Walter Hinck: Zu Paul Celans Gedicht „Tübingen, Jänner“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „Tübingen, Jänner“ aus Paul Celan: Die Niemandsrose. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

Tübingen, Jänner

Zur Blindheit über-
redete Augen.
Ihre – „ein
Rätsel ist Rein-
entsprungenes“ –, ihre
Erinnerung an
schwimmende Hölderlintürme, möwen-
umschwirrt.

Besuche ertrunkener Schreiner bei
diesen
tauchenden Worten:

Käme,
käme ein Mensch,
käme ein Mensch zur Welt, heute, mit
dem Lichtbart der
Patriarchen: er dürfte,
spräch er von dieser
Zeit, er
dürfte
nur lallen und lallen,
immer-, immer-
zuzu.

(„Pallaksch, Pallaksch.“)

 

 

Das Gedicht am Rande seiner selbst

Dieses Gedicht, am Tag nach einem der Besuche Paul Celans in Tübingen im Januar 1961, ein Vierteljahr nach der Verleihung des Georg-Büchner-Preises entstanden, flicht wie kaum ein anderer Text des Lyrikers lebensgeschichtliche Bezüge, literarische Verweise und poetologische Winke ineinander. Es rührt an eine Licht- und zugleich Schattenseite unserer Dichtung, an die Erhabenheit und die unglückliche Existenz des Genies. Und es endet mit dem Eingeständnis von Ohnmacht und dem Einverständnis mit ihr.
An einen der klassischen Eingangssätze unserer Prosaliteratur erinnert der Titel. Der Satz lautet – in der Fassung, die Celan in der Büchnerpreis-Rede zitiert –: „Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg.“ Er eröffnet Büchners Novelle „Lenz“, das erzählerische Protokoll der beginnenden geistigen Zerrüttung des Sturm-und-Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz, den man schließlich im Mai 1792, am letzten Ort seines Elends, morgens tot auf der Straße fand.
Konkreter wird das Motiv der geistigen Umnachtung mit dem Turm, in dem der Schreiner Ernst Zimmer den kranken Hölderlin pflegte – der Plural registriert die Beobachtung des im Wasserspiegel des Neckars verdoppelten, ja vermehrfachten Turms. Das Gedicht schließt mit einem Sonderwort des Turmbewohners, das sowohl Bejahung wie Verneinung bedeuten, Sinn und Gegensinn vereinen und so zu einer Chiffre für den Zustand des kranken Hölderlin werden konnte. Das „Pallaksch. Pallaksch“ wird keineswegs dadurch relativiert, daß es in Klammern gesetzt ist. Celan hat diesen Schluß handschriftlich der Typoskriptfassung vom 29. Januar 1961 hinzugefügt. Dem heutigen Leser erscheint das „Wahnwort“ (Axel Gellhaus) auch wie ein geheimes Signalwort für die spätere Bewußtseinskrise des Dichters Celan, den man an einem Tag des Frühjahrs 1970 tot aus der Seine barg.
Der Gedichtanfang übernimmt mit dem Blindheitsmotiv ein altes Attribut der Sängergestalt, ein häufiges Motiv Hölderlins. Doch ist hier Blindheit nicht mehr verhängt, sondern durch Überredung herbeigeführt, also die alte Rolle erst nach Widerstand angenommen worden. Vers drei bis fünf schalten ein Zitat aus Hölderlins Rhein-Hymne ein. Vervollständigt man es, so wird eine andere Einschränkung deutlich. Bei Hölderlin heißt es:

Ein Rätsel ist Reinentsprungenes. Auch
Der Gesang kaum darf es enthüllen.

Die mitschwingende Bedeutung, ein Enthüllungsverbot, greift schon dem Redeverbot der dritten Strophe Celans vor.
Die drei Verse der zweiten Strophe knüpfen an die Hölderlin-Welt an und verschieben sie zugleich ins Surreale. In der folgenden Strophe korrespondiert der „Lichtbart der Patriarchen“ wieder mit den Versen der Rhein-Hymne Hölderlins, mit dem Bild vom „Lichtstrahl, der / Dem Neugebornen begegnet“. Doch wird diese Strophe zu einer Antwort Celans an die Tradition: In der Nachfolge der (blinden) Seher und Sänger haben heute weder erhabener Gesang noch Virtuosität und Rhetorik ihren Ort. Es ist die „nachzustotternde Welt, / bei der ich zu Gast / gewesen sein werde“, sagt in einem anderen Gedicht der Autor, dessen Angehörige als Juden Opfer der Vernichtungslager wurden. Celans Poetik eines Gedichts, das „sich am Rande seiner selbst“ behauptet (Büchnerpreis-Rede), hat in „Tübingen, Jänner“ die für mich schönste, vielschichtigste Gestalt gefunden.
Denn das Gedicht führt selbst auf das Versiegen des Sprachflusses zu. Celan hat hier noch einmal Büchner seine Achtung erwiesen. Er nimmt – in nochmaliger Verknappung des Sprachatems – die Worte auf, mit denen der tief verletzte, gehetzte Woyzeck zur Verzweiflungstat getrieben wird, das „immer-, immerzu“. So scheint durch die Form, mit der Celan seine Poetik des verstummenden Gedichts veranschaulicht, zugleich deren Voraussetzung durch: das Bild der geschundenen menschlichen Kreatur.

Walter Hinckaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zwanzigster Band, Insel Verlag, 1997

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