Walter Aue: Paradiso terrestre

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Walter Aue: Paradiso terrestre

Aue/Appelt-Paradiso terrestre

PARADISO TERRESTRE

In einer Welt der Auflösung, der Verflüchtigung und Auslöschung heißt es, daß die schönsten Paradiese die vergangenen sind. Oder die nie gesehenen, die nur erträumten. Gegenwärtige Paradiese zieht man grundsätzlich in Zweifel, erscheinen unsichtbar, nicht wahrnehmbar, wirklichkeitsfremd, ja, wirklichkeitsfeindlich und nur als Idee, als Metapher akzeptabel, als Erinnerung möglich. Aber das sind nur Irrtümer, gegenseitige Tröstungen der aus dem Paradies vertriebenen, der ausgeschlossenen, umherirrenden Unglücks-Nomaden, von denen die Welt überbevölkert ist. Die die Einmaligkeit ihres eigenen Lebens vergeuden, verträumen oder nicht begreifen.
Wer im Mai 2002 auf der Piazza Santa Margherita in Venedig in der Sonne sitzt, die Heimeligkeit dieses einmaligen Platzes in sich einsaugt und in die Gesichter der jungen Menschen blickt, erlebt die Heiterkeit und Leichtigkeit des GROSSEN SÜDENS. Wer diesen Platz begreift, ist heimgekehrt. Wer ihn liebt, zu Hause. Es gibt keine Sicherheit und keine Gewißheit, ob das Sichtbare das Wahre oder das Falsche ist. Das mußt du selbst herausfinden. Es gibt auch keine eindeutigen Beweise, daß dieser Platz ein Paradies ist, das mußt du selbst entscheiden. Es gibt keine Wegbeschreibung, keine sichere Route für den einzelnen, keinen feststehenden Ort, keinen vorausbestimmten Zeitpunkt des Alters, um dieses Paradies zu entdecken, denn es ist überall auffindbar, erkennbar, sobald du in der Verfassung bist, es als ein solches zu erleben. Den notwendigen Instinkt besitzt, es zu finden, über den notwendigen Mut verfügst, es als ein solches zu bezeichnen. Und daran scheitern die meisten. Es heißt: Instinkt ist keine Alternative zum Lernen, sondern eine Erklärung, wie Lernen funktioniert. Wie das Glück deines eigenen Lebens zu erlernen ist.
„Es ist schwer, ein ,Paradiso‘ zu beschreiben, wenn alle äußeren Anzeichen auf eine Apokalypse verweisen“, antwortete Ezra Pound dem fragenden Donald Hall 1939. Damals war Pound vierundfünfzig Jahre alt und hatte bereits einen großen Teil seiner Cantos geschrieben: ein beispielloses, einmaliges Epos, an dem er von 1917 bis 1969 arbeitete und das in seiner vollständigen Form 803 Buchseiten umfaßt. Was treibt einen Poeten dazu, sich 52 Jahre lang mit einem einzigen Werk zu beschäftigen, in dem er all sein Wissen und Können erprobt, all seine persönlichen Erfahrungen, Gedanken und Empfindungen speichert? Die eigentliche Triebfeder von Pounds Cantos-Dichtung, so erklärt Eva Hesse, Kennerin und Übersetzerin seines Werks im Nachwort seiner LETZTEN TEXTE, war das Bedürfnis nach „einem sinnerfüllten Leben“. Diese Cantos sollten den Mitmenschen des Dichters zu einem „Paradiso terrestre“ weisen, „einem irdischen Paradies wohlgemerkt, ohne Rückgriff auf irgendwelche transzendentalen Behelfe oder Wertsetzungen“.
Also: Wovon ist die Rede? Vom Paradies auf Erden. Vom strahlenden Widerschein des irdischen Glücks. Aber nicht von diesem materiellen, sorglosen Wohlstand, den die Menschen unserer Spaßgesellschaft im allgemeinen darunter verstehen. Glück, das sind Alltagsmomente, Augenblicksmomente der eigenen individuellen Befindlichkeit. Das Wissen um den eigenen Zustand. Und es ist gleichgültig, ob wir den existentiellen und poetischen Lebensweg Pounds mit den Paradies-Gedanken Dantes, Vergils oder Homers vergleichen: Ein Weg dahin ist immer eine Odyssee und zuallererst eine umfassende Suche nach Sinn. In der Dichtung Pounds eine emotionale Synthese von Darstellung und zeitbedingten Sachverhalten:

So real, so realistisch wie nur irgendeine prosaische oder verstandesmäßige Analyse sein kann.

Es ergibt sich die Frage, die Hans-Christian Kirsch am Anfang seiner Pound-Monografie stellt:

Wie war es möglich, daß ein Mann, dessen Intelligenz und Differenziertheit außer Zweifel stehen, auf eine nicht nur untaugliche, sondern menschenverachtende Überzeugung hereinfiel? Anders ausgedrückt: Wie konnte es dazu kommen, daß dieser so stilsichere Sprachkünstler und scharfsinnige Kulturkritiker Faschist wurde?

Ja, warum?
Da sitzt du im Mai 2002 auf dieser Piazza Santa Margherita und wiederholst die ewige Frage: „… WARUM SIE FEHLGEHEN / DA IHR SINN NACH RICHTIGKEIT STEHT“ („CANTO CXVI“) zum wiederholten Male: Warum diese Irrtümer, diese Fehler, dieser Mangel an Zweifel, dieses eigensinnige Beharren, warum dieses Scheitern, obwohl Pound – und wir alle – immer nur das Beste und Sinnvollste wollen? Jede Biografie, jede Odyssee schließt ihr mögliches Scheitern ein, jeder Glaube den Irrglauben. Und hier gedenke ich Pounds. Umgeben von jungen Humanisten, Pazifisten, Kommunisten, von jungen Globalisierungsgegnern und Berlusconifeinden, umgeben von Rassisten, Faschisten und beliebigem Gesocks. Der Platz EINE TEMPORÄRE, AUTONOME ZONE des Glücks. Niemand muß im Recht oder im Unrecht sein. Ich bin angekommen. Alles berechenbare, triviale, friedliche Gehirne, die unsere zerstörte Bürgergesellschaft nicht noch weiter zerstören lassen wollen. Und wie jede andere Gesellschaft, verfügt auch diese über Maßstäbe richtigen Wissens und richtigen Verhaltens, obwohl die dafür notwendigen Standards schon längst ruiniert sind. Also: Wovon ist die Rede? Von der Richtigkeit des eigenen Lebens, gleichgültig, in welcher Ausdrucksform.
Das Scheitern ist etwas Lebendiges. Es signalisiert etwas höchst Emotionales, Imaginäres: Die Verschmelzung mit einer dramatischen KAMPFZONE, in der du entscheiden mußt, wer recht und wer unrecht hat, wer schuldig und wer unschuldig ist. Für einen Schriftsteller, trotz seiner professionellen Nüchternheit, EINE RADIKAL PRIVATE ENTSCHEIDUNG IN ALLER ÖFFENTLICHKEIT. Alle anderen können ihre Irrtümer, ihre untauglichen, menschenverachtenden Überzeugungen immer wieder verheimlichen, verleugnen oder zumindest korrigieren, ohne ein öffentliches Zeugnis abzulegen. Ein Dichter wie Pound hat sich festgelegt.
Die einen bezeichnen das Schreiben als erkenntnisfördernde Tätigkeit, die anderen als Befreiung visionärer Ideen, als Befreiung von jeder Reglementierung, als individuellen Einspruch gegen des Kollektiv. Und wieder andere schließlich als ein extrem unkontrollierbares Spiel der eigenen Phantasie, gleichgültig ob tragisch, ironisch oder mit Hochmut und Überheblichkeit gespielt, wie es Ezra Pound praktizierte. Und er riskierte es von Angesicht zu Angesicht. Im Gegensatz zu vielen anderen sachlichen Tätigkeiten, ist sein Schreiben ein Terrain der eigenen Einbildungskraft. Eine Zone eigener Beobachtungen, eigener Erkenntnisse und Erlebnisse. UND DIESES SELBST WAR SEIN MACHTMONOPOL und hatte die Aura einer beispiellosen Berührung! Die Aura einer physischen Eroberung! Pound übertrat die Hemmschwelle zur Wildnis, und diese literarische, poetische Grenzüberschreitung begeisterte uns. Pound hat uns angerührt von Anbeginn, war unser Lehrmeister im Guten wie im Schlechten. Und was könnte einen Lehrmeister mehr auszeichnen als die „Suche nach dem eigenen Irrtum“? Seine berüchtigten, verbitterten, verblendeten, antisemitischen Radio-Ansprachen beschränkten sich auf die Jahre 1941 bis 1943: eine kurze Spanne Zeit im Leben eines alten Mannes, für die er 1945 des Hochverrats beschuldigt und zwölf Jahre in das Zuchthaus für Geisteskranke St. Elizabeth in Washington gesperrt wurde. Eine Strafe im Übermaß, die das Maß der Gerechtigkeit längst überschritten hatte.
Es gibt keinen endgültigen Irrtum und keinen endgültigen Fehler im Leben von Ezra Pound. Es gibt kein unwiderrufliches Scheitern: Der Widerruf muß Menschen möglich sein und den Menschen zugebilligt werden. Nichts ist unverzeihlich. Jede Lebensreise besteht aus Widersprüchen, aus Fehlern und Irrfahrten, der Schiffbruch gehört zur Odyssee. Keiner, der sich zu Wort meldet, kann seine Cantos zu Ende bringen. Auch nicht ein Staat wie Amerika. Es ist keine Schande, am Ende aller Hoffnung, aller Träume, allen Lebens seinen ehemaligen Glauben zu verlieren und sich bis zur Selbstauslöschung zurückzunehmen. Und wir müssen nicht die Götter des antiken Mythos bemühen, um das Scheitern eines Menschen zu akzeptieren, verständlich zu machen. Wenn schon die großen Gestalten der Tragödien ihr Ziel verfehlen, muß das Mißlingen auch den „kleinen Gestalten“ des wirklichen Lebens zugestanden werden, auch wenn sie nicht „die Umrisse der Weltgeschichte erkunden“ wie Pound. Aber noch ein letztes Mal die Fragen von Wieland Schmied:

Wie war das möglich? Wie konnte sich ein Mensch so weit von sich selbst entfernen? Was hat er erreicht?

Sich selbst! Denn niemals war er sich näher als in seinem Irrtum, niemals war er mit sich selbst identischer als in seiner Niederlage, in seiner Vergeblichkeit. „Fast alle gute Prosa“ schrieb Pound 1918 in einem Essay, „entspringt einem Instinkt der Verneinung.“ Aber nichts ist für eine Staatsmacht provozierender als seine Verneinung. Gerade dann, wenn dieser Ablehnung ein wahres und beispielhaftes Lebensgefühl zugrunde liegt.
Venedig also, zum wievielten Male? Ich weiß es nicht. Ich höre das Geläut der Glocken, sehe die Tauben und den Dämmerhimmel, trinke mein Bier zwischen den Jungen, als würde ich dazugehören. Alles ist gleichzeitig. Die Piazza ein Cinema naturale. Ein Platz, den ich in all den zurückliegenden Jahren noch niemals gesehen habe. Und zum allerletzten Male: Worum ging es Ezra Pound? Er wollte den Krieg bekriegen, die wahren Wurzeln des Krieges entlarven, die Motive des Übels benennen. Die Gründe aller Kriege waren für ihn die kapitalistischen Bedingungen der Ökonomie, das Geldsystem mit Zins und Zinseszins, die Profitgier der Großbanken und Konzerne, DIE SELBSTVERMEHRUNG DES KAPITALS, für die er allein das internationale Judentum verantwortlich machte. Kriege sind keine Möglichkeit der Verbesserung, der Erneuerung, und diese Erkenntnis gilt für alle Seiten gleichermaßen. Damals und heute. Das alles sind Erfahrungen, die die eigenen Irrtümer über die Zukunft des Menschen mit einschließen. Was sich Ezra Pound wünschte, war die Heimkehr in ein friedliches Ithaka, und was er anklagte, war die Schuld am Trojanischen Krieg. Und dieser Krieg wiederholte sich in Europa und Vietnam, im Kosovo und Afghanistan. Was für ein Teufelskreis der Bilder, was für ein Labyrinth der guten Absichten, daß man heute die gefesselten Taliban in die gleichen eisernen Käfige sperrt wie 1945 Ezra Pound im amerikanischen Straflager bei Pisa. Und was für eine Ironie der Weltgeschichte, daß dieser geblendete, verblendete Zyklop Pound, dieser Prometheus der angelsächsischen Dichtung gerade in der Zeit seiner Bestrafung die schönsten, die klügsten Pisaner Cantos schrieb! Gerade im Moment seiner tiefsten Demütigung und Sühne zur höchsten konfuzianischen Klarheit gelangte.
Aber zurück in die Jetztzeit. In eine Zeit, in der die Jagd nach Osama bin Laden ihren Höhepunkt erreicht und die heftigsten Kämpfe zwischen mutmaßlichen Al-Quaida-Einheiten und amerikanischen Truppen begonnen haben. Seit dem Terror-Anschlag vom 11. September 2001 in New York gibt es einen weltumfassenden Krieg gegen den Terror, gegen das Böse schlechthin. Doch wer kann schon zu den BÖSEN gehören, seine „Fehler eingestehen, doch die Richtigkeit nicht verlieren?“ („Canto CXVI“). Wer kann schon im Zeitalter der Globalisierung das Böse vom Guten unterscheiden, wenn die totale Vernetzung dieser historischen Werte kaum noch eine eigene Entscheidung zuläßt. Wer will da noch Hoffnung haben, wenn die Ängste vor der Flüchtigkeit des Glücks immer größer werden? Und trotzdem sind alle aufgebrochen, „nach dem ersehnten Paradiso terrestre zu suchen, das so flüchtig wie der Wind, wie eine Wolke ist.“ „Die Zukunft Amerikas in Afghanistan ist Feuer, Hölle und eine sichere Niederlage“, prophezeit der in den Bergen versteckte Talibanchef Omar, „der Kampf hat begonnen, und die Feuer werden das Weiße Haus erreichen, weil es das Zentrum der Ungerechtigkeit und der Tyrannei ist.“ So reiht sich Irrtum an Irrtum, eine apodiktische Schuldzuweisung an die andere, ohne daß wir die Schuld noch begreifen.
So sitzen wir glücklich beieinander und schweigen, während die Kriegstreiber und Weltenzerstörer das Heldenzeitalter der nächsten Katastrophe planen. Ein kurzes, entspanntes Innehalten bei einem Glas Bier. Venedig als Glücksfalle. Als Augenereignis, das berauscht und taumeln macht. Die Identität der sichtbaren Welt scheint aufgehoben. Dein Auge scheint keinen festen Halt mehr zu finden. Das Zentrum Venedigs ist für mich nicht der Markusplatz, sondern die CALLE QUERINI 25, in der einmal Ezra Pound wohnte. Kaum hatten wir das HOTEL ANTICO CAPON von Elias Capon auf dem Campo Santa Margherita gefunden, suchte ich in aller Eile die alten Fußwege zu Pound, mehr ahnend als wissend, zum wievielten Male? An der Tür noch immer der Name Rudge, darüber die Gedenktafel für Ezra Pound, den „Titan der Poesie“. Das war der Augenblick, in dem die Zeit keine Rolle mehr spielt, in dem die Jahrzehnte beliebig übereinandergelegt werden können und die Bilder meiner eigenen Erinnerungen zurückkehren, die ich längst vergessen glaubte. Damals, als ich, von München kommend, nach Gesprächen mit Eva Hesse und Horst Bienek, hier zum ersten Mal durch die Tür schritt. In die Höhle, in das Versteck von Pound trat. Ein Gedächtnisbild, das aufleuchtet und wieder verlöscht. Darüber ein zweites Bild: mit dem Konzeptkünstler Dieter Appelt vor dem Unterschlupf des Odysseus stehend, dieser wie Pound gekleidet, in gebückter Haltung, in Mantel, Hut und Schal, den Stock in der linken Hand. Der Weltabgewandte, Verfinsterte, Wortlose, Schweigsame. Ich fand es höchste Zeit, diese genial traumatisierte Pound-Gestalt nach meinem ersten Hörspiel im Rias noch ein zweites Mal zu erneuern, zu erfinden, sie als Foto-Recherche weiterzureichen in die zeitgenössische Konzeptkunst. Und diesmal nicht nur als Stimme, sondern als ein wirklich lebender, sich hin und her bewegender Körper.
Daran denke ich jetzt zurück, im Mai 2002, Jahrzehnte zu spät. Hier in der Trattoria Ai cugnai sitzend, bei der alten Elonia Ondratto, wie damals und viele Male danach. Schräg gegenüber der Tisch von Ezra Pound. Und ich sehe ihn sitzen, und ich sehe Allen Ginsberg sitzen und schließlich darübergeblendet Dieter Appelt als Pound: So nahe wollten wir ihm sein, daß wir einen zweiten Pound erfanden, der bis auf die Schuhe, Socken und Unterwäsche mit dem ersten Pound fast identisch war. Wir hatten einen Doppelgänger geschaffen, eine Kunstgestalt, mit der wir durch die Gassen und Plätze Venedigs wanderten und am Ende schließlich zu seinem Grab, wo sich Appelt seiner Pound-Kleidung entledigte und ich die Buchseiten der Pisaner Cantos vor sein Grab streute. Das ist lange her, in weite Ferne gerückt. Das waren Energieströme, die uns weitertrieben zu dem ehemaligen Gefangenenlager bei Pisa, wo sie Pound in den berüchtigten „Gorillakäfig“ sperrten. Und weiter nach Rapallo, wo wir in seinem Hotel wohnten, und am Ende nach Sant’Ambrogio, seinem alten Haus in den Bergen, in dem ich schon Jahre zuvor mit Heidi Widmer gewesen war. Und noch immer besteht der Stoff, aus dem die heutigen Kriege geschaffen werden, aus der gleichen Machtbesessenheit der Politiker und der hemmungslosen Gewinnsucht der Wirtschaftskonzerne. Noch immer gibt es das Böse und das Gute, die Allianzen der Verbündeten auf beiden Seiten. Ezra Pound wollte nicht nur mit dem faschistischen Mussolini sprechen, sondern auch mit dem Präsidenten Roosevelt und einer Reihe europäischer Regierungschefs, um eine friedliche Wendung der Lage herbeizuführen, den Krieg zu verhindern. Aber mit wem sollte er heute sprechen? Ich weiß es nicht. Nicht hier in Venedig und nicht dort in Berlin. „Weder Leben noch Tod ist die Lösung“, schrieb Pound.
„Wenn du alt bist, liegt die Vergangenheit wie ein dickes Glas auf der Gegenwart, läßt sie schwanken, verzerrt sie“, vermerkte Virginia Woolf. Und durch dieses Glas sehe ich Appelt in der Rolle des alten, todkranken Pound. Seine letzte Maske, die er verwendete: Herakles oder Odysseus. Der Eigenbrötler, der Einzelgänger, der Querulant und Spinner, in einer Phase des apokalyptischen Zweifels: mit dem Stigma des Scheiterns behaftet. Ich sehe ihn noch, wie er auf dem Zattere, der langen Promenade gegenüber der Giudecca, langsam auf und ab geht. Ein Neuanfang war nicht mehr möglich, das Projekt der Moderne war abgeschlossen. Die Fackel verlöscht. Die innovativen Schübe verebbt, versiegt. Seine revolutionären Utopien und Wirklichkeitsüberwindungen längst vergessen – oder niemals bekannt. Für uns wurde er damals zu einer Art Leitfigur, ein belebendes Sinnbild für Grenzverschiebungen und Bewußtseinsveränderungen, für Widerstand, Ästhetik und Mitmenschlichkeit. Appelt und ich inszenierten ihn als visuelles, poetisches Lehrstück, als Lebenskunstwerk, was man heute gewiß als politische Performance bezeichnen würde. Als Gefühlskultur. Unvorstellbar: ein Greis, ein Dichter, der die Sprache verweigerte und fortwährend an der eigenen Immaterialisierung arbeitete.
Zwei Tage Venedig, Ezra Pounds wegen. Am ersten Tag die Suche nach dem Haus von Pound und die Suche nach der Trattoria Ai cugnai von Elonia. Das Auffinden des Hotels AL LA SALUTE DA GIGI, in dem Allen Ginsberg wohnte. Alles schutzbedürftige Erinnerungsstücke, die mein Gedächtnis umklammern. Immer wieder dieses melancholische, schmerzhafte Spiel der Wiederholung, als wir am späten Abend mit dem Boot zum Markusplatz fahren. DAS WELTENFEUER LODERT, UND DIE GEFANGENEN TAUBAN HOCKEN WORTLOS IN IHREN EISERNEN POUNDKÄFIGEN. Das alles wird miteinbezogen, während die Musikkapellen vor den Arkadencafés noch immer ihren Wiener Walzer spielen: Was für ein warmer, unvergeßlicher Maienabend. Doch der Anschein realen Lebens überzeugt nicht mehr. In einer Welt der globalisierten Supermächte brauchen wir zur Bewältigung der Gegenwart noch immer den ganz normalen Klassenkampf, und der beginnt bei dir selbst. Uneingeschränkt neutral zu bleiben, geht nicht mehr. Diese infernalische Scheinhaftigkeit! DIESE LODERNDEN FEUER AN ALLEN ECKEN DER WELT. „Die Wissenschaftler packt das Grauen, und das europäische Denken steht still“, schrieb Pound im unvollendeten „Canto CXV“. Unvermittelt sehe ich ihn auf diesem Platz stehen, abgesondert von den Touristen, von Tauben umringt, mit Hut und Mantel und Schal, den Stock in der Rechten: der erste Pound und der zweite Appelt-Pound. Was ich hier lerne, ist das vorbehaltlose Nebeneinander der verschiedenen Pounds. Ihre prozeßhafte Welterkundung in alle Himmelsrichtungen gleichzeitig. Am zweiten Tag dann die Suche nach einer Anlegestelle im nördlichen Cannaregio, um zur Friedhofsinsel San Michele zu fahren. Venedig ohne klar überschaubare Gassen und Kanäle, ein Labyrinth, in dem die Füße blindlings in die Irre laufen. Und zum wievielten Male die gleiche Strecke nach Murano, Burano und Torcello? Ich hatte sie alle vergessen. Die Wellengeräusche wie Flügelschläge. Das Lagunenwasser schwarzgefärbt. Dieses Hinübergleiten zu den Toten, es könnte nicht besser inszeniert sein. HIER ENDET DEIN WELTEN LAUF! Die Annäherung an eine Biografie muß solche Grenzüberschreitungen aus der Fülle des Materials herauslösen. Oder besser: nachvollziehen. Egal, wie viele Lebensläufe ich schon beschrieben habe, seiner war der erschütterndste.
Was bleibt, ist das Paradigma des Archivierens: hier die Schwanengesänge und dort die Käfige der Andersdenkenden. Seit dem 11. September ist die Harmonie zerstört. Das Sehnsuchtsbild des Paradiso terrestre wieder einmal verlöscht. Aber wer heute den Palästinensern ihren eigenen Staat verweigert, ist ein Provokateur des Friedens. Doch „Je genauer man hinschaut, desto antisemitischer schaut es zurück“, heißt es in der FRANKFURTER RUNDSCHAU. Deshalb zurück in den Mittwochmorgen des 5. Mai 2002. Fondamente Nuove. Umringt von fröhlichen Touristen, die nach Murano oder Torcello fahren. Wir sind die einzigen, die auf San Michele das Boot verlassen und im Labyrinth der Gräber nach Ezra Pound suchen. „Legt mich zu Aurelie, gen Sonnenaufgang zu Stonehenge“, hatte Pound im „Canto XCVIII“ gebeten. Und natürlich wollte er nicht wirklich in Stonehenge begraben sein, sondern nur eine Art Heimat wissen, bei seinen Gefährten großer Ideen geborgen sein: bei Sigismundo Malatesta zum Beispiel, Walt Whitman, William Butler Yeats, James Joyce, T.S. Eliot oder Ernest Hemingway. Als ich dann endlich vor seinem mit Efeu überwachsenen Grabstein stehe, entdecke ich, daß inzwischen Olga Rudge daneben liegt. Jene unversiegbare Quelle all seiner Kräfte! Ein Fluchtort zu zweit. Und ich erinnere mich, daß sie sein Grab mit roten Rosen schmückte. Einmal stand ich mit dem blinden Fotografen Evgen Bavčar vor diesem Grab, der mit seiner linken Hand über die Namensplatte tastete, während er gleichzeitig mit seiner Rechten fotografierte. Und wieder dieses Ineinandergreifen meiner Gedächtnisbilder, die sich auf engstem Raum zusammendrängen, verschmelzen: der erste Pound, der zweite Pound und jetzt der letzte Pound. Die schönen Gräber von Strawinsky und Diaghilev kann ich diesmal nicht finden.
Wenn einer alles anders denkt als alle anderen, wird er selbst noch im Tod zum Außenseiter mit Charisma. Dieter Appelt und ich ließen uns davon so begeistern, daß wir im Hotelzimmer des Gastaldon in Venedig selbst noch die Sterbeszene von Pound inszenierten: ein vergröberter, aussichtsloser, aber trotzdem subtiler POLAROIDTOD. Keine Kunstschönheit für die Ewigkeit. Für uns ein fotografischer Nachvollzug, der nichts Endgültiges darstellen sollte, sondern nur die spontane Skizzierung einer Idee war. Die Performance des fiktiven Augenscheins, ein Sekundeneinfall, der hier in diesem Buch zum ersten Mal veröffentlicht wird. Seine Cantos okkupieren alle Sprachen, auch die Augensprache. Während der Fahrt zurück zum San Marco erinnere ich mich, daß ich mit Heidi Widmer das Krankenhaus am Campo Santi Giovanni e Paolo aufsuchte, das Sterbezimmer von Pound, und mit der Schwester sprach, die ihn pflegte, bevor er am 1. November 1972, zwei Tage nach seinem 87. Geburtstag, nicht mehr erwachte. So fahren wir dahin, an grünbemoosten Marmortreppen vorbei, an die das trübe Wasser schwappt. Möwen spreizen die Flügel: WOHER UND SEIT WANN? Venedig unter der Trübung des dicken Glases, das schon Virginia Woolf beschrieb. Und danach sah ich immer wieder diese schwarze Gondel des toten Ezra Pound, mit gelben Chrysanthemen bedeckt, wie sie langsam, fast zögernd und widerwillig zur Friedhofsinsel fuhr. Ein schaudernd-schönes Bild, das Venedig nicht vergessen sollte.
Pound war ein Voranschreitender, Vorausschauender, einer, der sich entrüstete und sich den Widerstand der Verneinung leistete: „Ich glaube an den Stil als Bewährungsprobe für die Aufrichtigkeit eines Menschen“, hatte er 1913 geschrieben. Und ich zweifle nicht daran, daß er in gutem Glauben von dieser Aufrichtigkeit überzeugt war, als er an seinen eigenen Fehlern scheiterte. Aber diese kulturpolitische Phantombewertung der Irrtümer Pounds hat es längst gegeben, und Eva Hesse und Wieland Schmied haben alles Notwendige darüber geschrieben. Mir geht es hier zuallererst um eine Serie von POLAROIDS, die heute an der Grenze zur digitalen Technologie und am Ende der „Polaroid-Epoche“ historische Ideenträger darstellen. Der Polaroid-Apparat war mein visuelles Skizzenbuch, das meine literarische Arbeit begleitete. Das schnelle Sofortbild wurde zur Inspirationsquelle, häufig sogar bevor die eigentliche künstlerische Aktion und der konzeptionelle Prozeß begannen. Mit dieser Maschine hatten wir den Mut zum Träumen! Damit konnten wir vorausdenken und voraussehen, welche Bildwirkung eine Idee auslösen würde, wenn sie die innere, unsichtbare Wirklichkeit zu durchbrechen begann. Damit hatte für uns eine neue Ära der Bildfindung und Darstellungsmöglichkeit begonnen, die heute, nach einer fünfzigjährigen Episode der Fotogeschichte, zu Ende geht. Es heißt: Polaroids „poetisieren die Welt“. Und was sie vor allem sind: UNIKATE! Unwiederholbare, einmalige Welt. Blitzlichtquadrate des 20. Jahrhunderts, in bewußter Unschärfe, verwischt, zufällig und flüchtig.
Während ich dieses Nachwort meiner letzten Venedig-Erkundung schreibe, werde ich zweiundsiebzig Jahre alt. Es ist das gleiche Alter, in dem Ezra Pound 1958 wieder in sein Italien heimkehrte und Odysseus sein Ithaka erreicht:

Ich habe meine Mitte verloren
da ich antrat gegen die Welt
Träume prallen aufeinander
und zerschellen
und daß ich mich machte an ein Paradiso terrestre

(„Canto CXVII–CXVIII“).

Was hast du versäumt, was blieb ungenützt? Und wie oft habe ich die falsche Wahl getroffen? Ich weiß es nicht. Für jeden, der dieses Odysseus-Alter erlebt, beginnt die letzte Etappe seines Lebensweges. Eva Hesse und Horst Bienek sind inzwischen gestorben, Wieland Schmied ist dreiundsiebzig Jahre alt. Was hielt sie aufrecht? Was war ihr persönliches Glück? Ich weiß es nicht. Pound wurde des Hochverrats und der Weltblindheit bezichtigt, er wurde von seinen Freunden verhöhnt und verlassen, bis er „erschöpft bis ins Mark“ war. Und er starb als einer der „ersten Männer einer Zukunft, die nicht zustande gekommen ist“, wie es Wyndham Lewis formulierte. Aber welche Zukunft kommt noch zustande? Was er erlebte, war die Welt- und Selbsterfassung in einem Maße, die schaudern macht. Altern hieß für ihn: außer sich sein. Hieß das radikale Eingeständnis seines Scheiterns, hieß: die totale Ratlosigkeit, was den Sinn von Geschichte betrifft. Des Lebens überhaupt:

Ich versuchte, ein Paradies zu schreiben
Rühre dich nicht
laß den Wind reden
so ist es das Paradies
Laß die Götter mir nachsehen, was ich
hervorgebracht
Laß die, die ich liebe, mir nachsehen
was ich hervorgebracht

(„Canto CCX“).

Als letztes zurück in die alltägliche Normalität des Campo Santa Margherita, am 15. Mai 2002 in Venedig. Die Stadt in der fließenden Transparenz des letzten Sonnenlichts. Die Fassaden der Häuser elegisch schöngefärbt in ihrer wundersamen Altersmilde. Alles scheint ein Vorbote endgültigen Verschwindens zu sein. Wir waren ein letztes Mal bei Leonia Ondratto in der Trattoria Ai cugnai in der S. Vio Accademia 857, wo ich, an dem Tisch von Ezra Pound sitzend, sein Porträt und den Titel dieses Buches an der Wand befestigte. Alles ist naturgetreu wie damals vor dreißig Jahren: ein herzbewegendes Erinnerungsspiel im Wonnemonat Mai. Ein letztes Essen für uns allein, während das Lokal geschlossen bleibt. Ein letztes Gedenken mit der alten Leonia.

Und der alte Homer blind, fledermausblind.

Grünes Geäder und Wirbel, dann ruhiges Wasser. Ins Unmaß verfallen kann jeder. Sein Gedicht eine Art Logbuch, das die Geschichte mit einschloß. Aber: „Sein Odysseus ist nicht nur Aeneas, Kadmos, Dante oder er selber – er ist vor allen Dingen auch ,Jedermann‘“, heißt es im Nachwort der Cantos von Eva Hesse.
Hier sitzen wir also in nächtlicher Schwärze. Umringt von den jungen Studenten des Viertels. Das Paradiso terrestre ist ein erreichbarer Ort. Ein legendärer, aber authentischer Ort: Ein Sekundenort des Glücks, das unmittelbar sinnlich erfaßbar ist, das sich jedermann eröffnen kann, der das Wagnis eingeht, es zu benennen: Es befindet sich nicht irgendwo „zwischen Dante und Marx“, sondern in dir selbst. Und es ist besser,

gehandelt zu haben, als nicht gehandelt zu haben…
Der Fehler liegt im Nichttun
Und in dem Kleinmut, der nichts wagte

(„Canto LXXXI“).

7.6.2002

 

 

 

Anfang des Jahres 1982

arbeiteten der Konzeptkünstler Dieter Appelt und der Literat Walter Aue in Venedig, Pisa und Rapallo an dem fotografischen Nachvollzug einiger biographischer Lebensabschnitte des amerikanischen Dichters Ezra Pound. Dieter Appelt übernahm im äußeren Aussehen von Pound, seine Körperhaltung und Mimik vortäuschend, die Rolle des greisen Pound und es entstand an den authentischen Schauplätzen eine Bildkette von Standfotos, die aus der tatsächlichen Biographie von Pound stammen könnten, aber in Wirklichkeit nur frei erfundene Szenen der beiden Autoren darstellen. Die Aufnahmen sind so perfekt „gestellt“, daß das flüchtige Bildgedächtnis des Betrachters die zwei Identitäten kaum zu unterscheiden weiß und als einheitliche Gestalt wahrnimmt. Appelt in der Doppelrolle des Pound-Darstellers und Selbstdarstellers, und wie das Bildnis von Pound noch einmal lebendig wird, seinen eigenen Tod von 1972 überlebend, Pound vor seinem ehemaligen Wohnhaus in der Calle Querini von Venedig, im Restaurant seines Viertels oder vor seinem eigenen Grab auf der Insel San Michele stehend, als wären die Fotos die wirklichkeitsgetreuen Bild-Dokumente eines Journalisten. Die Recherche dient als Täuschung, der jeweilige Originalplatz der Biographie als Ausgangspunkt fiktiver Handlungen, die mögliche oder authentische Handlungen nachvollziehen oder ergänzen. Appelt und Aue besuchten u.a. die Landschaft des ehemaligen amerikanischen Militärstraflagers von 1945 bei Pisa, wo Pound wegen Hochverrats in einem eisernen Käfig gefangen gehalten wurde, und wo er seine Pisaner Cantos schrieb. Sie besuchten das Haus von Pound in Sant’Ambrogio bei Rapallo, das Pound nach seiner Rückkehr von Washington bewohnte (nachdem er von 1946 bis 1958 eine zwölfjährige Inhaftierung im Hospital für kriminelle Geisteskranke überstanden hatte) und wohnten schließlich im gleichen Hotel Gran Italia in Rapallo, in dem einmal Pound mit seiner Ehefrau Dorothy Shakespear lebte. Sie fotografierten Pound vor dem Hotel-Interieur, inszenierten seinen Spaziergang zwischen den Ölbäumen seines Gartens und arrangierten am Ende seinen möglichen Tod: Das Ende von Pound, der sich Odysseus nannte. So entstanden über hundert Schwarzweiß-Fotos und 60 Polaroids, die, in Bild-Sequenzen geordnet, eine parallel verlaufende Biographie von Pound suggerieren, die in ihren besten Varianten mit dem wirklichen Lebenslauf (und Lebensende) Pounds identisch sein könnte. Walter Aue hat den Prozeß dieser konzeptionellen Idee in Form eines Tagebuchs festgehalten und vor Ort die Arbeitsweise von Dieter Appelt beobachtet und interpretiert.

Druckhaus Galrev, Ankündigung

 

Ezra Pound in London / Huldigung an Ezra / Der rappelköpfige Anhang

Zum Thema:
Es ist gewiß ein seltsames Phänomen, daß wir von den größten Dichtern der Welt, Homer und Shakespeare, so gut wie gar nichts wissen, ja nicht einmal soviel, daß man mit Sicherheit sagen könnte, sie hätten gelebt. Ihre persönliche Wirklichkeit entzieht sich dem biographischen Zugriff. Auf ähnliche Weise finden wir in der Vielzahl der Reportagen und Skizzen von persönlichen Bekannten und Besuchern und den zwei-drei Biographien über Ezra Pound meist eine recht zutreffende, wenn auch unfreiwillige, Selbstdarstellung des Berichterstatters, erhalten aber statt eines Persönlichkeitsbildes von Pound meist nur eine Serie von Posen, die noch dazu über die Zeit einigem merklichen Wandel unterworfen sind. Daß es sich jedoch um Posen eines im Grunde schüchternen und verschlossenen Menschen handelte, hatte bereits A.R. Orage mit dem ihm eigenen Scharfblick erkannt:

seine Exzentrizitäten sind die Feinde seiner Persönlichkeit, und sie werden, wenn er sie nicht abstellen kann, immer mit seiner Arbeit und mit seinem Erfolg im Widerstreit liegen. Mr Pound erweckt bei seinen Lesern, scheints, am liebsten den Eindruck, daß er ein Eisenfresser sondergleichen und ein Scharlatan reinsten Wassers sei, der sich anmaßt, Leuten, die turmhoch über ihm stehen, Tugenden zu predigen, deren er sich selber nie befleißigt hat. Es ist ein absolut falsches Bild, ein ausdermaßen unähnliches Selbstporträt, eine böswillige Karikatur seiner selbst. Ein Psychoanalytiker würde in all dem die ,Kompensation‘ erkennen, einen Versuch von seiten Mr Pounds, seine positiven Eigenschaften als Fehler zu tarnen. Kurzum, Mr Pound hat nicht den Mut zu seinen Tugenden (Readers and Writers).

Tatsache ist, daß sich wohl kaum je ein Mensch persönlich so für seine Mitmenschen und Freunde verausgabt hat wie Ezra Pound und bei alledem persönlich so verschlossen und unnahbar blieb. Man achte einmal darauf, wie häufig er sich in seinem Werk dort, wo die Emotion durchbricht, in eine Fremdsprache oder ein Zitat flüchtet. Zu den fulminantesten Posen Pounds gehört sicher seine genießerische Selbstverteufelung in der Irrenanstalt – als „Opa in der Klapsmühle“ wie er sich bezeichnete – es war eine Pose, unter deren Schutz er einige seiner genialsten Arbeiten verfaßt hat. Doch die große Show, die er damals abzog, entfremdete ihm viele seiner besten Freunde. Selbst hier in der „Klapsmühle“ begegnen wir noch – wiewohl in der Karikatur – dem einen Grundzug all seiner mitmenschlichen Beziehungen, jener fast unglaublichen Hilfsbereitschaft in jeder geistigen und materiellen Anforderung an ihn, wie sie sich in der literarischen Revolution zu Anfang des Jahrhunderts so segensreich auswirkte, und die sich mit der „Ein-Mann-Universität“ zu Rapallo in einer gänzlich unabsehbaren (und bislang ungesichteten) Korrespondenz mit Freunden, Gegnern, Schützlingen, Verlegern, Zeitungen usw. fortsetzen sollte. Wenn William Carlos Williams (der für alle, die zu schwach waren, mit Pounds Posen zu leben, zu einer Art Pound-Ersatz-Figur geworden ist) schreibt: „er fühlte sich stets allen Menschen seiner Umgebung überlegen und konnte keinen neben sich gelten lassen“, so wirft dies wiederum mehr Licht auf Williams’ Charakter als auf Pounds – man braucht nur in den Letters nachzulesen, wie tief Pound von Eliots und Joycens Schaffen beeindruckt war und wie wenig Raum er dem Neid gab. Aber die Äußerungen Williams’, dieses ältesten „Freundes“ noch aus der Universitätszeit (1903), dessen poetische Theorien, dessen Hauptwerk Paterson (1946–1958) und dessen späte Forderung junger Dichter als eine einzige Anleihe bei Pound verstanden werden könnten, werden immer wieder als der Weisheit letzter Schluß über Pounds Charakter hervorgeholt. Pound selber hat es nie nötig gefunden, sich in persönlichen Dingen zu verteidigen, ebensowenig wie er je persönliche Verdienste um seine Schützlinge in Anspruch genommen hat – all das scheint ihn kaum zu berühren: „Ihre Ausfälligkeiten erheiterten mich in meiner grünen Zeit“ – dies ist die einzige Äußerung Pounds über diese Dinge, zu lesen in dem vorletzten Canto-Fragment (CXV). Um das zu verstehen, sollte man vielleicht auf die Ichlosigkeit des dichterischen Genius verweisen, die Nietzsche konstatiert. Pound selber stößt uns ja in einem seiner frühesten Gedichte („Die Flamme“) darauf:

Wenn meine Seele aufgegangen, wenn ich
Gänzlich verquickt und eingetaucht bin…
Suche nicht meine Lippen ab, Liebste, laß meine Hände
Was hier als Mensch sich regt, ist nicht mehr sterblich
Und sahst du meinen wesenlosen Schatten
Sahst du das Spiegelglas der Augenblicke
Das alle Dinge, die einfallen, wiedergibt:
Nenn diesen Spiegel dann nicht mich
Denn ich entzog mich deinem Griff, ich bin entronnen.

Eva Hesse, in: Eva Hesse (Hrsg.): Ezra Pound. 22 Versuche über einen Dichter, Athenäum Verlag, 1967.

Ezra Pound in London

An einem Herbsttag des Jahres 1916, als wir über Wimbledon Common spazierengingen, erklärte mir Ezra Pound den Stand der englischen Literatur und bildenden Kunst von damals; zweifellos ein lehrreicher, umfassender Bericht, eine Art Betrachtung aus der Vogelschau für eine Landpomeranze, die gerade in der Hauptstadt eingetroffen war. Obwohl wir schon seit längerem miteinander korrespondiert hatten, bekam ich ihn doch damals zum erstenmal zu Gesicht.
Anfangs redete Pound ausschließlich über T.E. Hulme [1883–1917], und wieso dessen Gedichte im Anhang zu seinem eigenen Gedichtband Ripostes mitabgedruckt worden waren. Obwohl vieles von dem, was er da wohl gesagt haben mag, in Glenn Hughes’ Imagism and the Imagistes später festgehalten und nachlesbar geworden ist, habe ich für meine Person ehrlich zu bekennen, daß ich damals von seinen Mitteilungen praktisch kein Wort mitbekommen habe – höchstens ein paar Namen aus einem sicherlich unschätzbaren und höchst persönlichen Vortrag von augenfälliger Dramatik. Überdies pfiff der Wind uns um die Ohren und riß Pound die kaum gesprochenen Worte von den Lippen; weg waren sie, irgendwo im Weiten. Ja, nicht genug damit: Pound spricht alles anders aus als der normale Mensch: die Basis ist wohl amerikanisch, doch spaßeshalber durchsetzt von verwegenen Kreuzungen aus „high society“-Redensarten und deftigem Cockney, garniert mit französischen, spanischen und griechischen Ausrufen, seltsamen Urlauten, sonderbarem Gewieher, das Ganze durch theatralische Pausen und Diminuendos höchst eigenartig moduliert. Man braucht Zeit, um sich daran zu gewöhnen, umso mehr als Pounds sprunghafter Geist seine Rede – ebenso wie seine Schriften – mit Untertönen und Anspielungen spickt. Ich begriff von dem, was er mir da sagte, so wenig, daß er genauso gut einen Hund hätte spazierenführen können; außerdem war ich viel zu aufgeregt – schließlich schritt ich ja neben dem leibhaftigen Geist der Auflehnung einher! Und dennoch war das alles für Pound so bezeichnend, so typisch für seine warmherzige Art, sein Bestreben, sich mitzuteilen und zu belehren, falls nur irgend etwas davon auf dankbaren Boden fiele.
Zu jener Zeit stand sein Name in England, zusammen mit dem des Bildhauers Jacob Epstein, für alles, was bedenklich anders und entsetzlich neu war. Noch hatte sich der Ragtime kaum zum Jazz entwickelt, noch wurden die Röcke erst ganz allmählich ein wenig kürzer. Die Allgemeinheit hatte nur verschwommen etwas über Futurismus, Kubismus, Imagismus und Vortizismus raunen hören, die sie mehr oder weniger für dasselbe, jedenfalls aber für nicht ganz geheuer hielt. Indessen ein paar ehrgeizige junge Leute gab es doch schon, die mit Schwung ihren Maeterlinck und Kipling in die Ecke gefeuert hatten und mit jenem schönen, ahnungslosen Enthusiasmus, der die jüngere Generation immer so liebenswert macht, hatten alle ihre kleinen Segel gesetzt für den neuen großen Wind, der da wohl aufkam. Man war einfach der Meinung: etwas Erregendes lag in der Luft, etwas, das die Jungen anging. Pounds Gedichte, in den Massenblättern dem Gelächter preisgegeben, hatten ihm gleich einen Anhang gewonnen. Um nicht den Eindruck der nachträglichen Übertreibung zu erwecken, zögere ich, davon zu sprechen, was die Dichtung von Pound und seinen Weggefährten seinerzeit für die rebellische Minderheit bedeutete. Fest steht, daß zwei- oder dreitausend junge Leute zwischen siebzehn und fünfundzwanzig sofort daran gingen, Gedichte in der gleichen Manier und im gleichen Tonfall zu schreiben, allerdings oft mit kläglichen Resultaten. Und daß man es dann im Endeffekt – in der Prosa weit mehr als in der Lyrik – tatsächlich vermied, „sieben Wörter“ zu nehmen, „wo drei genügten“, ist denkwürdig genug; Pounds Einfluß auf ein Dutzend Schriftsteller aber, die heute in der englischen und amerikanischen Literatur eine Vorrangstellung haben, ist überhaupt nicht wegzudenken. Sein Einfluß machte sich geltend im weitreichendsten Sinn sowohl wie in der unmittelbaren Anregung. Seit dem „zersetzenden Einfluß“ von Leigh Hunts „Cockney-Dichtung“ hatte es etwas Derartiges nicht mehr gegeben.
Pound spielte damals eine ganz eigenartige Rolle, was zum Teil daran lag, daß seine heißblütige Natur ihn von Anfang an – ebenso wie Leigh Hunt – zum Lehrer und Künder bestimmte, und andererseits daran, daß er als Amerikaner an den militärischen Aktionen von damals nicht teilzunehmen brauchte.
Heutzutage scheint die Ansicht zu herrschen, daß von 1914 bis 1918 kein Mensch in England Interesse an etwas anderem gehabt haben könnte, als Kriegsmaterial herzustellen, verwundete Soldaten zu unterhalten, belgische Flüchtlinge im Wohnzimmer kampieren zu lassen oder an der Front zu kämpfen. In Wirklichkeit empfand die vom Krieg am direktesten betroffene Generation das martialische Geschehen gar nicht als so welterschütternd. Junge Männer wurden in Uniform gesteckt und kamen an die Front; junge Frauen erhielten bessere Löhne; und dennoch war der Krieg niemals das ganze Leben. Er war viel eher eine grassierende Plage für die andere verantwortlich waren, etwas, das nun die junge Generation ausbaden mußte. Die Liste der Gefallenen in den Zeitungen bot die einzig zuverlässige und daher einzig interessante Information über das, was „drüben“ vorging. Sechzigtausend englische Freiwillige fielen, tot oder verwundet, an einem einzigen Tag, was publizistisch als großer Geländegewinn gewertet wurde – freilich, wir wußten wohl, was da wirklich passiert war, aber wir wollten es nicht sehen. Und die Gewohnheit half uns dabei. Die Männer, die überlebten und auf Urlaub nach Hause kamen, fragten in allererster Linie nach dem, was sie auch in normalen Zeiten interessiert hätte. Henri Gaudier-Brzeska [1891–1915] meißelte an seinen Statuen; Siegfried Sassoon und die anderen schrieben noch in den Schützengräben ihre Gedichte. Und erst als alles vorbei war, wurde uns der Krieg bewußt, erst dann wurde er von den Überlebenden in seinem ganzen unheilvollen Ausmaß und Widersinn erkannt.
Die Moderne in der englischen bildenden Kunst und Dichtung, von Pound und seinen Gefährten verkörpert, zu der die Kriegsgeneration naturgemäß das Ihre beisteuerte, war schon vor dem Krieg angebrochen. Bereits 1912 befand sie sich in vollem Gang. Der Krieg tötete einige der Begabtesten wie Gaudier-Brzeska und Hulme und verbitterte andere wie Richard Aldington und Robert Graves. Aber der Krieg war nicht die Geburtsstunde des Neuen, sondern beschleunigte nur, was da kommen wollte. Als der Krieg ausbrach, hatte James Joyce bereits das Jugendbildnis geschrieben oder war doch gerade dabei, es zu beenden. Ford Madox Hueffer, der sich später Ford Madox Ford nannte [1873–1939], hatte D.H. Lawrence bereits in der English Review abgedruckt. Harriet Monroe hatte die Seiten ihrer Zeitschrift Poetry bereits den Rebellen der Dichtung zur Verfügung gestellt. Wyndham Lewis hatte Tarr geschrieben und die fuchsinrote Zeitschrift Blast hatte mit ihren Manifesten und postkubistischen Illustrationen wie eine Bombe in den Salons eingeschlagen. Und Freud – gleicher Aufbruch auf ganz anderem Gebiet – hatte seine Vorlesungen in den Vereinigten Staaten bereits gehalten. Es ist vielleicht notwendig, auf diese Zusammenhänge hinzuweisen, bevor man behauptet, daß es 1916 Menschen gab, für die der Name „Ezra Pound“ mehr bedeutete als der Name „Joffre“. Die Überzeugung, daß Kriege kommen und gehen, Kulturen aber sich der Nachwelt eher kraft ihrer künstlerischen Leistungen als durch militärische Aktionen einprägen, war damals noch durchaus möglich. Ganz gewiß hat Pound selber dies niemals vergessen und wacker dazu beigetragen, daß sich die anderen dessen ebenfalls bewußt blieben.
Es ist kaum je zur Genüge anerkannt worden, welch schwere und wichtige Arbeit Pound zu jener Zeit für das Fortleben der Literatur geleistet hat. Es gab zahllose Aspekte dieses Wirkens. Als literarischer Berater des Egoist und als Londoner Redakteur von Poetry – später auch von The Little Review – durchkämmte er ständig die unbekannten kleinen Zeitschriften und spürte neue, noch unveröffentlichte Manuskripte auf. Es war für ihn etwas Selbstverständliches, junge Schriftsteller zu ermutigen und zu lancieren, als ob er – dabei selber ganz mittellos einer jener Kunstmäzene sei, von denen Lord Chesterfield sprach, als er seine Zeitgenossen daran erinnerte, es sei das „Privilieg der Privilegierten, den Besitzer von Geist zu fördern“. Nur der Briefträger mag wissen, wie viele Tonnen Manuskriptseiten sich in die winzige Wohnung hinter der Kirche von Kensington ergossen. Pound las sie nicht nur gewissenhaft, sondern wenn sich irgendwo auch nur der kleinste Ansatz einer Begabung abzeichnete, nahm er Stellung und kritisierte in explosiven, seitenlangen Briefen, verbesserte das Manuskript mit seinem Blaustift, erhielt es später korrigiert zurück und nötigte es, wenn es gut war, den nicht immer willigen Verlegern auf. Abgesehen von den Autoren, die auf dem Weg über die Post zu ihm fanden, gab es werdende Künstler, Bildhauer und Musiker, die zu unterstützen waren. Man mußte Gönner für sie finden, billige Zimmer, Freunde, eine Mahlzeit, geistige Anregung und eine ästhetische Erziehung; man mußte sie beglücken, indem man sie in ein Restaurant setzte, wo der Schatten der Großen – Yeats oder Arthur Symons – sie möglicherweise fruchtbringend berührte, oder man mußte sie mit dieser oder jener Anekdote, dieser oder jener noch nicht druckfähigen literarischen Lästerung, die nicht in Vergessenheit geraten durfte, traktieren.
Zudem mußten die Freiheit verteidigt, Ungerechtigkeit und Muckertum bekämpft, und das Recht gewahrt werden – auch hier wieder das Leigh Hunt-Motiv. Dann mußte nach Pounds Überzeugung etwas geschehen, um möglichst die mißlichen Zustände abzustellen, die zum Beispiel zum Verbot von D.H. Lawrences The Rainbow, zur Weigerung der Drucker, James Joycens Roman zu setzen, und zum Einsatz jungfräulicher Mädchen für das Ausschwärzen gewisser Zeilen in Blast führten. „Etwas muß geschehen“, sagte er damals, „oder wir alle werden verboten sein, nach Art der Gegenreformation, tot und abgetan.“ Also mußten Hunderte von Briefen geschrieben werden, um einflußreiche Leute mobil zu machen.
Weitere Hunderte von Briefen mußten versandt werden, um den Leuten klarzumachen, wie unklug es von ihnen wäre, sich T.S. Eliots Prufrock und Joyces Jugendbildnis nicht zu kaufen, und das zu einer Zeit, da weder Eliot noch Joyce über eine größere Anhängerschaft verfügten. Und Gaudier-Brzeska, auch für ihn mußte etwas getan werden. Da war der Krieg zu weit gegangen und hatte dieses junge Genie den Lebenden entrissen. Diese Werke mußten erhalten bleiben: es galt, einen vorausschauenden Sammler zu finden, der einen Teil davon übernahm, um die übrigen mußte man sich selber kümmern. Ein anderer, ein junger Dichter, war als Kriegsdienstverweigerer soeben aus dem Gefängnis entlassen worden, mehr tot als lebendig nach einem Hungerstreik: irgendwie mußte ihm klargemacht werden, daß er nicht nur ein Verweigerer war, sondern ein Rebell für etwas Reales, daß die Zivilisation mehr war als ein Chaos. In Triest saß Joyce, von Erblindung bedroht – war für ihn etwas unternommen worden? Nun erst sah man, wie weit der Krieg reichte. Dutzende von jungen Künstlern und Schriftstellern, die für die Zukunft Bedeutung hatten, waren stündlich in Lebensgefahr. Was war zu tun? Wer kannte den Premierminister oder hatte Beziehungen zu dem einen oder anderen Kabinettsmitglied, wer konnte Lady Cunard dazu bringen, mit jemandem in dieser Sache zu sprechen? Irgendwie geriet der Apparat in Bewegung, und Anfang 1918 war eine ganze Anzahl der vielversprechenden jungen Männer von der Front nach England zurückgeholt worden.
Bei all dieser Geschäftigkeit mußte Pound auch noch an seine eigene Arbeit denken und sich selber über Wasser halten. So übersetzte er damals nebenher das Libretto einer Oper (vielleicht waren es auch mehrere), während er zugleich hingebungsvoll die chinesischen Gedichte und japanischen Dramen nach den Notizen Fenollosas rekonstruierte. Kein Mensch konnte rühriger und heiterer sein. Er begann seine Briefe nach chinesischer Art zu unterzeichnen, mit einem Siegel, das Edmond Dulac für ihn geschnitten hatte; vom Zubereiten des Essens (eine der Künste, die er zur Vollkommenheit beherrscht) wandte er sich in seinem wallenden, abgetragenen Morgenmantel dem Cembalo zu, das Dolmetsch für ihn gebaut hatte; wenn er durch die Straßen streifte, mit weit zurückgeworfenem Kopf, sah er alles, begegnete er aller Welt, sprudelte über vom letzten Klatsch, ebenso wie von Erregung über die Bildhaftigkeit der chinesischen Schriftzeichen oder über eine Zeile von Rimbaud oder Leopardi, wobei er nie zu erwähnen versäumte, wie sehr ihm der Universitätsbetrieb, der elisabethanische Einfluß und Byrons Metrik gegen den Strich gingen, oder wie suspekt ihm die Altphilologie erschien.
Ein Treffpunkt, wo alle Menschen mit gleichem Geschmack und gleichen Interessen gelegentlich zusammenkommen konnten, schien ihm erforderlich. So kam es zunächst in einem billigen Restaurant in Soho und später, als dem Besitzer die Luftangriffe zuviel wurden, in einem Lokal der Regent Street zu allwöchentlichen, zwanglosen Zusammenkünften, wo sich alle einfanden, die es zu Pound zog, um auf eigene Rechnung zu essen und miteinander Fühlung zu nehmen.
Zu dieser allwöchentlichen Zusammenkunft fand sich 1917 und 1918 ein Kreis von Menschen ein, der einem aus der heutigen Sicht höchst eigenartig zusammengewürfelt vorkommt. Das Restaurant betrat also Pound, wie es schien, stets in wehendem Gewande, und ließ seinen Ebenholzspazierstock ratternd zu Boden fallen; unter seinem flammendroten, üppigen Haar das blasse katzenartige Gesicht mit den grünlichen Katzenaugen. Ergriff er das Wort, so räusperte er sich, gab seltsame Urlaute und Ausrufe von sich, benahm sich aber im übrigen recht förmlich und sehr zuvorkommend. Mit ihm kam Mrs. Pound, die sich leise und behutsam bewegte, wie eine jugendliche viktorianische Lady auf Schlittschuhen; sie hatte das klare, liebliche Profil einer Kwannon aus Porzellan. Unförmig, von seiner Uniform eingeengt, mit kornblumenblauen spähenden Augen in der weiten Landschaft eines hochroten Gesichts, mit schwerer Hängelippe unterm sandfarbenen Schnauzbart, das war Ford Madox Ford, der mit dröhnender Stimme endlose Anekdoten über Große Viktorianer, Große Präraffaeliten und Henry James zum Besten gab und dann von irgendjemandem erzählte, von dem kein Mensch je gehört hatte und den selbst damals niemand für ganz möglich hielt – Ford war für manche von uns eine Art Kuriosität, seit wir wußten, daß er als Kind für den kleinen Sohn Wilhelm Tells auf Rossettis Gemälde Modell gestanden hatte. Hochgewachsen, hager und hohlwangig, stets in das förmliche Schwarz gekleidet, das seiner hauptberuflichen Tätigkeit in Lloyd’s Bank entsprach, erschien als regelmäßiger Gast T.S. Eliot; für gewöhnlich war er schweigsam, hatte aber eine Art zu lächeln, die schüchtern-freundlich wirkte; drei oder vier junge weibliche Wesen, die dank eines Fünkchens Talent für Malerei oder Dichtung Einlaß gefunden hatten, himmelten ihn stets leidenschaftlich aber stumm an.
Der junge Mann in Uniform, der einem Farmer ähnelte, war Richard Aldington, auf Heimaturlaub von der französischen Front. Größer und schweigsamer noch als Mrs. Pound, irgendwie verstört wirkend, das war die Dichterin H.D., Aldingtons Frau [Hilda Doolittle 1886–1963]. Arthur Waley, von bleichem, gelehrtenhaftem Aussehen, der so leise und abgehackt sprach und unglaublich belesen war, fand sich fast jede Woche ein – er hatte gerade mit den hervorragenden Übersetzungen aus dem Chinesischen und Japanischen begonnen, die so deutlich Pounds Einfluß zeigen. Dann war da jemand vom russischen Ballett. Und wer war die Dame mit dem strengen Hut und dem nervösen Gebaren, die stets so hoch aufgerichtet dasaß? Das war die löwenherzige Miss Harriet Weaver, die Joyce abdruckte, als niemand anderer sich traute, und die es, davon bin ich überzeugt, dem Dichter überhaupt erst ermöglicht hat, sich dem Ulysses zu widmen, obwohl sie Joyce persönlich nie kennen gelernt hatte. Sie war es gewesen, die T.S. Eliot, Wyndham Lewis und Amy Lowell herausbrachte, als kein anderer etwas von ihnen wissen wollte; sie war es, die das Jugendbildnis, Tarr, Prufrock und Ulysses veröffentlichte (bis die Zensurbestimmungen es ihr verboten). Nur unter Druck, oder wenn geschäftliche Erwägungen es unumgänglich erscheinen ließen und auch dann nur so leise wie möglich und mit unsäglicher Gelassenheit, hörte man sie je über sich selber oder über ihre bemerkenswerte verlegerische Tätigkeit sprechen.
Hin und wieder tauchten auch andere Gestalten auf – Wyndham Lewis, von der Front zurück, gespenstisch bleich unter seinem schwarzem Haar, war anfangs von einer Einsilbigkeit, die gelinde gesagt einen gewissen Argwohn gegen seine Mitmenschen zu bekunden schien, offenbarte später aber eine unnachahmliche Kunst der Konversation, sang ausgelassene Lieder und entfaltete einen umwerfenden Humor. Zuweilen erschien auch Yeats mit der berühmten Stirntolle, die ihm in die Augen fiel. Er hing sehr an Pound, der früher unter seinem Einfluß gestanden hatte, und mit dem zusammen er gerade den gesamten Landor gelesen hatte. Arthur Symons kam ein- oder zweimal, gebrechlich und elegant, geradewegs aus dem Sanatorium. Die ausgefallensten Klatschereien machten die Runde und mischten Tageskram mit Weltweisheit. Man erzählte sich, was der junge H.W. Nevison im Café Royal über St. Augustinus und den Tod seiner Mutter gesagt hatte, um Ordentlich anzuecken; man sprach von Li T’ai Po und von Catullus, von Keats und der Edinburgh Review [1802–1929] und von dem großen Rüstungswerk, das (so wollte es allmonatlich das Gerücht) über Nacht von Zeppelinbomben zerstört worden war. Man sprach von einem Restaurant, wo man auf seine Lebensmittelkarten mehr Fleisch bekommen konnte, als einem eigentlich zustand. Beim Getöse der Luftangriffe hörten wir Jüngeren zum erstenmal von Proust reden, von der Baronin Elsa von Freytag-Loringhoven, von Negermusik und chinesischer Dichtung, vom Ödipus-Komplex, Rousseau dem Zöllner und von Gertrude Stein.
Das Fazit, dessen man sich damals allzu wenig bewußt wurde, war, daß etwas, worauf es ankam, auf wunderbare Weise in dieser Tischrunde fortwirkte, ja einfach am Leben blieb – zu einer Zeit, da so vieles andere in alle Winde versprengt oder nur noch Schutt und Asche war, da so viele Menschen umgebracht oder ins Gefängnis geworfen wurden, eine ganze Welt sich verloren wähnte. Es war, als erinnerte uns jemand daran, daß der Krieg nicht ewig dauern werde (wie es einem mittlerweile vorkam), und daß es auf lange Sicht wichtiger sei, neue Musik, neue lebensvolle Literatur, schöpferischen Drang und leidenschaftliche Interpretation zu haben, als zu glauben, in Mons wären Engel vom Himmel gestiegen oder die deutsche Bevölkerung verzehrte aus angeborener Niedertracht nunmehr Margarine, die aus Leichensud gewonnen werde. Solange diese Zusammenkünfte währten, war uns der Tod der Vielen nicht so wichtig wie der Fortbestand von etwas Lebenswertem: auf einmal konnte man sich wieder vorstellen, daß es schließlich neben jedem Marlborough auch einen Voltaire gibt und die Dinge, die überdauern, nicht Dummheit oder Furcht sind.
Pound setzte seinen Glauben in die Sache der Kunst, wie andere Menschen von Zeit zu Zeit an Patriotismus, Freiheit, Frauenstimmrecht oder Religion „geglaubt“ haben. Er drückte seine ureigenste Überzeugung aus, als er schrieb: „Künstler sind die Fühlhörner der Gattung, wenn auch die hartschädelige Mehrheit niemals ihr Vertrauen in die großen Künstler setzen wird.“ Und wenn er dann fortfuhr: „Friede beruht auf Mitteilung. Alle große Kunst besteht in dem Bemühen, sich mitzuteilen“, so liegt dies ganz auf der Linie dieser allwöchentlichen Zusammenkünfte, seines Glaubens an die „Gegenwart aller Zeiten“ und seiner wiederholten Behauptung: „Morgen bricht über Jerusalem an, indes Mitternacht noch die Säulen des Herkules verhängt. Alle Zeitalter sind gegenwärtig… Die Zukunft regt sich im Geist der Wenigen… viele Tote sind Zeitgenossen unserer Enkel“. Der leidenschaftliche Wunsch nach Mitteilung und Kontinuität, nach mündlicher Überlieferung und persönlichem Kontakt, der all dem zugrundeliegt, kommt in seinen Worten zum Ausdruck: „London ist eigentlich eine große Universität, und an die besten Fachleute kommt man vielleicht nur durch zufällige Gespräche heran.“ Deswegen erschien es ihm so wichtig, dieses wöchentliche Essen zu veranstalten, das noch für die ärmsten Angehörigen dieses sich stets verändernden Kreises erschwinglich war. Deswegen mußten hinterher ein paar von ihnen – mochten sie noch so unbekannt, unbeholfen, provinzlerisch und aufreizend sein – zu Yeats’ Montagabenden geführt werden, wo sie unter Kerzen sitzen durften, um Yeats mit seinem „oi remember…“ zu lauschen und aus den Unterhaltungen ihrer Altvorderen zu ergattern, was sie nur konnten, um mit der Vergangenheit und miteinander in unmittelbare Fühlung zu kommen. Deswegen war er bereit, einen ganzen Nachmittag an den unsympathischen und eingebildeten jungen Mann zu wenden, der ein paar Gedichte geschrieben hatte und vom Lande hereingeschneit war, um ihn zu sehen. Deswegen vergeudete er einen ganzen Vormittag an einen langen Brief mit Ratschlägen für eine linkische junge Dame über den Benimm im literarischen Umgang oder er verbrachte einen Abend mit dem Abtippen eines langen Briefes über die Ganze Kunst des Schreibens, der, falls er richtig verstanden wurde, dem Empfänger vielleicht einen kleinen Beitrag zum großen Strom der Literatur entlocken mochte. Deswegen machte er sich zum leidenschaftlichen Anwalt von Joyce und Eliot, Gaudier-Brzeska, Lewis und George Antheil. Und das war auch vor allem der Grund, warum er sich in die provenzalische Dichtung, den Großstadt-Slang und die chinesische Poesie so sehr einleben konnte. Das nahm er auf in seine Sprache und seine Gestaltung. Sie versucht, von überall her Quellen zu erschließen und in eine Einheit zu bringen, die in Wirklichkeit die autonome Einheit seines Selbst war.
Eine Herausforderung von solchen Graden, ein Einsatz für etwas so Festumrissenes und Unpopuläres, eine so energische Hingabe an eine Sache sind einem friedlichen Dasein kaum zuträglich. Es ist wohl über keinen Lebenden soviel Gehässiges und Zorniges gesagt und geschrieben worden wie über Pound – er für sein Teil hat das alles von Herzen genossen.
Bei weitem nicht alle, die in der fraglichen Zeit seine Gefährten und Schüler waren, sind ihm in Freundschaft verbunden geblieben – übrigens sind von diesen auch untereinander längst nicht mehr alle befreundet. Alle aber erinnern sie sich seiner, ungeachtet der Reibereien, die seither das Verhältnis belastet haben mögen, mit einer gewissen Dankbarkeit und Herzlichkeit. Denn Pound schätzte die Menschen häufig völlig falsch ein, mißverstand ihre Beweggründe und hielt sie für etwas, das sie ganz und gar nicht waren, oder traute ihnen Dinge zu, die ihnen durchaus fern lagen, und behandelte sie dann dementsprechend. Sein eigenes Auftreten war oft recht beunruhigend, um nicht zu sagen unheimlich. Grace Rhys erinnert sich mit einer gewissen Rührung, aber doch noch mit einer Spur der damaligen Bestürzung, wie Pound einmal bei ihr und ihrem Mann in Hampstead zum Abendessen eingeladen war. Es muß wohl im ersten Jahr seines Londoner Aufenthaltes gewesen sein. Der junge Amerikaner mit dem flammenden Haar und dem wehenden Gewande lehnte das Essen ab, griff aber eine Handvoll Rosenblätter aus der Blumenschale auf dem Eßzimmertisch und zerkaute sie, während er sich mit den Gastgebern unterhielt. Als sie von Tisch aufstanden, packte er eine große Karaffe Wasser, leerte sie auf einen Zug und warf sich dann – der Darstellung seiner Gastgeberin zufolge – der Länge nach auf ein Sofa, wo er leise blubbernd für den Rest des Abends liegenblieb.
Violet Hunt, die von jeher viel Phantasie besessen hat, verkündete in einem Augenblick der Gereiztheit, daß Ezra in Wirklichkeit der Abkömmling nomadisierender Indianer sei, die ihn als Kind ausgesetzt hätten; dem sonderbaren Säugling sei es jedoch gelungen, sich am Leben zu erhalten, indem er aus einem Kanister den er irgendwo in der weiten Wüstenlandschaft Amerikas gefunden hatte, Petroleum sog – bis er von einem reizenden alten Herrn aus dem Mittelwesten gerettet wurde, der keine Gelegenheit vorübergehen läßt, ohne mit heiterem Stolz seinen seltsamen Findling zu erwähnen. Es steckt viel von dem echten, dem hoch-explosiven Ezra in dieser kuriosen Geschichte. Das Porträt, das Wyndham Lewis von ihm malte, trifft diesen „echten Ezra“ noch besser. Etwas mehr als lebensgroß, das Gesicht wie gemeißelt (der katzenartige Ausdruck ist eben doch der einer ägyptischen Katze), Haare wie lange Feuerzungen, die lose graue Jacke, die das majestätische Wallen und Wogen seiner Kleider so trefflich wiedergibt, der mokante Ausdruck, der unvermeidliche Ebenholzstock, die Kraft, die Gefährlichkeit, die Einfalt des Mannes – dies alles ist hier festgehalten. Die riesige, überlebensgroße Büste Pounds von Gaudier-Brzeska ist inzwischen wahrscheinlich tief in der Erde von Violet Hunts Garten versunken. Pound selber bleibt heutzutage [anno 1931] unsichtbar, und abgesehen von seiner Dichtung hört man nicht viel von ihm. Er amtiert nicht mehr und hat nur ein paar Anhänger – als habe er mit jener ungeheuren Kraftanstrengung von 1912 bis 1919 alles Menschenmögliche (und eigentlich noch mehr) getan, und sei nun froh, von seinem fünfunddreißigsten Lebensjahr an den eigenen Garten bestellen zu dürfen.

Iris Barry, 1931, in: Eva Hesse (Hrsg.): Ezra Pound. 22 Versuche über einen Dichter, Athenäum Verlag, 1967.

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

 

Zum 80. Geburtstag von Ezra Pound:

Hans-Jürgen Heise: Ezra Pound zum 80. Geburtstag
Die Tat, 29.10.1965

Zum 100. Geburtstag von Ezra Pound:

Steve Lake: Ezra Pound
Akzente, Heft 5, Oktober 1985

Zum 45. Todestag von Ezra Pound:

 

 

Zum 50. Todestag von Ezra Pound:

Hans-Ulrich Fechner: Vor 50 Jahren ist der Dichter Ezra Pound gestorben
Die Rheinpfalz, 1.11.2022

Willi Winkler: Bürgerkrieg unter friedlichen Affen
Süddeutsche Zeitung, 27.10.2022

 

 

Fakten und Vermutungen zu Ezra PoundMAPS + IMDb +
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Nachrufe auf Ezra Pound: Die Tat ✝︎ Merkur ✝︎ Tumba

 

Ezra Pound liest Canto XLV.

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