Walter Hinck: Zu Kerstin Hensels Gedicht „Vita“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Kerstin Hensels Gedicht „Vita“ aus Kerstin Hensel: Angestaut. –

 

 

 

 

KERSTIN HENSEL

Vita

Wem dient ich? dient ich nicht
Dem eignen Schwein.
Wem sagt ich (halbwegs züngelnd) was
Allein zu sagen mir den Kopf bedrohlich knicken
Ließ? und alles bog man
Ab zum Nicken!
Nach Maulschelln heischt ich, da mich
Dieses rühmte, doch bläht sich mir das
Haupt vom Streicheln.
Das Speicheln hinter mir, vor mir das Schmeicheln.
Ich bin zerschlagen, vor ich schlage: was
Mich trifft.
Seh ich mich an und weiß: ich fresse Gift –
Es schluckt das Ekle mich, weil ich
Es bin. So häng ich
An dem alten
Simplen Sehnen: sein was
Nicht anficht – und erwach:
Zu viele Höfe waren für mich lohnend
Der ich, im Hinterhofe wohnend,
Doch nur das Saure, nicht die Sau rausließ.
Ist was vorbei? Bin ich
Der Mächtgen Konterfei
Des Machtlosen nun frei?

 

Selbstporträt in Giftfarbe

Dieses Gedicht handelt zwar auch vom Schmeicheln, aber es schmeichelt sich nicht ein. Wörter und Wendungen wie „eignes Schwein“ oder „die Sau rauslassen“ gehören der Vulgärsprache an; die unregelmäßigen Verse, mal reimend, mal nicht, und Satzfügungen, die das Fließende des Enjambements verschmähen und den Rhythmus beim Übergang vom einen zum anderen Vers zerhacken, legen sich der Gedichtlektüre sperrig in den Weg. Weder lyrische Einstimmung noch poetische Verklärung ist beabsichtigt, auch keine Selbstbespiegelung. Ziemlich in der Mitte des Gedichts gibt sich ein Beweggrund des Sprechens zu erkennen:

Es schluckt das Ekle mich, weil ich
Es bin.

Kerstin Hensel, 1961 in Sachsen geboren, lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. Drei Gedichtbände der Trägerin des Leonce-und-Lena-Preises von 1991 liegen vor: Stillleben mit Zukunft (1988), Gewitterfront (1991) und Angestaut (1993). Mit den beiden Erzählungen „Im Schlauch“ und „Tanz am Kanal“ teilt unser Gedicht das Thema: die Rückschau auf Lebensverhältnisse und Lebenshaltungen in der DDR. Anders aber als in den Erzählungen verzichtet die Autorin im Gedicht auf Ausmalung von Milieukolorit. Metaphern ziehen auf prägnante Weise Situation und Verhalten zusammen. So wird die konzentrierende Kraft des lyrischen Bildes genutzt.
Der Anfang intoniert sogleich das Leitmotiv: „Dienen“ hieß die Forderung. Doch fächert das Gedicht die beiden Bedeutungsvarianten des Wortes auseinander: Dienen als Untertansein bediente das eigene Vorteilsstreben, da der Unterwerfung Belohnung winkte. Dieses Grundmuster des Paradoxen, des steten inneren Widerspruchs beherrscht das ganze Gedicht. Ungesagt blieb, womit man den eigenen Kopf riskierte. Das Kopfnicken, das Jasagen wurde zur Ausdruckshaltung der ganzen Person. Der deswegen Gerühmte war sich selbst zuwider, aber die zugeteilte Huld ließ sein Selbstbewußtsein schwellen. Diese erbötige Haltung faßt sich zusammen im Wort „Speicheln“, das seinen eigentlichen Sinn preisgibt und die Bedeutung von „Speichellecken“ aufnimmt.
Und zum erstenmal kommt nun zur Sprache, was bevorsteht: Schmeicheln als andere Form der Erbötigkeit, Überleben als Geschlagenwerden und Schlagen. Das Selbstbild in der Mitte steht unter dem Widerspruch von Sucht und Selbstekel. So gewinnt noch einmal der alte Sehnsuchtstraum von einem konflikt- und anfechtungslosen Dasein seine Faszination zurück. Aber für die Erwachte wird das Selbstgericht unausweichlich. Trotz der Wohnung im Hinterhof wie ein Höfling belohnt, verletzte sie auch niemals ernstlich die Regeln des Höflings.
Die drei letzten Verse richten ihre Frage an die Zukunft. Das Verständnis dieser Schlußzeilen hängt davon ab, wie man die fehlenden Satzzeichen in Gedanken ergänzt.

Bin ich
Der Mächtigen Konterfei,
Des Machtlosen nun frei?

Oder:

Bin ich
Der Mächtigen, Konterfei
Des Machtlosen, nun frei?

Im ersten Falle hätte die Fragende teil an der Freiheit der Mächtigen, im anderen wäre sie machtlos, aber dennoch frei. Dieser doppelte Kunstgriff der Offenheit des Fragens und der zweifachen Deutbarkeit der Frage zeigt: die Fragende ist zwar aus der Unfreiheit entlassen, aber nicht aus der Skepsis.
Absichtsvoll aufgerauht wirkt die lyrische Form. An vertrackte barocke Sprachformen erinnert manchmal der Satzbau. Selbst der End- und Binnenreim der Worttrias „Streicheln“, „Speicheln“ und „Schmeicheln“ entwickelt keinen Klangreiz, sondern weckt die Assoziation des Widerwärtigen. Dieses lyrische Selbstporträt beschönigt nichts, überzeichnet eher, ist wie mit giftiger Farbe übertuscht. In keine Selbstberuhigung geht die bohrende Selbstanalyse über. So spricht Kerstin Hensel in diesem Gedicht exemplarisch für alle, die in ihrer Vita Vergangenes nicht unter den Teppich kehren, aber auch nicht auf dem fliegenden Teppich neuer Illusionen Platz nehmen wollen.

Walter Hinckaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zwanzigster Band, Insel Verlag, 1997

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