Walter Hinck: Zu Bertolt Brechts Gedicht „Die Pappel vom Karlsplatz“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Bertolt Brechts Gedicht „Die Pappel vom Karlsplatz“ aus Bertolt Brecht: Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. –

 

 

 

 

BERTOLT BRECHT

Die Pappel vom Karlsplatz

Eine Pappel steht am Karlsplatz
Mitten in der Trümmerstadt Berlin
Und wenn Leute gehn übern Karlsplatz
Sehen sie ihr freundlich Grün.

In dem Winter sechsundvierzig
Fror’n die Menschen, und das Holz war rar
Und es fielen da viele Bäume
Und es wurd ihr letztes Jahr.

Doch die Pappel dort am Karlsplatz
Zeigt uns heute noch ihr grünes Blatt:
Seid bedankt, Anwohner vom Karlsplatz
Daß man sie noch immer hat!

 

Das freundliche Grün

Das Gedicht gehört zur Gruppe der „Kinderlieder“ Brechts aus dem Jahre 1950. Solche Umgebung lädt zur Unterschätzung ein. Dabei ist es in der Poesie gerade das Einfache, das schwer zu machen ist. Fürs Kinderlied trifft zu, was auch für neuere Versuche, im Volksliedstil weiterzudichten, gilt „Die modernen Lieder ,im Volkston‘ sind oft“, meint Brecht, „abschreckende Beispiele, schon ihrer künstlichen Einfachheit wegen. Wo das Volkslied etwas Kompliziertes einfach sagt, sagen die modernen Nachahmer etwas Einfaches (oder Einfältiges) einfach.“ Einfältigkeit wäre das letzte, was sich Brechts poetischem Dank für die Anwohner des Karlsplatzes nachsagen ließe.
Aber die Bedingung des Kinderlieds: uneingeschränkte Verständlichkeit, erfüllt das Gedicht – ohne beflissen in die vermeintliche Kinderpsyche hineinzuschlüpfen. Klar ist der Aufbau; der Dreischritt der Strophen führt aus der Gegenwart in die Vergangenheit, ins erste Nachkriegsjahr, und wieder in die Gegenwart zurück. Fast wirkt die erste Zeile der dritten Strophe, die den Anfangsvers nur wenig abwandelt, wie ein Kehrreim. Der Satzbau meidet Schachtelung; das Bindewort „und“ läßt eine Reihe nebengeordneter Sätze entstehen. Die Sprache bleibt leger; keine Lobrede wird hier geschwungen, kein Orden wird verliehen. Gezeigt werden ein uneigennütziges Verhalten und seine segensreichen Folgen. Das Handeln spricht für sich, da darf sich der Dank eher beiläufig anschließen.
Der Dichter macht von den Möglichkeiten der Volksliedstrophe, zumal der metrischen Freiheit in der Füllung der Senkungen, Gebrauch. Nur den Schlußversen der drei Strophen ist, wenn auch kaum merklich, die Ordnung des Trochäus unterlegt, so daß man diese Zeilen etwas langsamer liest. Sie wirken dadurch bedeutungsbeschwert; und tatsächlich wendet sich hier der Gedanke jeweils auf das Entscheidende hin: auf das freundliche Grün, den „Tod“ der Bäume in anderen Gegenden, die Rettung des Grüns am Karlsplatz. Nicht verschwiegen sei allerdings, daß ausgerechnet der Schlußvers des Gedichtganzen in Diktion und Bildlichkeit etwas abfällt.
Keine Illustration eines Programms der Ostberliner Staatspartei von 1950 oder der Grünen-Bewegung von heute bietet dieses Gedicht, obwohl es als poetischer Beleittext zu unseren Umwelt-Debatten wie geschaffen scheint. Wie alle bedeutende Kinderlyrik ist auch dieses Gedicht für die Weltsicht der Erwachsenen offen. Es entfaltet einen sehr anschaulichen Beispielsfall und erlaubt eine Deutung auf verschiedenen Stufen. Grundsätzlich erkennt das Gedicht dem Wohlgefallen Vorrang vor dem Nutzen zu.
Den Verzicht auf das Fällen eines Baums zur Notzeit, so wird demonstriert, belohnt die fortdauernde Freude am lebendigen Grün, an der Naturschönheit. Sinnliches Wohlgefallen ohne Besitzenwollen, ohne „Begehren“ aber – das zu wissen, muß man nicht unbedingt Kants „Kritik der Urteilskraft“ gelesen haben – hat immer auch eine ästhetische Seite. Im dritten der „Kinderlieder 1950“, im Gedicht „Die Vögel warten im Winter vor dem Fenster“, erhalten die „um eine kleine Spende“ bittenden Vögel ihr Futter: der Sperling, weil er im Sommer mit seinem Warnruf den Raben aus dem Saatbeet vertreiben half, der Buntspecht, weil er Ungeziefer aufpickte, aber auch die Amsel, die den ganzen Sommer lang nur sang. Auch hier also ein Plädoyer für ein Erfreuen, das sich nicht durch seine Nützlichkeit rechtfertigen muß. Läßt sich die Schlußstrophe dieses Gedichts als ein Gleichnis für das unbedingte Daseinsrecht der Kunst ohne Auftrag lesen, so „Die Pappel vom Karlsplatz“ als gleichnishafte Ermunterung, das Schöne (und damit auch die Kunst) über die existentiellen Schiffbrüche hinweg zu retten.
Ebenfalls im Jahr 1950 sinniert Gottfried Benn, in Versen unter dem Titel „Was meinte Luther mit dem Apfelbaum?“, über die legendäre Antwort Luthers auf die Frage, was er angesichts des nahen Weltuntergangs tun würde. Das „Pflanzen eines Apfelbaums“ ist zum Symbol einer Haltung des Dennoch, der Hoffnung geworden. Brechts Gedicht rückt uns noch näher. Auf die Zukunft setzt schon, wer einen Baum stehen läßt, ihn bewahrt gegen das Kalkül der raschen Verwertbarkeit.

Walter Hinckaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebzehnter Band, Insel Verlag, 1994

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