Walter Hinck: Zu Rose Ausländers Gedicht „Ein Märchen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rose Ausländers Gedicht „Ein Märchen“ aus Rose Ausländer: Schweigen auf deine Lippen. –

 

 

 

 

ROSE AUSLÄNDER

Ein Märchen

Im Pruth hüpften die
Spiegelbilder der Weiden

Ich badete und
sang Lieder

Es waren
verstohlene heitere Stunden
mit Freunden und
freundlichen Fremden

Daheim erwarteten mich
wichtige Bücher und
unbeschriebene Bogen Papier

Ich las ich schrieb
und träumte
es würde sich alles
zum Guten wenden

Ein Märchen
kurz vor der
Weltkatastrophe

 

Verbrüderte Kulturen

Czernowitz in der Bukowina, die Stadt am Pruth, in der Rose Ausländer (Scherzer) vor einhundert Jahren geboren wurde, war im zwanzigsten Jahrhundert ein Spielball der politischen Interessen und der Grenzverschiebungen. Bis 1918 eine österreichische, dann eine rumänische Stadt, im Zweiten Weltkrieg unter sowjetischer, deutscher und wieder sowjetischer Herrschaft, gehört sie heute zur Ukraine – eine Stadt auf dem Rangiergleis der Staaten und Regierungsformen. Verliererin des ständigen Machtwechsels war die deutschsprachige, von der starken jüdischen Bevölkerungsgruppe getragene Kultur.
Aufgewachsen ist die jüdische Kaufmannstochter in diesem Schmelztiegel der Völker, in dem Juden mit Ukrainern, Rumänen und Deutschen, auch Polen und Madjaren wie in einer politischen Urzelle des Völkerbundes oder der Vereinten Nationen zusammenlebten. So mag der Autorin diese Zeit im Rückblick wohl als ein Vorgriff auf den Ewigen Frieden, als ein „Märchen“ erscheinen.
Das Gedicht stammt aus dem Nachlaß der 1988 gestorbenen Dichterin, die bis zu ihrer Übersiedlung nach Düsseldorf ein wahres Nomadendasein zwischen Czernowitz Wien und Bukarest, zwischen Europa und Amerika und während des Zweiten Weltkriegs Todesängste im Czernowitzer Getto durchstanden hatte. Es folgt dem Muster der freirhythmischen Form mit wechselnder Vers- und Strophenlänge, das Paul Celan, der jüngere Freund aus Czernowitzer Tagen, ihr nahegebracht hatte.
„Landschaft, die mich / erfand“ hat Rose Ausländer im Gedicht „Bukowina II“ ihre Heimat genannt. Immer wieder versetzt sich die gealterte Dichterin in ihre Kindheit und Jugendzeit, in die von „Buchenwäldern“ umschlossene und „friedliche Hügelstadt“, dämpft sie ihr Heimweh mit der Droge lyrischer Erinnerungssprache. So auch im Gedicht „Ein Märchen II“. In fünf Strophen, fünf Schritten nimmt sie von der Vergangenheit wieder Besitz, bis die Schlußstrophe ein Halt setzt.
Mit dem Bild der Spiegelungen des Ufers im Wasser beginnt das Gedicht; das Verb „hüpfen“ deutet schon eine Leichtigkeit des Daseins an, wie sie Baden und Singen dann konkretisieren. Gewiß sang das Mädchen, die junge Frau deutsche Lieder, doch drangen ans Ohr immer auch die Lieder der anderen Sprachen. „Viersprachig verbrüderte / Lieder“ stehen im Bukowina-Gedicht für verbrüderte Kulturen. Heiteren Umgang mit Freunden und Fremden, eine Atmosphäre der Gastfreundschaft und der wechselseitigen Offenheit ruft die Erinnerung in der dritten Strophe zurück.
Zur Daseinsfreude und zur vorurteilslosen Geselligkeit treten, sie ergänzend und vollendend, die Vergnügungen des Geistes: die Erweiterung des Horizonts durch die in Büchern gespeicherten Erkenntnisse und Erfahrungen und der Antrieb zur eigenen Produktivität. Davon handeln die vierte und fünfte Strophe. Mit Goethe, Hölderlin und Rilke, mit Heine und Karl Kraus war man in Czernowitz vertraut, und aus ihren Dichtungen bezieht Rose Ausländer für ihre frühen Schreibversuche die Hoffnung auf den Fortschritt „zum Guten“.
Die „Weltkatastrophe“, die solchen Traum der Jüdin aus Czernowitz zerriß, beginnt mit ersten Beben sicherlich schon beim Kriegsausbruch von 1914 und beim Zusammenbruch der Donaumonarchie. Aber erst in den Getto-Jahren nach 1941 wird sie zu einer Erfahrung, die Albtraumbilder hervorbringt wie das vom „Bau / gigantischer Galgen // für mich / und / mein Volk“ („Erwachen I“). Rose Ausländer ist mit ihrer Lyrik zur Dichterin des Heimatverlustes und der ständigen Wanderschaft, zur Dichterin jüdischer Kulturbejahung und jüdischen Leidens geworden. Das Gedicht „Ein Märchen“ beschwört noch einmal die Zeit und den Ort, wo der Wunschtraum von einer Humanisierung der Welt gerechtfertigt schien.

Walter Hinckaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2002

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