Walter Helmut Fritz: Zu Helga M. Novaks Gedicht „solange noch Liebesbriefe eintreffen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Helga M. Novaks Gedicht „solange noch Liebesbriefe eintreffen“ aus Helga M. Novak: wo ich jetzt bin. 

 

 

 

 

HELGA M. NOVAK

solange noch Liebesbriefe eintreffen

solange noch Liebesbriefe eintreffen
ist nicht alles verloren
solange noch Umarmungen und Küsse
ankommen und sei es in Briefen
ist nicht alles verloren
solange ihr noch in Gedanken
nach meinem Verbleib fahndet
ist nicht alles verloren

 

Ist alles verloren?

Im Grund ist alles verloren – aus solcher Erfahrung, solchem Erschrecken, solcher Gestimmtheit kommen nicht wenige von Helga M. Novaks Gedichten. „ach es ist alles zuschanden“, liest man. Oder:

keine Liebe geht mir nun zur Hand.

Oder:

auch diese Nacht geht vorbei
und keiner kommt
und reißt meine Zäune ein

Diese Gedichte suchen unmittelbare Verständigung. Dem Leser fällt zuerst die Direktheit, Schnörkellosigkeit, Umweglosigkeit auf, mit der die Worte miteinander in Beziehung gebracht werden. „ich setze mich zusammen aus Schocks / ach was man alles verstehen und verdauen soll“ – der bestimmende, leitende Ton ist immer wieder der des Stoßseufzers, des Stoßgebets, des Hilferufs, der „Poesie für Entsetzte“ (Tadeusz Rózewicz).
Das Gedicht „solange noch Liebesbriefe eintreffen“ setzt gegen die Verzweiflung eine Hoffnung. In der Form der Wiederholung, der Aufzählung, der litaneihaften Variation, der Nennung von erträumten, erwarteten Liebesbriefen, Umarmungen, Küssen, Gedanken scheint die Möglichkeit der Belebung, Erregung, Befreiung auf, die Möglichkeit, daß „nicht alles verloren“ ist.
Es versteht sich von selbst, daß damit kein falsch verstandener, fadenscheiniger Trost beschworen werden soll. Dafür sind die Arbeiten dieser Dichterin zu illusionslos, zu hellsichtig, kennen sie zu genau die Bodenlosigkeit menschlichen Daseins, kommen zu deutlich aus dem Bewußtsein der Gegenwart des Todes, der „am Fenster steht“ oder „am Tisch sitzt“.
Daß das Gedicht in dem, was es sagt, aber ernstgenommen sein möchte, ist ebenso klar. Auch als ästhetisches Gebilde will es wahrgenommen werden, das uns daran erinnert, daß das Wort, welches Teil einer überzeugenden sprachlichen Gestalt geworden ist, einen eigenen Atem, eine lösende Kraft hat, zusammen mit der explizit formulierten menschlichen Wahrheit eine verwandelnde poetische Wirkung entfaltet.
Bewundernswert das Gleichgewicht zwischen den konzentrierten wenigen Worten, Zeilen des Gedichts und der Intensität dessen, was es zum Ausdruck bringt und weitergibt, das Gleichgewicht zwischen der emotionalen Energie und der Beherrschtheit der Sätze.
Man darf sich nicht täuschen lassen: auch dieses Gedicht, auf den ersten Blick scheinbar so „selbstverständlich“ in dem, was es mitteilt, kann seinen „artifiziellen“ Charakter nicht verleugnen; die Tatsache, daß es eine „Figur“ ist, die Erschütterung und Reflexion, Spontaneität und Kontrolle zusammenschließt, sich dem Zusammenspiel sehr unterschiedlicher Elemente verdankt.
Als Psychogramm einer Sehnsucht entstand es in einer persönlichen, alltäglichen, bedrückenden Situation und trägt deshalb – nach einer Formulierung Ungarettis – die unverwechselbaren Kennzeichen des Individuums und wahrt „gleichzeitig den Charakter der Anonymität, die die Poesie zum Eigentum aller Menschen macht“.

Walter Helmut Fritzaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Neunundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2006

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