Sinn- und Formverlust zu tragen.
Sie nahm es auf wie eine Befruchtung. „Auf der Kante des Verstandes, über, unter der Vernunft“ stieß Däubler vor bis an die Grenze des Ausdrückbaren. Dieser Durchbruch kennzeichnet vor allem die Bedeutung seines Dichtens. Mit ihm wies er der neueren „grenzhaften“ Dichtung den gangbaren Weg.
Revolutionär selbst, verstand Däubler die Aufwühler und Erneuerer auch auf den anderen Gebieten der Kunst in ihrer ganzen Kühnheit. Er unternahm es, sie in dem Buch Der neue Standpunkt zu deuten, und brachte sie durch seine unerhörte Art, sie nachzuschildern mit der Wucht und Farbigkeit der von ihm neu angefaßten Sprache, erst ins aufgelockerte Bewußtsein seiner Zeit. So war er der Erste, der sich weithin vernehmbar für Ernst Barlach und Franz Marc einsetzte. Mit ihnen leitete er die Bewegung ein, die den Ausdruck entfesselte und unter dem Namen Expressionismus eine entscheidende Wendung in Kunst und Literatur herbeiführte.
Einem Schweifenden wie Däubler konnte es nicht gegeben sein, die Welt einer Anschauung abzugrenzen und etwa auf ein System einzurunden. Er konnte nur immer eratische Blöcke dieser Welt oder ihre Sterntrümmer hinwerfen. Selbst da, wo er die Blöcke – und Trümmer häufte, entstand noch kein durchgeordneter Bau. Sein immer wieder überarbeitetes Hauptwerk Das Nordlicht weist es sichtbar auf. In der großen Reihung von Gedichtzyklen erhellt es nur tiefe Perspektiven des neuen Mythos, in dessen Schöpfung und Verkündung Däubler seine Lebensaufgabe sah. Mit der glühenden Spur seines meteorgleichen Schauens belichtete er alle Völker und Kulturen, die in den Bannkreis der Weltgeschichte traten, und deutete aus all ihren Religionen ein Erwachen und Beten zum Liebeswunder des heimrufenden Lichts. Der Zauber des Nordlichtes war für Däubler der Ausdruck der elementaren Sehnsucht, welche die Erde trieb, sich mit der Sonne, aus der sie stammte, wieder zu vereinen. In den unendlich abgewandelten Bildern und Visionen seiner Dichtung wird Däubler nicht müde zu schildern, wie diese Sehnsucht in allen Geschöpfen lebendig ist, wie sie ihr Erscheinen und Wirken durchdringt.
Es war nur folgerichtig, wenn der mit diesem Leitmotiv dichtende Denker Däubler die spätantike, in der Abstrahierung weit fortgeschrittene und ihr zuliebe die Symbole und Götter entwirklichende Deutung übernahm, daß der Sonnengott Apoll letzten Endes das Prinzip des Geistes vertrete. Darnach war von Däubler die Gleichung: Sonne = Geist rasch vollzogen, – und er sah in Apoll den idealen Vermittler zwischen heidnischer Welt und christlicher Lehre. So war für den Dichter, der sich als gläubiger Christ bekannte, der Widerspruch zwischen der von Göttern bevölkerten antiken und der von einem einzigen Gott regierten paulinischen Welt so gut wie aufgelöst, und Apoll bot sich als Brücke dar, über die hinweg Däubler ohne religiöse Bedenken mit dem Lebenskreis der olympischen Gottheiten verkehren und den Zug ihrer Wesen ins Reich des Heiligen Geistes geleiten konnte. In dem Aufsatz „Delos“ versuchte er, mit souveräner Geste ein solches Unternehmen zu erklären. Dort lesen wir:

Bloß ein Sichbefassen mit der Götter Vorhandensein in der Seele – um unserer Triebe willen – kann des Menschen kosmische Lage abermals klären. Das zu vollbringen wäre eine entscheidende Tat! Nicht umsonst stützen auch Sibyllen und Atlanten die Decke der Schöpfung in heiligster Kapelle der Christenheit.

Die kurze Formel, auf die wir hier Däublers Beginnen gebracht haben, heidnische und christliche Vorstellungen zu verknüpfen, darf nicht so aufgefaßt werden, als ob der Dichter es sich allzuleicht gemacht habe: seine auf vielen Werkstationen dank seherischer Begabung tief lotende Betrachtung der mythischen Symbole und der mystischen Denkweisen beruht auf weitläufigen und intensiven Studien, die er, der Rastlose, immer wieder betrieben hat. Allerdings brachte es seine unbändig schweifende Natur mit sich, daß sich der Denker und der Dichter in Däubler beinahe fortgesetzt ins Wort fallen, oft sehr zum Nachteil dessen, was als Dichtung ihm entströmte und was zu anderer Gelegenheit rein als religionsphilosophische Aussage gemeint war.
Soweit man in Däublers Leben und Schaffen eine – übrigens bei keinem bedeutenden Dichter fehlende – Tragik sehen will, läßt sie sich in eine weitere knappe Formel fassen, nämlich in eine unaufhörliche und ewig unlösliche Spannung zwischen überschwänglich bildergesättigtem Erleben und sprachmächtiger Schau einerseits und andrerseits abstrahierendem Bemächtigungs- und Deutungswillen, kurzum – im Bilde seiner geliebten griechischen Götterwelt: zwischen Pan und Apoll in Däubler, wobei das Apollinische meistens die Überhand und oft genug Scheinsiege erringt.

Die vorliegende Auswahl folgt weder philologischen noch monographischen Gesichtspunkten. Nicht alle Werke sind in ihr vertreten, obwohl sie zur Hand waren. Auch gaben wir nicht der Verführung nach, aus – im Archiv der AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN UND DER LITERATUR befindlichen Nachlaßmanuskripten zu zitieren. Die Auswahl wurde mit dem Bemühen getroffen, den Lesern, die Däubler überhaupt nicht oder doch kaum kennen, Stellen aus seinem Werk zu bieten, wo sich der Dichter am reinsten und sehr anschaulich äußert, wo eine in sich geschlossene lyrische Stimmung geglückt erscheint und wo seine Eigenart zugleich spürbar und einprägsam hervortritt. Die bevorzugten Prosastücke sollen mehr den Schilderer, den Kenner und den Rühmenden als den Denker zeigen, da sich dessen Bedeutung nicht aus Abschnitten erschließt, wie sie ein Heft gleich dem hier möglichen gestattet. Will sich ein Leser tiefer mit dem Nordlicht, mit dem Däubler-Mythos und mit seiner Theogonie vertraut machen, muß er unmittelbar zu den sie darbietenden Büchern greifen. Hier soll er nur den Reiz empfangen, in den ihm zugänglichen Bibliotheken nach den gewiß dort vorhandenen Werken von Theodor Däubler, sei es auch nur das eine oder andere, zu fahnden: aus allen spricht des Dichters Zauber. Sogar im Buchhandel liegt zur Zeit eine schöne und instruktive, von dem Freunde Däublers Max Sidow aus dem Nachlaß herausgegebene und vom Karl H. Henssel Verlag, Berlin, verbreitete Sammlung von in Griechenland entstandenen Aufsätzen vor.
Über der Beschäftigung mit dieser Auswahl ist uns bekannt geworden, daß sich mehrere Federn regen, den Menschen Däubler und sein Werk darzustellen. Außerdem werden ihm Promotionsarbeiten gewidmet sein. Der Verfasser der einen, cand. phil. Paulheinz Quint, erleichterte in dankenswerter Weise das Zusammentragen aller nur erreichbaren Däublerbände und überließ die beigefügte Bibliographie, aus der sich nahezu lückenlos Entstehungszeit und Drucklegungsjahr der einzelnen Werke ablesen lassen, was ein Eingehen darauf im Einführungstext ersparte. Den Leser, der sie sich genau ansieht, wird es erstaunen, welch eine lange Reihe von Büchern des Dichters bei sehr bekannten Verlegern herauskam und dessen ungeachtet der Verschollen- und Vergessenheit anheimfiel.

Hanns Ulbricht, Vorwort

 

Verschollene und Vergessene – Theodor Däubler

 

„Ein Schwindel mit Geist und Bedeutung“?

– Biographische und zeitgeschichtliche Einflüsse in Theodor Däublers Welt- und Kunstdeutung. –1

In einem Essay über Kafkas letzte Lebensjahre zeigt sich Martin Walser befremdet darüber, daß Dora Diamant, die Frau mit der Kafka seine zwei letzten Jahre zusammengelebt hatte, diesen nicht als großen Dichter verstand, sondern als Erlösergestalt.

Ich war nicht imstande, die ganz und gar religiös bestimmte Erlebnisart einer aus der ostjüdischen Tradition stammenden Frau als Sprache für ein Kafka-Erlebnis gelten lassen zu können. Sie sprach von Kafka wie von einem Erlöser. // Bei mir schloß das einander aus: Religion und Literatur.2

Walsers Befremden ist geeignet, uns eine Ahnung zu vermitteln von der Breite der Möglichkeiten des Sprechens über erlebte Wirklichkeit, wie sie bereits unter den Angehörigen des europäischen Kulturkreises gegeben ist. Sofern wir uns dadurch in unserer konventionellen Weltsicht verunsichern lassen, hätten wir vielleicht eine Chance, die Einsicht zu gewinnen, daß unser intellektuelles, auch aufgeklärtes Bewußtsein nur eine begrenzte Facette des Wirklichen erfaßt, daß es vielfältigere Möglichkeiten geben mag über Wirklichkeit zu sprechen, als sie die auf Entzauberung gerichtete Begrifflichkeit der Moderne bereithält. Und mag sich auch Martin Walser befremdet zeigen von Dora Diamants Verwechselung des Dichters mit einem Erlöser, bei Plato hätte diese auf mehr Verständnis hoffen können; unterscheidet doch dieser vier Arten göttlichen Wahnsinns, darunter den prophetischen Wahnsinn, dessen Schutzgott Apoll ist und den durch die Musen eingegebenen poetischen Wahnsinn.3 Mir will scheinen, daß ein Teil des Unverständnisses, das dem literarischen und menschlichen Phänomen Däubler entgegengebracht wird, ähnliche Ursachen hat wie Walsers Befremden. Ernst Barlach hat seine Vorbehalte in einem (allerdings nicht abgeschickten) Brief an Less Kaerrick4 auf den Punkt gebracht. Er schreibt:

… es gibt irgendwo in mir eine Wut auf ihn, da ist ein Schwindel mit Geist und Bedeutung, ein Aufwand an vermeintlicher Tiefe, die mich bald entsetzen, bald empören.

Nun ist zu fragen: Trifft dieser Vorwurf der geistigen Hochstapelei oder sind wir als moderne Menschen nur nicht mehr in der Lage, den ihm von Apoll und den Musen eingegebenen göttlichen Wahnsinn Däublers5 als solchen zu erkennen und zu schätzen?

 

I
Däubler wurde am 14. August 1876 als Sohn eines deutschen Großkaufmanns im damals österreichischen Triest geboren, also mitten hinein in einen Brennpunkt nationaler Emotionen.6 Triest wurde von dem erst seit anderthalb Jahrzehnten geeinigten Italien ebenso beansprucht, wie der erst sechs Jahre zuvor aus dem deutschen Zusammenschluß definitiv ausgegrenzte Vielvölkerstaat Österreich an seinem großen Mittelmeerhafen festhielt. Für Däubler ging der Gegensatz der deutsch-österreichisch-italienischen Leidenschaften noch über die Erfahrungen eines einer privilegierten Minderheit zugehörigen, zweisprachig aufgewachsenen Kindes hinaus, wurde dieser doch in Gestalt seiner beiden Lehrer, Martino Marcowitz und Umberto Gerin, personifiziert und auf die Spitze getrieben.7 Marcowitz war glühender österreichischer Nationalist und begeisterter Theatermensch, der versuchte in Italien nordische Kultureinflüsse, Ibsen insbesondere, durchzusetzen. Gerin, der nur wenige Jahre älter war als Däubler, war ebenso heftiger Irredentist. Er, zu dem Däubler ein enges Vertrauensverhältnis entwickelte, beeinflußte diesen nachhaltig. Die politischen Sympathien des jungen Däubler lagen bei den für die Unabhängigkeit von Österreich agitierenden Irredentisten. An zumindest einer von deren Demostrationen nahm er teil, mußte vor der Polizei fliehen, wobei er den Maler Otto Theodor Wolfgang Stein, seinen späteren Schwager, kennenlernte.8
Zu diesen politischen Zwiespältigkeiten kamen verstärkend weltanschaulich-religiöse hinzu. Der Großvater mütterlicherseits, Theodor Brehmer, ein 48er Revolutionär der radikaleren Richtung, der seit Anfang der 50er Jahre als hoher Versicherungsbeamter in Triest lebte, war ein Freigeist und Anhänger des naturwissenschaftlichen Materialismus. Er korrespondierte mit hervorragenden Vertretern dieser Geistesrichtung wie Carl Vogt (1817–1895) und Ernst Haeckel (1834–1919).9 Die Eltern gehörten, obwohl im Grunde beide freigeistige Agnostiker, ursprünglich der katholischen Kirche an. Die Mutter trat allerdings noch vor ihrer Heirat zum Protestantismus über. Die Eheschließung erfolgte nach protestantischem Ritus. Das erste Kind, Theodor, wurde aber katholisch getauft, später, nachdem die Schwester evangelisch getauft worden war, evangelisch überschrieben.10 Die Dienerschaft, deren Obhut Däubler und seine drei Schwestern oft anvertraut waren, bestand aus Katholiken, die den Kindern gegenüber ihre Mißbilligung der freisinnigen Lebenseinstellung der Eltern nicht verhehlten.11 „Dadurch entstand in mir, …, ein großer Konflikt: der entscheidendste fürs ganze Leben!“,12 schreibt Däubler später dazu. Für ihn zeigte sich der gerade für das nachrevolutionäre Deutschland außerordentlich wichtige Konflikt zwischen naturwissenschaftlicher Aufklärung und religiösem Konservatismus in der unmittelbaren familiären Umgebung in äußerster Zuspitzung.
Zum Hintergrund dieses Konflikts und der heute nicht mehr allgemein bekannten, gleichwohl für den jungen Däubler vom zeitgeschichtlichen wie vom familiären Umfeld her erheblich einflußreichen Ideenströmung des naturwissenschaftlichen Materialismus möchte ich an dieser Stelle einige nähere Erläuterungen einflechten. Als 1849 die bürgerlich-liberale Revolution in Deutschland zugunsten der obrigkeitsstaatlichen Ordnung niedergeschlagen worden war, versuchten einige radikaldemokratische Intellektuelle gemäß der Maxime: „Der Thron ist weiter nichts als ein Aufsatz des Altars. Reißt diesen ein und jener geht von selbst in Trümmer.“13 durch Infragestellung der christlichen Glaubensinhalte der politischen Fürstensouveränität die ideologische Stütze zu entziehen. Unter Rückgriff auf Anschauungen der französischen Enzyklopädisten wurde ein streng deterministisches, auf den Prinzipien der Materie und der Kausalität beruhendes Welt- und Menschenbild propagiert. Protagonisten dieses Ansatzes waren der Zoologe und Paulskirchenabgeordnete Carl Vogt, der Physiologe Jacob Moleschott (1822–1893) und der Mediziner Ludwig Büchner (1824–1899, ein Bruder des Dichters Georg Büchner). Deren Schriften Physiologische Briefe, Köhlerglaube und Wissenschaft (Vogt, 1847 und 1855), Der Kreislauf des Lebens (Moleschott, 1852) sowie Kraft und Stoff (Büchner, 1855) wurden vielfach aufgelegt und erregten auf Grund ihrer politischen Zielrichtung weithin Aufsehen, was zur Folge hatte, daß Moleschott und Büchner ihre akademischen Lehrämter in Deutschland verloren. Carl Vogt lebte da schon als politischer Emigrant in der Schweiz.
Zum zentralen Austragungsort dieser vordergründig naturwissenschaftlichen, im Grunde aber politischen Auseinandersetzung14 wurde in den Jahren 1854 bis 1872 die Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte. Während der Jahrestagung von 1854 dieser ursprünglich unpolitischen Gelehrtenvereinigung hatte der konservative Göttinger Physiologe Rudolf Wagner in seinem Vortrag „Über Menschenschöpfung und Seelensubstanz“ die materialistischen Thesen Carl Vogts heftig angegriffen und damit einem langandauernden ,Materialismusstreit‘ vom Zaun gebrochen. Dieser bestimmte für nahezu zwanzig Jahre die Vorträge und Diskussionen der Naturforschergesellschaft. Wagner verteidigte, eingedenk der politischen Relevanz dieser Fragen, die Vereinbarkeit christlicher Glaubensinhalte mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. In seinem Schlußwort verknüpfte er ausdrücklich die wissenschaftliche Entscheidung über die Natur der Seele mit der Gefahr einer völligen Zerstörung der „sittlichen Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung“.15 Wagner hielt fest am traditionellen Leib/Seele-Dualismus, an den Postulaten von substanzieller Seele, Willensfreiheit und Individualität, wogegen die naturwissenschaftlichen Materialisten ein monistisches Konzept der kausalmechanischen Evolution innerhalb eines atomistisch strukturierten Universums vertraten. Der Mensch galt als restlos darin eingebunden, Bewußtseinsphänomene wurden als durch physiologische Hirnprozesse determiniert gedacht, Willensfreiheit galt als Illusion, das Individuum als total sterbliches Wesen und das Gattungswesen Mensch als vorbehaltlos in die Systematik des Tierreichs integriert. Mit der Präzisierung des methodisch-begrifflichen Instrumentariums der Naturwissenschaften wurden die dogmatischen Grundpositionen des naturwissenschaftlichen Materialismus jedoch zunehmend fragwürdig.16 Die gemäßigten Mitglieder der Naturforschergesellschaft, zu deren Wortführer der Pathologe und liberale Politiker Rudolf Virchow (1821–1902) wurde, versuchten die Polarisierung und Ideologisierung einzudämmen. In diesem Sinne zog der Physiologe Emil du Bois-Reymond (1818–1896) in seinem Vortrag „Über die Grenzen der Naturerkenntnis“ während der Leipziger Naturforscherversammlung von 1872 einen Schlußstrich unter den Materialismusstreit. Er räumt darin zwei prinzipielle Erkenntnisgrenzen der Naturwissenschaften ein im Hinblick auf eine Erkenntnis des Wesens der Materie sowie der außerhalb der Geltung des Kausalitätsgesetzes liegenden Entstehung der Bewußtseinsphänomene.17 Als Ideologie jedoch behielt der naturwissenschaftliche Materialismus noch über Jahrzehnte erheblichen Einfluß.
Es kann als sicher angenommen werden, daß Däubler durch die Sympathien seines Großvaters sehr früh und unmittelbar mit den Grundgedanken des naturwissenschaftlichen Materialismus vertraut wurde. In seiner ,Selbstdeutung‘ zum Nordlicht gibt er einen Hinweis hierauf,18 ebenso in der autobiographischen Skizze „Aufforderung zur Sonne“, wo er hervorhebt, daß den Großeltern mütterlicherseits „die Behauptungen des Darwinismus…, da die Lehre kaum aufgekommen war, als große Erleuchtungen des menschlichen Geistes erschienen“ seien.19 In einem späteren Artikel ergänzt er:

Was unsre Väter mit uns getan, war nicht immer rechtschaffen. Freilich haben sie es im Grunde ehrlich gemeint, … sie waren begeisterte Materialisten!20

Bei allen Vorbehalten hinsichtlich einer späteren Selbststilisierung kann doch vermutet werden, daß in diesen Kindheitserfahrungen grundlegende thematische und weltanschauliche Motive, die das dichterische Werk prägen, ihren Ursprung haben. Insbesondere sind dabei die Vorliebe für die italienische und mediterane Kulturwelt, die er als Kind vor der deutsch-österreichischen kennenlernte, und der Versuch einer Überwindung des materialistischen Welt- und Menschenbilds, dessen emotionale Dürftigkeit er schon früh empfunden haben mag, hervorzuheben.

 

II
Ich wende mich nun einer näheren Betrachtung der biographischen Entwicklung Däublers zu. Zur Verdeutlichung des diffizilen Spannungsgefüges, dem das Kind ausgesetzt war, ist auf die starke emotionale Bindung zu verweisen, die er zu der weltoffenen Mutter hatte, die gesellschaftliche Repräsentation liebte und insgeheim davon überzeugt war, den Verpflichtungen gegenüber der Familie eine Karriere als Sängerin geopfert zu haben.21 Durch den häuslichen Gesang der Mutter jedenfalls dürfte Däublers Neigung zur Musik zuerst geweckt worden sein. Zur Mutterbindung kam diejenige zu einer alten Bediensteten der Familie hinzu, die in religiöser Bigotterie die liberale und weltoffene Lebensart ihrer Herrschaft mißbilligte und die ihr anvertrauten Kinder mit abergläubigen Vorstellungen ängstigte. Däubler führt später seine adoleszente Nervenschwäche auf den Einfluß dieser Kinderfrau zurück.22 Diese soll zudem als Geldverleiherin einen verderblichen Einfluß auf die Familie ausgeübt haben. Däubler war ein introvertierters, zu religiösen Grübeleien neigendes Kind.23 Es mag dies jedoch weniger einer genuinen Veranlagung entsprochen haben, als vielmehr der Reaktion auf die bedrückende Lebenssituation. Er litt nach eigenen Angaben als Kind unter Albträumen, Angstzuständen und phantastischen gespensterhaften Tagträumen.24 Obwohl von außerordentlicher Intelligenz, entwickelte er sich zum Schulversager. Zwischen Hausunterricht und öffentlichen Schulen wechselnd, blieb er hinter den Anforderungen zurück, wurde häufig krank, depressiv, schließlich zum notorischen Schulschwänzer. Wie sehr diese Verhaltensauffälligkeit möglicherweise durch die innerfamiliäre Situation bedingt war, wird durch eine Episode erhellt, die zu den wenigen glücklichen Momenten dieser Kindheit zu gehören scheint – ein mehrwöchiger Rekonvaleszenzaufenthalt des Elfjährigen bei seinem exzentrischen Onkel Arthur Brehmer in Venedig. Hier zeigte er sich weder depressiv noch introvertiert. Vielmehr freundete er sich alsbald mit einem gleichaltrigen Jungen an. Gemeinsam erkundeten sie die Stadt, schwammen nachts in den Kanälen, wobei sich einmal auch der Onkel einer solchen abenteuerlichen Expedition angeschlossen haben soll.25 Zunächst wurde Däubler vier Jahre privat unterrichtet, besuchte dann für ein Jahr die evangelische Bürgerschule in Triest, bevor er aufs deutsche Gymnasium überwechselte. Hier wurde sein Schulversagen jedoch nun so deutlich, daß er 1890 zur Großmutter nach Wien gegeben wurde, um die dortige Handelsakademie zu besuchen; auch dort scheiterte er. Nach neuerlich gescheitertem Versuch auf dem Triestiner Gymnasium beschloß die Familie, ihn mit Hilfe eines befreundeten Reeders als Schiffsjungen auf eine seemännische Ausbildung vorbereiten zu lassen. Jedoch zeigte sich Däubler den Anforderungen des rauhen Schiffsdienstes nicht gewachsen. Er mußte nach der ersten Fahrt abmustern. Einem kurzen Besuch der nautischen Akademie in Triest folgte wieder Privatunterricht.26 Um diese Zeit will Däubler, der angibt, sich bereits als Vierzehnjähriger mit Schopenhauers Philosophie befaßt zu haben, die Grundideen des Nordlicht in sich ausgebildet haben.27 „Ich hatte Visionen, helle leuchtende, aber auch abgründige, über die ich niemand Bescheid erteilte. … Als ich 14 Jahre alt geworden war, fühlte ich mich im Besitz einer eigenen Welt …“, wird er später in einem Vortag dazu ausführen.28 Der Privatunterricht durch die bereits erwähnten Lehrer Marcowitz und Gerin sollte ihn auf das Abitur vorbereiten. Hier wurde er nun mit italienischer Literatur vertraut gemacht, mit D’Annuncio, Carducci, Gioberti, Mazzini, Manzoni sowie mit Dante, Campanella und Bruno. Gerin, dem er sich mit seiner Gedankenwelt anvertraute, ermutigte ihn in seiner Absicht, ein Werk im Geiste Campanellas und Brunos zu verfassen. Jedoch starb der geliebte Lehrer an Tuberkulose, bevor Däubler 1896, als Zwanzigjähriger, das Abitur bestand. Im Frühsommer des gleichen Jahres wurde er in eine Nervenheilanstalt in Spittal/Kärnten eingewiesen, angeblich weil es „viel Aufregung wegen Frauen“29 gegeben hatte.
Im gleichen Sommer noch begann er als Einjährig-Freiwilliger seinen Militärdienst. Wiederum zeigte er sich den Anforderungen einer institutionalisierten Ausbildung nicht gewachsen. Schon die erste Schießübung soll ihn so verstört haben, daß der Regimentsarzt, ein Freund der Familie, ihn ins Lazarett einwies.30 Erst nach einem längeren Aufenthalt in der Abteilung für psychisch Kranke, die er später als „ein richtiggehendes Irrenhaus“31 bezeichnete, wurde er aus dem Heeresverband entlassen. Er verbrachte ein weiteres Jahr in Triest bei der Familie, welches vom Niedergang der väterlichen Geschäfte geprägt war. Aus diesem Grund siedelte die Familie 1898 nach Wien über, wobei Däubler sie zunächst begleitete. Er hatte offensichtlich in dieser Zeit keine Absicht, eine geregelte Berufsausbildung zu beginnen. In Wien traf er dann den ihm aus Triest bekannten jungen Musiker William Vilonat; eine Begegnung, die ihm die Erfahrung großer Musik als ein eindrückliches Bildungserlebnis nahebrachte. Er hörte Bach, Beethoven, Mozart unter der Leitung Gustav Mahlers, will insbesondere durch eine Aufführung von Wagners Siegfried seine Berufung zum Dichter erfahren haben. „Von nun an konnte ich nur noch in Versen grübeln, schließlich denken: Wahngebilde hat Musik in mir zu Gestalten vereinfacht“,32 sagt er dazu. Er erlangte die Einwilligung der Familie, ihm einen halbjährigen Italienaufenthalt zu finanzieren, der dazu dienen sollte, die Arbeit an dem geplanten dichterischen Werk zu beginnen.33 Von nun an gewann das bisher von Versagen, psychischen Zusammenbrüchen und scheinbarer Orientierungslosigkeit geprägte Leben des jungen Däubler auf verblüffende Weise Zielstrebigkeit. Die nächsten zwölf Jahre verbrachte er auf Reisen in Italien, Frankreich und Deutschland, hauptsächlich aber in Florenz und Paris. Während dieser Zeit arbeitete er an seinem 1898 in Neapel begonnenen Versepos Das Nordlicht. Daß er, der als Schüler zu keiner kontinuierlichen Leistung fähig gewesen war, über einen Zeitraum von rund zehn Jahren hinweg ein Riesenwerk von über 30.000 Versen zu Papier bringen würde, dürfte wohl das Letzte gewesen sein, was man von dem verbummelten jungen Mann hätte erwarten können. Aber offenbar war ihm die Ablösung von der Familie gut bekommen. „Ich haßte meine Jugend, weil sie mir meine Freiheit vorenthielt.“,34 schreibt er später in seinen Autobiographischen Fragmenten. Und:

Des Menschen Angst hatte ich bereits als Kind kennen gelernt.

Die zahlreichen Abschriften und Textvarianten, die während dieser Phase der Arbeit am Nordlicht entstanden, unterstreichen die Ernsthaftigkeit, mit der Däubler an seiner Dichtung arbeitete. Er lebte damals in außerordentlich dürftigen Verhältnissen, verkehrte in den Künstlerkreisen der Pariser Boheme und im Zirkel der Florentiner Futuristen. In Florenz begann auch die späterhin für ihn so wichtige Verbindung zur Familie des Bildhauers Paul Peterich und zu dem Dresdener Ehepaar Bienert, das ihn später immer wieder finanziell unterstützte. 1910 erschien die erste, die „Florentiner Ausgabe“ des Nordlicht. Entgegen der verbreiteten Legende von der Erfolglosigkeit des Dichters, erregte dessen Erscheinen durchaus einiges Aufsehen. Es gab überwiegend positive Besprechungen von Paul Adler, Erhard Buschheck, Hugo Neugebauer, Arthur Moeller van den Bruck, Rudolf Pannwitz, Johannes Schlaf und Carl Schmitt.35 Bald wurde Däubler auch in den Zeitschriften der literarischen Avantgarde, im Brenner, der Aktion, den Weißen Blättern zum gefeierten Autor. Däubler lebte zunächst in gewohnter Weise weiter in Italien, das er 1915 nach dessen Kriegseintritt verlassen mußte. Er siedelte nach Dresden über, später nach Berlin. Von der Einberufung zum Militär wurde er aus gesundheitlichen Gründen zurückgestellt. Er arbeitete von 1916 an für den Berliner Börsen-Courier als Kunstreferent, bezog in Berlin die einzige eigene Wohnung seines Lebens in der Babelsberger Straße. Bald war er in der Berliner Künstlerszene eine bekannte Gestalt. Er veröffentlichte in dieser Zeit zwei Kunstschriften, Der neue Standpunkt (1916) und Im Kampfe um die moderne Kunst (1919), wurde dadurch und auch durch seine Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge zu einem der Wegbereiter des Expressionismus in Deutschland.
Zweierlei ist zu dieser Lebensphase anzumerken: es blieb ihm die unmittelbare Fronterfahrung, die für die meisten Angehörigen seiner Generation zur tiefgreifenden Erschütterung wurde, erspart – eine auch im Hinblick auf die weitere künstlerische Entwicklung nicht unerhebliche Sonderposition, die möglicherweise mit zur später nur noch geringen Resonanz seines Werks beitrug. Es läßt sich mutmaßen, daß die phantastisch-surrealen Gewaltvisionen des Nordlicht an der realen Kriegserfahrung gemessen den Lesern obsolet geworden waren. – Zum andern hätte sich ihm durch seine journalistische Tätigkeit ein Weg in eine bürgerliche Existenz angeboten. Er nutzte jedoch die erste sich bietende Gelegenheit, um sein früheres ungebundenes Wanderleben wieder aufzunehmen. Ende Oktober 1918 bereits gab er seine Tätigkeit beim Börsen-Courier auf. Eine Zeitlang interessierte er sich für das politische Geschehen, wurde Mitglied eines revolutionären Clubs, dem auch René Schickele, Else Lasker-Schüler und Paul Cassirer angehörten. Er beteiligte sich an der Gründung der deutschen Gruppe der pazifistischen Schriftstellervereinigung Clarte.36 Als nach Kriegsende Triest an Italien fiel, wurde Däubler, da er nicht für Deutschland optierete, italienischer Staatsbürger. Vom Frühjahr 1919 an lebte er, von einigen Reisen unterbrochen, für eine längere Zeit in Dresden, bzw. in Söbringen. Nach der Hinwendung zur künstlerischen Avantgarde in Berlin folgte hier nun eine Rückbesinnung und der Anschluß an das frühere Werk. So entstanden u.a. die „Selbstdeutung“ zum Nordlicht und, angeregt durch die Elbtreppe von Schloß Pillnitz, die Dichtung Die Treppe zum Nordlicht.37
Das hektische Leben in der Großstadt Berlin hatte er zunehmend kritisch gesehen. Auch stieß ihn der Rausch des schnellen Selbstgenusses, die Jagd nach materiellem Erfolg im Nachkriegsdeutschland ab.38 Im Juni 1921 folgte er einer Einladung nach Griechenland, vielleicht auch deshalb, weil er an der Wurzel der europäischen Kultur ein Heilmittel gegen die materialistische Beschleunigung aller Lebensverhältnisse, das „Maß der Dinge“,39 zu finden hoffte. Griechenland war damals noch ein sehr urwüchsiges Land, dessen Landschaft, Geschichte, Mythologie und Ausgrabungsstätten Däubler tief beeindruckten. Er bereiste große Teile des Landes, den nachgelassenen Relikten der Antike nachspürend und Landschaft und Mythos zu einer neuempfundenen Einheit verbindend.40 Es entstanden eine Reihe von lyrischen und essayistischen Texten, die dem Anspruch folgten, eine umfassende Neudeutung der Antike zu geben. Außerdem schrieb er zahlreiche Reiseberichte, die als Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge veröffentlicht wurden. In dieser Zeit begann auch die enge Beziehung zu den Söhnen des ihm von Florenz und Dresden her bekannten Bildhauers Paul Peterich, zu Eckhard und Lukas Peterich. Diese Beziehung wurde in mehr als einer Hinsicht wichtig für Däubler. Seit Anfang 1923 unternahm man gemeinsame Reisen, wohnte zeitweise auch zusammen. Däubler verstärkte sein journalistisches Arbeiten, um Geld für gemeinsame Reisen mit Lukas nach Ägypten, Palästina und Syrien zu verdienen. Zugleich bahnte sich eine Arbeitsbeziehung zu Eckhard an, der in Däublers Namen Zeitungsartikel und erzählende Texte zu schreiben begann.41 Anfang 1924 war aber auch der bedeutendste von Däublers Griechenland-Essays, „Delos“, entstanden, der jedoch, im Februar- und Märzheft der Deutschen Rundschau von 1925 veröffentlicht, schlecht aufgenommen wurde. Überhaupt war die Aufnahme und der Verkauf seiner Werke für ihn enttäuschend. Im Juni 1924 beklagte er sich gegenüber Rudolf Pannwitz, daß von den 3.000 Exemplaren der „Genfer Ausgabe“ des Nordlicht keine zehn verkauft seien.42
So wurde der Griechenlandaufenthalt nicht nur „der letzte und zugleich ausgeprägteste Höhepunkt in Däublers Leben“43 (von Dezember 1921 bis Februar 1924 entstanden die Hauptschriften dieser Zeit, nämlich Der heilige Berg Athos, Sparta, Päan und Dithyrambos, Attische Sonette und Delos), sondern auch die Station einer tiefen Lebenskrise. Im Oktober 1923 schrieb er noch kämpferisch an Toni Sussmann:

Solange noch Unterhaltungslektüre in Deutschland gedruckt, abgesetzt wird, beuge u. füge ich mich erst, wenn ich ganz geschlagen bin.44

Im September des darauffolgenden Jahres klang es dagegen schon resignativ:

Ich verfalle ganz dem Journalismus, kann nun, um fortzubestehen, bloß Kitschen!45

Und:

Noch nie hat sich ein Dichter so weggeworfen, … Doch gleichgültig. … Der Kitsch ist nun geboren.46

Damit hatte er sich von seinem früheren emphatischen, fast religiös überhöhten Verständnis des Dichterberufs abgewandt.47 Nun folgte der Umschwung, die Enttäuschung und die Selbstverleugnung. Schwächliche Unterhaltungsromane erschienen unter seinem Namen. Toni Sussmann erwähnte in diesem Zusammenhang, daß Däubler sich und sein Werk in „Umkehrung seiner Liebe“48 verflucht habe. Der von Werner Helwig nachempfundene Brief dürfte die damalige Stimmung Däublers recht gut zum Ausdruck bringen.49 Die Resignation, die von der beginnenden Krankheit, von Asthma, Malaria, Diabetes mitbedingt gewesen sein mag, wurde jedoch immer wieder von Phasen der Arbeit unterbrochen. Fast bis zuletzt hat er ja an der Fertigstellung des großen Griechenlandbuches gearbeitet. Man darf annehmen, daß die enge menschliche Bindung zu den Peterichs zur Milderung von Däublers beginnender Lebenskrise beitrug. Man reiste viel zusammen, verbrachte den Sommer 1925 gemeinsam auf Ägina. Als während dieses Aufenthalts Lukas Peterichs Freundin schwanger wurde, versprach Däubler für das Kind, sein Patenkind Nike, zu sorgen, was er dann auch trotz seiner permanenten finanziellen Nöte mit bemerkenswerter Verläßlichkeit tat.50
Däublers Lebenssituation war, als er im Oktober 1926 nach Deutschland zurückkehrte, recht zwiespältig. Einerseits in seiner Gesundheit und seinem künstlerischen Selbstverständnis erschüttert, andererseits stabilisiert durch emotionale Bindungen, insbesondere auch an das Patenkind Nike,51 die seinem vorherigen Leben fremd gewesen waren. Dem Zurückgekehrten wurde öffentliche Beachtung und Anerkennung zuteil: PEN-Präsidentschaft, Mitgliedschaft in der Preußischen Akademie der Künste, Verleihung der Goethe-Medaille und des Komturskreuzes des griechischen Erlöserordens, um nur das Wichtigste zu nennen. Die Einnahmen aus seinen Werk waren immer noch kaum nennenswert, reichten bei weitem nicht aus, um seinen Lebensunterhalt zu sichern.
Ich habe im Vorausgehenden versucht, einen knappen Überblick über die Däublersche Lebensgeschichte zu geben. Die Umstände der Tbc-Erkrankung und des Sterbens im Sanatorium St. Blasien im Schwarzwald mögen als bekannt oder anderweitig einsehbar vorausgesetzt werden. Wichtig erscheint es mir jedoch, ausdrücklich die Bedeutung von Däublers biographischen Umbrüchen für die Werkentwicklung hervorzuheben. Erst in Griechenland scheint sich auf der Grundlage einer eingelösten und, wenn auch nicht von einer breiten Öffentlichkeit, auch anerkannten Leistung ein Klärungsprozeß vollzogen zu haben, der sich auch in seinen dort entstandenen Arbeiten wiederspiegelt. Insbesondere in dem Essay „Delos“ zeichnet sich in der Hinwendung zu den apollinischen Qualitäten von Klarheit, Besonnenheit, Heiterkeit und Maßhaftigkeit eine Tendenz zu einer gelasseneren Souveränität und zu einem gefestigteren Selbstbewußtsein ab, die sich merkbar von der wilden Exzentrizität und dem überzogenen Wirkungsanspruch des Nordlicht-Aufbruchs unterscheidet. Zugleich mag ihm hier erstmals eine Ahnung von der Uneinlösbarkeit seiner alle literarischen Ausdrucksmöglichkeiten überschreitenden Nordlicht-Intention aufgegangen zu sein:

Alles was ist, kann auf Erden nur angefangen werden.52

 

III
Bevor ich mich nun der Betrachtung des Werks zuwende, möchte ich einige Worte zum Problem der psychologischen Werkdeutung oder der Art des Zusammenhangs von Werk, Biographie und Zeitgeschichte sagen. Es kann in Kunstwerken der biographische wie der zeitgeschichtliche Einfluß in unterschiedlicher Intensität einbezogen sein. Wie es Lebensgeschichten gibt, die voll im Zentrum der Ereignisse stehen oder davon betroffen werden, gibt es andere, die in einem Winkel der Geschichte, diese quasi beiläufig vorüberziehen sehen. Dies trifft auch auf Kunstwerke zu. Man sollte dabei aber immer dessen gewärtig sein, daß ein Kunstwerk wesenhaft in der Sphäre der Reflexion wurzelt. Nie ist es unmittelbares Sein, auch das aus intuitiver Schau hervorgegangene nicht. Es unterliegt nicht den Regeln des unmittelbaren So-Seins, sondern ist eine unabhängige Schicht, worin zwar Zeitgeschichte und Biographie sich spiegeln, das aber dennoch eine in sich abgeschlossene Ganzheit ist, eine „freigewählte Vision“53 mit Däubler zu sprechen, die zuinnerst ihrem eigenen Gesetz folgt. Ein Kunstwerk ist daher im letzten nicht auf biographische oder geschichtliche Ereignisse rückführbar. Nie sollte ein Kunstwerk als bloßer Abdruck der Psyche seines Schöpfers verstanden werden, sondern als dessen freigewählte Vision, wobei diese Freiheit der Wahl eine Reflexion voraussetzt, die aus den Eindrücken des unmittelbaren Lebens sich nährt, aber ihrem eigenen Gesetz folgend sich gestaltet. Dies sollte man sich insbesondere bei der Betrachtung von Däublers Werk vor Augen halten. Auch wenn er selbst angibt, das Nordlicht in intuitiver Schau geschrieben zu haben, enthält dieses, bei aller spontanen Prägung in den Details, einen durchgehenden Spannungsbogen der Reflexion, dessen eigengesetzliche Logik der Willkür des Autors zumindest partiell enthoben ist. Es führt daher m.E. zu einer falschen Einschätzung, wenn man in der Darstellung etwa des Antagonismus’ der Geschlechter oder der sexuellen Orgien in erster Linie einen Ausdruck der sexuellen Not des Autors zu sehen vermeint.54 Diese mag durchaus bestanden und die Grundlage geboten haben, auf der sich die Reflexion erhob, doch ist der Gegensatz der Geschlechter zugleich eines der ältesten religiösen, naturphilosophischen und künstlerischen Motive der Menschheit und die Verwendung dieses Motivs im Nordlicht, worin ja die Evolutionsgeschichte des Geistes gestaltet werden soll, schon von daher naheliegend. Es scheint mir daher geböten, bei der Annäherung an ein Kunstwerk zunächst dessen innere Eigengesetzlichkeit herauszuarbeiten und diese zu verstehen zu versuchen. Erst dann kann man sinnvollerweise darangehen, mit aller Behutsamkeit dem Zusammenhang von Werk und psychischer Befindlichkeit des Dichters nachzuspüren.
Was nun Däublers Werk betrifft, so teile ich mit Rudolf Pannwitz die Auffassung, daß das Nordlicht das zentrale Werk ist, „so sehr, daß auch die meisten der anderen Werke mehr oder minder ihm zubehören.“55 Eine Betrachtung des Däublerschen Werks wird daher vorrangig eine Betrachtung des Nordlicht sein müssen. Dieses ist zum einen ein Weltbegreifen von der Sprache her: „da erfaßt, da bildet und dichtet die Sprache sich selbst, ohne der Dinge zu achten, von denen sie angeblich nur ein lautliches Abbild ist“,56 wie Hugo Neugebauer dazu ausführt. Der Sinn folgt im Detail dem Sprachklang. So ergeben sich überraschende Wendungen. Däubler setzt im Nordlicht kein abstrakt-vorgefaßtes weltanschauliches Programm in Dichtung um, sondern findet immer wieder originäre, teils phantastische und bizarre Bilder. Er vertritt die Ansicht, „das Wort sei die Lautentsprechung einer geistigen Realität, der auf jeden Fall auch ein mit dem Verstand begreifbarer Bildinhalt zukomme, …“57 Die lebhaften, teils gegensätzliche Aussagen tragenden Bilder erst geben den großen Handlungslinien des Epos eine eigenbewegte, manchmal schrille, manchmal auch ins Platte abgleitende Feinstruktur. Und daß es sich um ein Epos handelt, wird von Johannes Schlaf in einer gattungsgeschichtlichen Betrachtung ausdrücklich bestätigt.58 Das vom Eigenleben der Sprache getragene Konstruktionsprinzip steht im Zusammenhang mit der weniger vom Intellekt als von einer Hingebung an sinnliche Eindrücke geprägten Schaffensweise Däublers. Er war in entscheidendem Maße Augenmensch. Ganze Gesänge des zweiten Bandes des Nordlicht sind in Paris angeregt durch die Bildwerke des Louvre oder die Glasmalereien des Museums der französischen Kriegsmarine59 entstanden. Dadurch ergeben sich oft eigenartig-überraschende Darstellungen der angesprochenen Epochen, die mit der kulturgeschichtlichen Wirklichkeit Ägyptens, Indiens Irans nur sehr mittelbar in Zusammenhang stehen. Pannwitz sieht im Nordlicht ein aus allen ästhetischen Normierungen herausfallendes Naturphänomen – die „Magie der archaischen Psyche auf dem Boden einer schon“ … „surrealistischen Moderne.“60 Auch mag er recht damit haben, daß diese Dichtung sich nur dann zur Gänze erschloß, wenn der Autor selbst sie vortrug. Denn Däubler betont den Lautcharakter der Sprache. Ganze Strophen stehen unter der Vorherrschaft bestimmter Vokale. Der Urruf, die Sprachwurzel ,ra‘ ist für ihn ein Naturlaut, dessen er sich erstmals im Schrei eines Seevogels bewußt geworden sein will.61

… ich hörte Ra und Ar dem Brand des Hotel d’Uzes entknistern, ebenso wie ich meine Sprachunmöglichkeiten im jardin d’acclimation u. nicht in einem litterarischen Werke erschaute.62

Weniger der Wortsinn als die durch die Musikalität der Sprache geweckten Empfindungen sind für ihn entscheidend.63
Über der Ebene des Sprachlichen liegt die des Mythos, dessen Bilder als ein, feinster Nuancierungen fähiges, Chiffrensystem, nach Pannwitz vergleichbar den „alldeutigen und doch präzisen chinesischen Bildzeichen“64 bei Däubler die Stelle rationaler Begriffe einnehmen. Astrologie, Sprachmagie, die Götterwelt des alten Orient und der Antike, die Gnosis, vieles wird hier neu angeeignet und in den Bau des Ganzen einbezogen. Eine schöne Entdeckung ist in diesem Zusammenhang die von Stefan Nienhaus beschriebene, daß im ersten Teil des Nordlicht die italienischen Städte bestimmten Planeten zugeordnet sind.65 Im Zentrum des Nordlicht aber steht ein Einfaches: die Idee der Selbstvollendung des Kosmos durch Emporsteigerung zu innerer Sonnenhaftigkeit, die prozeßhaft analog gesehen wird zur Selbstvollendung des Menschen durch Vergeistigung des Naturhaft-Stofflichen.66 Im letzten ist der Mensch selbst für ihn die Sonne und der Inhalt der Schöpfung.67 In der Ineinssetzung von sich selbst vollendendem Kosmos und sich selbst vollendendem Menschen kommt Däubler der buddhistischen Anschauung nahe, daß der umfassende Weltengrund, worin die Gesamtheit allen Seins und Werdens potentiell beschlossen ist und der erleuchtete, „sich seiner seit je bestehenden, unteilbaren und ungeteilten Ganzheit“68 bewußt gewordene Mensch eins sind. Und es ist in dieser Hinsicht interessant, daß Kenneth White, der Däubler nicht zu kennen scheint, in seinem Versuch, einen über das Artifizielle hinausgehenden Begriff von Dichtung zu formulieren, den Dichter als jemanden begreift, der sich als vollkommenen Menschen verwirklichen kann. Er bemerkt dazu:

Die Kunst läßt sich nicht von der Anthropologie trennen und die Anthropologie nicht von der Kosmologie. Wenn die Dichtung nicht ein anthropologisches oder anthropokosmologisches Programm (einen Mythos?) einschließt, ist sie nur Kunst, und wenn Kunst an sich auch nicht ein völliger Unsinn ist, so bleibt sie doch im Diesseits der vielfältigen Bewegung, die sich anvisieren läßt.69

Trotz der Einlassungen auf mythische Gehalte und vormoderne Weltbilder bleibt die Grundtendenz des Nordlicht hinsichtlich der abendländischen Kultur und Geschichte immer affirmativ. Der zwanghafte Determinismus des altorientalischen Sternenglaubens ist für Däubler durch Christus aufgehoben. In einer späteren Schrift, „Delos“, gestaltet er das Fortwirken der antiken Götter, Apollos insbesondere, deren wesenhafte Ausstrahlung andauert, „so lange Menschen ihres Geartetseins auf der Erde weilen“,70 jedoch nunmehr in einer die Selbstbefreiung des Menschen stützenden Weise. Dabei postuliert er keine abstrakte Hinterwelt, sondern sieht in der abendländischen Kunst- und Geistesgeschichte diese göttliche Wirksamkeit ihren Ausdruck finden. Hier möchte ich nun einen Vorbehalt gegen die ansonsten beeindruckende Werkdeutung von Rudolf Pannwitz formulieren. Wenn er von Däublers dichterischem Ideengefüge als von einer Religion spricht, so ist das irreführend und unangemessen. Denn Religion ist „überindividuelle Schöpfung“,71 die, von einer Stiftergestalt ausgehend, sich in ihrer Eigenidentität weiterentwickelt. Konstituierende Bestandteile sind dabei Lehre, Gemeinde und eine generationenüberspannende Wirksamkeit. Nun könnte man im Falle Däublers allenfalls das Nordlicht als Kern einer Lehre auffassen, von einer Gemeinde aber oder gar einem generationenübergreifenden Bestand derselben kann keine Rede sein. Däublers Werk ist Dichtung, ist die reflektierende Schöpfung eines einzelnen, der darin die großen geistigen Bewegungen seiner Zeit aufgreift und individuell gestaltet.
Der weltanschauliche Impetus in Däublers Werk ist vielmehr zu sehen in seinem zeitgeschichtlichen Eingebundensein in eine Reihe vergleichbarer Bestrebungen. So geht das Symbol des Nordlicht selbst Carl Schmitt zufolge auf Einflüsse von Flaubert, Fourier und Proudhon zurück.72 Auch finden sich in Däublers Werk Hinweise auf die Od-Theorie des Freiherrn von Reichenbach.73 Der expressionistischen Hochschätzung der Farbe Blau mag in diesem Zusammenhang gesehen eine weitere Bedeutungsnuance zuwachsen.74 Neben solchen Bezügen, bei denen sich eine Kenntnisnahme Däublers quellenmäßig belegen läßt, gibt es eine Reihe von möglicherweise unbewußten Parallelbildungen. So läßt sich hinsichtlich der Vorstellung eines durch Gestirnseinflüsse gegliederten Kosmos und der Weltbedeutung des christlichen Heilsgeschehens eine große Ähnlichkeit zu Auffassungen Rudolf Steiners feststellen. Däubler schreibt in der „Selbstdeutung“ zum Nordlicht:

… die Erde wird wieder leuchtend werden, aber die Völker sind verantwortlich, daß dieser Stern, der ein dunkler ist, einst der allerhellste sei. … Die Erde, eine dunkle Frucht, keimt bereits empor in eine Welt des erblühenden Lichtes.75

Steiner dagegen hat in einem Vortrag zum Johannes-Evangelium ausgeführt:

Immer finsterer und finsterer war die Erde geworden mit dem Fortgange der Zeit bis zu dem Ereignis von Golgatha. … // … Der erste Anstoß zum Sonnewerden unserer Erde ist damals gegeben worden, … Da fing die Erde zu leuchten an, zunächst astralisch, … Aber in der Zukunft wird das astralische Licht zum physischen Licht werden, und die Erde wird ein leuchtender Körper, ein Sonnen-Körper werden.76

Ebenso finden sich zur Philosophie Henri Bergsons eine Reihe von Übereinstimmungen, etwa die Betonung der Indeterminiertheit des Schöpferischen, der Willens- und Handlungsfreiheit des Individuums sowie der Vorstellung der lebendigen, undefinierbaren, intuitiv zu erfassenden ,duree reelle‘, der erlebbaren Zeit.77 „Das Licht ist die lebendige Zeit“,78 formuliert Carl Schmitt in seiner Studie zum Nordlicht, und das offenbar nicht von ungefähr, denn Bergsons Konzeption der ,duree reelle‘ und Däublers Konzeption des ,Urlichts‘79 stimmen in wesentlichen Punkten überein: Beide stehen in der Konzeption ihrer Autoren für den nur intuitiv erfaßbaren Urgrund der schöpferischen Kräfte, beide auch wurden in dem Bestreben geprägt, diesen Urgrund als prinzipiell dem Zugriff der positivistischen Naturwissenschaften entzogen ansehen zu können.80 Auch zu Johan Huizingas Versuch einer metaphysischen Wesensbestimmung des Menschen als ,Homo Ludens‘81 bildet Däublers Vorstellung von der Freiheit jedes Menschen zur Wahl einer lebensbestimmenden Vision82 eine, wenngleich weniger ausgeprägte, Parallele. Ähnliches gilt für die von Georges Bataille vertretene Auffassung, daß die Geburt des homo sapiens mit der Geburt der Kunst zusammenfalle.83
Däublers Ansicht, daß der Mensch den brüchig-unvollkommenen Weltbau durch Kunst zu vollenden habe,84 stimmt gut hierzu.
Alle diese Ansätze zeichnet das Bemühen um eine Überwindung des naturwissenschaftlichen Wirklichkeitsverständnisses aus, das ja in seiner populären Form unser Alltagsbewußtsein noch immer weitgehend dominiert. Daß Däubler dabei auf Elemente vormoderner Weltbilder zurückgreift, mag seinen Grund in dem von Arthur Koestler formulierten Prinzip des „reculer pour mieux sauter“85 haben. Darauf weist Rudolf Pannwitz hin, wenn er schreibt:

Auch kann ein Erzeugnis, das ästhetisch, philosophisch oder wissenschaftlich nicht aufrecht zu halten ist, ein Wirbel sein, in dem zeitlich-überzeitliche Mächte und Keimgewalten zusammentreffen und sich in einanderringen, die Bahn in eine Zukunft anzeigen und weit mehr als deren Schemen sichtbar machen.86

Im Gegensatz zu den unmittelbaren Zeitgenossen mag Däublers Werk für uns heute wiederum eine stärkere Aktualität gewinnen. Dies gilt u.a. für die sich darin ausdrückenden ökologischen Einsichten. „Wir haben kein Verfügungsrecht über unsern Nächsten, auch nicht über Tier, Pflanze und Gestein“,87 formuliert er bereits 1921. Und:

Daß wir unseren Erfahrungen durch Forschung einen irdischen Ausdruck in der Technik verliehen haben, ist keineswegs der Fehler. Wohl aber zeitigt Verwirrung, daß wir den rein menschlichen Erfolg, den uns die Maschine verbürgt, gegen die eigene Natur und gegen die Umwelt richten.88

Aber auch Däublers optimistische Auffassung einer Erlösung des naturhaft mißratenen Kosmos durch menschliche Kunst- und Erkenntnistätigkeit89 mag für die gegenwärtig depressive Selbsteinschätzung des Menschen als einer Fehlkonstruktion der Natur, die den Globus durch Umweltverschmutzung, Überbevölkerung, Artensterben, Ozonloch, atomare Katastrophen und Treibhauseffekt unaufhaltsam zugrunderichtet, ein heilsames Korrektiv darstellen.
Es ist nun aber abschließend an der Zeit, sich mit Barlachs Vorwurf eines Schwindels mit Geist und Bedeutung auseinanderzusetzen. Wie steht es damit? – Däubler umreißt in seiner Dichtung die Vision eines evolutionär-heilgeschichtlichen Weltgeschehens. Das übersteigt den Rahmen des allgemein akzeptierten und begründbaren Wissens. Jedoch ist dem Werk die kritische Reflexion der Grenzen des zeitgenössischen Wirklichkeitsverständnisses immanent, insofern trägt es einen begründeten Aufbruchkern über ein etabliertes, ein unkritisch gewordenes Verständnis dessen, was wirklich sei, in sich. Aber Däubler trägt seine Kritik nicht als solche, sondern in Gestalt einer dichterischen Vision vor. Er geht dabei über das, was Bruno Liebrucks die schriftstellerische Rede über den Mythos nennt,90 hinaus, unternimmt es nicht allein, in mythischer Rede über den Mythos zu sprechen, sondern sogar einen neuen Mythos aussprechen zu wollen.91 Was Barlach bei Däubler zu erkennen scheint und was ihm Unbehagen bereitet, ist dieser Versuch, über den Reflexionscharakter von Dichtung hinauszugehen. Däubler äußert dazu:

Zuerst war der Mensch gotterfüllt, dann gab es bei jedem Volke eine auserwählte Seherschar. Nun erinnern sich nur noch die seltenen Dichter, die das Paradies schauen, an unsere Urkunft.92

Seine Auffassung vom nicht nur reflexiven, sondern essentiellen Charakter von Dichtung verdeutlicht er in der Aussage:

Ich schreibe meine Lebensgeschichte so, wie sie ist, und nicht, wie ich sie erlebte.93

Im Gegensatz zu Däubler aber weiß Barlach um die Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit der Einlösung eines solchen Anspruchs. Bei Däubler allerdings sind die Beweggründe sublimer. Er ist erfüllt von der echatologischen Bedeutung seiner Vision. Die Ernüchterung erfolgt erst allmählich, wenn überhaupt, durch die Erfahrung der Wirkungslosigkeit. Helwig zufolge ist in letzter Konsequenz die aufdärnmernde Erkenntnis von der Uneinlösbarkeit seines dichterischen Anspruchs der Auslöser seiner Krankheit.94 Däubler vertritt als ekstatischer Dichter den ,göttlichen Wahnsinn‘, der keiner Begründung über sich hinaus bedarf; Barlach äußert demgegenüber die berechtigte Skepsis vor dem unkritischen, daher mißbrauchbaren Geist.

Dieter Werner, aus Dieter Werner (Hrsg.): Theodor Däubler – Biographie und Werk. Die Vorträge des Dresdener Däubler-Symposions 1992, Gardez! Verlag, 1996

 

Rudolf Pannewitz: Theodor Däubler, Merkur, Heft 105, November 1956

 

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Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Theodor Däublers Gedicht Berauschter Abend gelesen von Konstantin Wecker.

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