Volker Sielaff: Selbstporträt mit Zwerg

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Volker Sielaff: Selbstporträt mit Zwerg

Sielaff-Selbstporträt mit Zwerg

FOTOGRAFIE VON EZRA POUND

Um sein weißes Haupt sah ich
Kirschblüten taumeln, Japanerinnen
mit aufgespannten Schirmen, ausgeflippt
wie Sherri Martinelli, eine seiner letzten
Musen. Das Meer, das durch alle seine
Zeilen weht, war unsanft zu ihm. Es rollte
nimmermüd gegen zerklüftet Felsen, es
verbiss sich in ihnen, lechzte, brüllte, kaum
ein Trampelpfad durch diese absehbare
Ödnis. Immer ging er doch seines Wegs,
Usura die Schlampe im Schlepptau, sie
beschimpfte nacheinander, der Weißbart
und die Unersättliche. Man müsste
seine Hand erfinden, die schreibt, die
verkratzte Schrift auf seinem Zettel und
die Eidechse unter dem Lagerzaun, ihren
gleitenden Körper erfinden, wie er galant
das Licht des Wachturms ausradiert. Der
Gefangene liegt auf dem Boden, erwidert
den Blick der Echse. Sprache
wird nicht nur aus Worten gemacht, sie bedarf
weiterer Anwesenheit oder eines
weißblühenden Winterhauptes Schnee.

 

 

 

Verzückungen

„Der Vers“, hat der amerikanische Dichter Charles Olson einmal gesagt, „muss gewisse Gesetze und Möglichkeiten des Atems einholen und sich ihnen verschreiben: des Atems und Atmens dessen, der schreibt, wie auch seines Zuhörens.“ Der neue fabelhafte Gedichtband von Volker Sielaff ist in dieser Hinsicht ein einziges Exerzitium der Atemgebung. Wenn der Autor am Ende „Zehn Zen Zeilen“ ausstreut, kleine leuchtende Offenbarungsaugenblicke, dann gibt er auch das Erkenntnisprinzip preis, das ihn zu seiner Poesie der Existenzerhellung geführt hat. Nicht zufällig verweist Sielaff auf die Achtsamkeitslehre der Zen-Philosophie, zitiert deren Konzentration auf die Gegenstände, das absichtslose Schauen, das den Dingen zur Sichtbarkeit verhilft. Seine Gedichte folgen denn auch einer Poetik der zarten mystischen Erleuchtung, die bei der Vergegenwärtigung der Phänomene Wort und Ding verschmelzen will:

Eine Art höchster Verzückung,
die den Unterschied zwischen Ding und Sprache
noch nicht kennt.

Was der 1966 in der Lausitz geborene und heute in Dresden lebende Volker Sielaff in neun Kapiteln an sinnesöffnenden Gedichten, luziden Selbstbeobachtungen und Wahrnehmungsemphasen zusammengetragen hat, ist von überwältigender Intensität. Das Gedicht „Rollfeld“ spricht von der „Leere in ihrem höchsten Zustand“, der Leere als einem „Rollfeld, für Luft“. Ein anderes Gedicht evoziert die Windbewegung in bestimmten Bäumen – das „Ulmensausen“ gebiert hier den Wunsch des Subjekts, selbst „dem Wind anheimzufallen“. Eine Intensität des Schauens, die eine mystische Stille und Leere mit dem Hingegebensein an die Phänomene verbindet, trägt sehr viele Gedichte dieses Bandes – beglückende Epiphanien, die viel von Kindheit sprechen und von der Möglichkeit, die Welt anzuschauen wie zum ersten Mal.
Sielaffs Behutsamkeit orientiert sich an Inger Christensen, der grandiosen Verfasserin einer lyrischen Schöpfungsgeschichte (alphabet), und an Robert Creeley, dem amerikanischen Meister der Beiläufigkeit. Zu den schönsten Stücken in Sielaffs Selbstporträt mit Zwerg gehören die Gemäldegedichte, in denen der Autor religiöse Urszenen, etwa die Kreuzigung Jesu, mit dem Blick des skeptischen Nachgeborenen prüft. In den bewegenden Gedichten schließlich, die der Autor seiner Tochter gewidmet hat, sucht er nach einer „Form für das Glück“:

Es gibt Tage, sagt das Kind,
da ist Gott gar nicht Gott, da ist
der Mond auch nicht der Mond.
Da ist die Nacht eine große
Kugel, auf der man spazieren geht
bis wenn man müde ist.
Bis wenn der Mond
einfach bloß wieder
der Mond ist.

Michael Braun, Der Tagesspiegel, 3.12.2011

Lyrischer Moment

– Das Aktiv und das Passiv sind verschwistert. –

Puh, es ist kalt und ungemütlich geworden draußen; Zeit für das Sofa und Philosophie. Das Merve-Bändchen Abwesen des in Korea gebürtigen, in Basel als Privatdozent tätigen Byung-Chul Han ist wärmstens zu empfehlen, um spätestens nach der Buchmesse endlich zur Ruhe zu kommen. Die Dinge annehmen, akzeptieren, achtsam sein – solche durchaus bedenkenswerten Formeln lassen sich aus seinen Gedankengängen extrahieren. Die abendländische Kultur, erfährt man, ist nicht einfach eine Kultur des Aktivs, die der fernöstlichen Kultur als eine Kultur des Passivs entgegenzusetzen wäre.

Das Aktiv und das Passiv sind verschwistert. Sie treten gemeinsam auf. Je heller das Aktiv ist, desto dunkler wird das Passiv. Sie verhalten sich zueinander wie Licht und Schatten, wie Berg und Tal. Ein ausgeprägtes Passiv ist nur in einer Sprache, in einer Kultur möglich, der die Emphase des Aktivs, die Entschlossenheit eines heroisch handelnden Subjekts innewohnt.

Wie hat man sich das vorzustellen – ein Geschehen ohne Opfer und Täter, gewissermaßen? Und wie funktioniert das im Gedicht, wenn man diese Problematik zum Thema macht? Wie etwa der in Dresden lebende Dichter Volker Sielaff in seinem in diesem Jahr erschienenen, zweiten Lyrikband Selbstporträt mit Zwerg?
Der 1966 in Großröhrsdorf geborene, im ,Hauptberuf‘ als Theaterbeleuchter arbeitende Sielaff kritisiert die Gegenwart durch eine Umkehrung der Werte. Seine Beschäftigung mit dem Zen-Buddhismus schlägt sich deutlich nieder, seine Fürsprache für eine Grundhaltung der Achtsam- oder vielleicht auch Behutsamkeit stammt daher. Mir gefällt besonders der wunderschöne, kluge und sinnliche Text:

EXERZITIEN DES ALLTAGS

Ich war den ganzen Tag damit beschäftigt
auf eine Frau zu warten, ich hatte lange
nicht mehr auf jemanden gewartet, so dass
mir das Warten jetzt wie eine Gnade erschien

ein undefinierbarer Akt, der seine Einlösung
hinausschob. Das war das Leben:
einer – gerade geboren – streckte seine Hand aus,
was er greifen wollte, konnten wir nicht genau erkennen

aber die Geste war eindeutig, – und mehr als das.
Die Rede ist von einer Art Schwingtür.
Die Frau tritt ein und alles könnte bereits vorbei sein,
wäre das jetzt nicht – der Anfang.

Ein Exerzitium ist definiert als eine geistige, mentale Übung, die oft in religiösem Zusammenhang stattfindet. Wir haben es mit einer Tätigkeit zu tun, die auf Teilhabe am Erhabenen, auf Erkenntnis abzielt. Doch wovon erzählt dieses Gedicht? Wir erfahren in der ersten Strophe, dass ein Mann auf eine Frau wartet, und zwar – und dies ist das Entscheidende – gern. Das ist ungewöhnlich, verbindet man „Warten“ doch gemeinhin mit verschwendeter Zeit; und wenn das Eintreffen des Erwarteten oder des Versprochenen, nämlich der Moment des endgültigen Besitzes oder der endgültigen Ankunft, sich, subjektiv empfunden, allzu lange hinauszögert, spricht man gar von „Leiden“.
Und hier? Sielaff beschreibt jene Minuten oder Stunden, die sich anscheinend nutzlos, zwischen zwei Ereignissen erstrecken, nicht als unruhige oder ängstlich erlebte Übergangsphase, sondern als ganz und gar positiv. Nicht allein mit Hoffnung, sondern sogar mit Zuversicht sieht der Wartende der Frau und dem, was kommt, entgegen. Dies ist heutzutage, wo längst nicht mehr „nur“ von fast unzumutbarer Beschleunigung, sondern von einem „Schwirren“ der Zeit und der komplett fehlenden Erfahrung von Dauer philosophiert wird, äußerst befremdlich zu lesen. Lassen sich nicht, solange bis die Frau nun endlich kommt, ein paar Anrufe tätigen, die Zeitung durchblättern, noch schnell ein paar Termine bestätigen? Gewohnt, sich ausschließlich am Ziel zu orientieren, stellt sich heute das Intervall bis zum Ankunftspunkt nur noch als Hindernis dar, das möglichst schnell zu überwinden ist.
Ob das nicht eine Verarmung sei, fragt Volker Sielaff (der Han verinnerlicht und gleichsam wieder abgeworfen hat, um seinen eigenen lyrischen Weg weiter zu gehen) den Leser in vielen seiner Texte. Ob nicht die reine Zielorientierung, die Ökonomisierung der Lebensweise dem Zwischenraum jede Bedeutung nimmt, fragt er. Wir haben das Warten zu einem Korridor gemacht, dem jeder Eigenwert fehlt. Raum und Zeit verlieren immer mehr an Bedeutung. Man will schneller leben, mehr erleben, alle Tage ausfüllen; leicht vergessen wird dabei jedoch, dass, wer schneller lebt, auch schneller stirbt.
„Utopische Gedichte“ hatte bereits der gesellschaftskritisch orientierte Lyriker Nicolas Born (1937–1979), einer der bedeutendsten Schriftsteller der Nachkriegszeit, jene Texte genannt, die „der Wirklichkeit eine, statt Kritik zu äußern, den Zuständen beunruhigend schöne Vorstellungen entgegen setzen, die offen sind für Träume, Sehnsüchte, für die Möglichkeiten des Glücks“. Das „Bewusstsein von der Existenz unserer positiven Möglichkeiten“, so Born, sei „verkümmert, besonders in der Literatur, die doch gerade das vermittelnde Medium zwischen Imagination und Realität sein sollte. Wir sind so eingestellt, dass wir alle Vorstellungen an der Realität und an ihren Maßstäben von Realisierbarkeit messen, anstatt Realität immer an unseren besten Vorstellungen zu messen.“
Sielaff arbeitet an einer Poesie der besten Möglichkeiten. Das treffende Bild, in dem sich die Komposition „Exerzitien des Alltags“ zusammenfügt, ist jenes der Schwingtür (oder vielmehr „einer Art Schwingtür“), jener Typ Tür, der sich fließend öffnet und ebenso fließend auch wieder schließt. Diese Tür – Drehtür? Automatisch-sich-öffnende-Tür? – deutet auf einen öffentlichen Raum hin, ein Eingangsfoyer wie in einer Bank oder einer Schwimmhalle. Oder eines Krankenhauses, dann würde der Hinweis auf das neugeborene Kind Sinn machen, auf jenes Kind, das sich so eindeutig „und mehr als das“ verhält (nämlich kreatürlich), wenn es mit winzigen Fingern nach der Welt greift. Sicher kann man über die Position des Wartenden nichts sagen, und es scheint dem Autor nicht daran gelegen, in dieser Hinsicht Klarheit zu schaffen. So steht das Warten an sich im Vordergrund, nicht der Ort – er könnte überall sein. Sielaffs lyrisches „Ich“ ist zu beneiden. Es besitzt das Wissen oder zumindest den Optimismus, zu behaupten, was passiert: Es wird ein Anfang sein.

Silke Scheuermann, Volltext, Heft 3, 2012

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Wahrheit als Prozess: Volker Sielaffs jüngster Gedichtband Selbstporträt mit Zwerg
DNN, 28.12.2011

Martin Piekar: zeitgenössische Lyrik 7/10
martin-piekar.de, 30.5.2013

 

IM SCHWARZWALD, AN EINEM GEORDNETEN TAG

Volker war in den Wald gegangen.

Dort traf er zwei Jäger auf der Pirsch
& fragte, wonach sie jagten.

Es sei Schonzeit, sagten sie.

Sie ließen ihn gehen.

Für Volker Sielaff

José F.A. Oliver

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Facebook
Porträtgalerie: Dirk Skibas Autorenporträts
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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Volker Sielaff

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