Walter Helmut Fritz: Zu Ernst Meisters Gedicht „Langsame Zeit,…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ernst Meisters Gedicht „Langsame Zeit,…“ aus Ernst Meister: Sage vom Ganzen den Satz. –

 

 

 

 

ERNST MEISTER

Langsame Zeit,
Zeitlangsamkeit,
Wortlangsamkeit,
langsam, ich sage
ein Zeitwort,
ich sage es dir
zum Vertraun,
es ist
Sterben darin,
Mond und Sonne,
die Glut,
die Häuser anzündet,
Glocken auch,
daß sie schimmern.

Ein Jahr
ist kein Glück,
die Toten
sind keine Helfer.
Darum
komme von deiner Seite
mir der Bescheid
irgendwie, wie
es weitergeh’
und so weiter
zuletzt.

 

Doppelgesicht

Obwohl er während der vergangenen zwanzig Jahre in regelmäßigen Abständen Lyriksammlungen veröffentlichte, obwohl Kollegen immer wieder auf ihn aufmerksam machten, obwohl er eine Reihe von Preisen erhielt, hat der jetzt fünfundsechzigjährige Ernst Meister bis heute vergleichsweise wenig Echo gefunden.
Er arbeitet an einem strengen Werk, das dem Leser freilich nicht sehr entgegenkommt, sich auf weite Strecken eher zu verschließen scheint. Auch äußert er sich selten theoretisch zu dem, was er macht. Rudolf Hartung hat im Zusammenhang mit seinen Büchern von produktiver Unbestimmtheit gesprochen, Karl Krolow von darin sichtbar werdenden kryptischen Zügen, Walter Jens von Anspielungsreichtum, Otto Knörrich (in seiner Untersuchung Die deutsche Lyrik der Gegenwart) von einem hieroglyphischen Zeichensystem.
Auch das nebenstehende Gedicht ist – zumindest auf den ersten Blick – von der angedeuteten Undurchlässigkeit. Es hat – wie die (mit einer Ausnahme) anderen Stücke des Bandes Sage vom Ganzen den Satz – keine Überschrift, sondern ist Teil einer Suite. Kennzeichnend ist der hohe Ton, wie er Meisters Lyrik überhaupt eignet, ein Ton, der – nach dem Tod von Nelly Sachs und Paul Celan – bei uns selten geworden ist, der leicht Mißverständnissen ausgesetzt ist, da wir uns auf das in erster Linie lakonische Sprechen der zeitgenössischen deutschsprachigen Lyrik eingehört haben.
Liest man die erste Strophe von Meisters Gedicht, so ist man möglicherweise zunächst irritiert, weil man nicht gleich sieht, welches „Zeitwort“ (im Sinn des grammatischen Begriffs) gemeint sein könnte. Bis man merkt, daß Meister das Wort „langsam“ als Zeitwort (im inhaltlichen Sinn) versteht, als Wort, das in diesen Versen mit Altwerden und Tod zu tun hat, auch mit dem Altern der Gestirne, mit der Zeit, der „listigen Totschlägerin“, wie sie in einem weiteren Gedicht des Bandes genannt wird.
Die beiden Strophen sind möglicherweise auch ein – sehr diskretes – Liebesgedicht (seine in dem 1970 erschienenen Buch Es kam die Nachricht enthaltenen Liebesgedichte sind übrigens die unmittelbarsten, am meisten gelösten Gedichte, die Meister geschrieben hat). Darauf deutet unter Umständen – nach der Feststellung, daß die Toten keine „Helfer“ sind – die Bitte an ein Du um „Bescheid“, wie es „weitergeh’“. Aber auf alle Fälle ist das menschliche Gegenüber von großer Bedeutung. Beunruhigende Fragen, Lebens- und Todesangst, Ratlosigkeit werden in den letzten Versen spürbar.
Ein Gedicht also, das manches in der Schwebe läßt, sich nicht durchweg in Eindeutigkeit zwingen lassen will, „Doppelgesicht“ ist, Chiffre, gedanklich bestimmt, von einer Gedanklichkeit aber, die innerhalb der Imagination bleibt. Ein intensives, weitgehend hermetisches, der elliptischen Andeutung, der Formel, der Suggestion vertrauendes, auch ein einsames Gedicht.
Ein Gedicht zudem, in welchem – wie in vielen anderen Stücken Meisters – das Licht eine Rolle spielt: als Mond und Sonne, Glut und Schimmer. Einmal findet man die vor allem durch ihre Anschaulichkeit überzeugenden Zeilen:

Teller rund
und von Äpfeln
und Birnen schwer
ist das Licht

Eins der Gedichte des Bandes gilt einem Besuch am Grab Paul Valérys in Sète an der französischen Mittelmeerküste, eines Dichters, für dessen Poesie das Licht besonders wichtig war.

Walter Helmut Fritzaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Erster Band, Insel Verlag, 1976

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