Walter Hinck: Zu Elisabeth Borchers Gedicht „Die große Chance“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Elisabeth Borchers Gedicht „Die große Chance“ aus Elisabeth Borchers: Gedichte. –

 

 

 

 

ELISABETH BORCHERS

Die große Chance

Abends entspannen uns eilfertige Bilder,
die Story der Gerechtigkeit,
das Epos zu dritt.
Da geht mit dem Killer
das Unrecht des Tags.
Da wird Sehnsucht gelehrt und gestillt.
Da sind wir nach Maß.
Wenn alles vorbei ist
und die Schöne am verwilderten Grab
des Vaters ihr Haupt neigt,
gehen wir schlafen.
Der nächste Morgen
kommt
blütenrein.

 

Schönheit mit Widerhaken

Das Gedicht nimmt gefangen durch eine poetische Schönheit, die ohne Reim auskommt. Restlos nutzt die rhythmische Bewegung den Spielraum des freien Versmaßes und der freien Zeilenform. Wie entscheidend hier der rhythmische Fluß der Verse ist, zeigt ein Vergleich mit der ersten Fassung des Gedichts (im „Jahresring 76–77“). Dort noch lauten die vierte und die fünfte Zeile:

Da geht das Unrecht des Tags
mit dem Killer zu Grund.

Was als kleine rhythmische „Kante“ empfunden werden mag, ist in der neuen Fassung verschliffen.
Die schöne Form fasziniert, aber sie verhindert nicht einen geheimen Widerstand des Lesers. Sie hat die Überredungskraft der „eilfertigen Bilder“ selbst, deshalb gilt es auf der Hut zu sein. Das abendliche Fernsehen als Heilkur nach den Strapazen des Tags?
Gewiß, es ist die Rede von einer Wirkung der Kunst, die wir seit Aristoteles Katharsis nennen: von der Erregung, Entladung und Läuterung der Empfindungen und Affekte zum Zwecke größerer Ausgewogenheit im seelischen Haushalt und im Umgang mit den Mitmenschen, zum Zwecke – warum nicht? – größeren Wohlbefindens des einzelnen, vieler. In den Filmgeschichten – auch der sogenannten Western – finden wir unsere Unrechtserfahrungen, zwischenmenschlichen Spannungen und Ängste bestätigt und zugleich entschädigt, aufgehoben in der „poetischen Gerechtigkeit“. Da werden wir mit neuen Sehnsüchten bekannt und mit ihrer Erfüllung, da projizieren wir uns selbst in Menschen hinein, an denen alles stimmt. Und die melancholisch-versöhnliche Schlußsequenz bringt die nötige Gelöstheit für den Schlaf. Die „Bilder“ also als Medikament zur Entspannung:

Der nächste Morgen
kommt
blütenrein.

Es ist das „blütenrein“, vielmehr eine literarische Reminiszenz, die mich endgültig hat stutzig werden lassen: die Erinnerung an Ingeborg Bachmanns Gedicht „Reklame“; „wohin tragen wir,“ heißt es dort, „unsre Fragen und den Schauer aller Jahre“, und die Reklame antwortet:

in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge.

Das „blütenrein“, wir kennen es auch als einen Slogan der Waschmittelwerbung. Und haben nicht die „eilfertigen Bilder“ von Filmgeschichten aus der „Traumfabrik“ ähnliche Wirkungen wie die Reklameversprechen: „säubern“ sie uns nicht vom existentiellen Ernst, bieten uns Glücksverheißungen als Drogen und beruhigen uns mit Surrogaten?
Das Schlußwort „blütenrein“, auf das Elisabeth Borchers’ Verse hinführen, ist zugleich der Wendepunkt, von dem aus das Gedicht anders, also noch einmal gelesen werden will. Und nun fällt das Verführungsmoment in der „Eilfertigkeit“ der Bilder auf, das Täuschungsmoment im Vergessenmachen des erlittenen Unrechts, das Schematische in dem Nach-Maß-Sein und in den Mythen des Films: alles Signale der Einschränkung, des Widerrufs.
Aber ist diese die endgültige Lesart? Von jeher hat Kunst auch eine Entlastungsfunktion, und sie ist nun einmal Schein oder Fiktion, nicht die Erfahrungswirklichkeit selbst. Sie vermag tatsächlich zu vermitteln, was mit der Metapher „blütenrein“ umschrieben ist. Sie muß kein Surrogat, sie kann auch – nun wird der Titel wichtig – eine „große Chance“ sein, aber eine Chance eben, die richtig wahrgenommen werden will.
Das Gedicht zieht uns ins Gespräch über unser Verhältnis zu den neuen Medien des 20. Jahrhunderts, denen wir nicht entgehen können und wollen. Es gibt keine „eilfertige“ Antwort, will nicht recht haben, keine Meinung oktroyieren. Es setzt Reflexion in Gang, löst im Leser produktive Zwiespältigkeit aus. Die Schönheit dieses Gedichts ist eine Schönheit mit Widerhaken.

Walter Hinckaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfter Band, Insel Verlag, 1980

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