Walter Hinck: Zu Yvan Golls Gedicht „Kölner Dom“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Yvan Golls Gedicht „Kölner Dom“ aus Yvan Goll: Dichtungen. –

 

 

 

 

YVAN GOLL

Kölner Dom

Rheinkohle statt Gold
Die Fische und die nackten Nymphen
Sterben im romantischen Wasser aus
Über die Brücke fahren nur Trauerzüge
In Särgen wird das letzte Gold geschmuggelt
Der Osten exportiert seine Frühsonne
Aurora ist kein Frauenname mehr
Doch paßt er gut für eine Aktiengesellschaft

Wir kamen von Frankreich
Über den Bahnhof hinaus fuhr unser Zug in den Kölner Dom
Die Lokomotive hielt vor dem Allerheiligsten
Und kniete sanft
Zehn Tote kamen direkt ins Paradies
Petrus „English spoken“ auf dem Ärmel, bekam ein gutes Trinkgeld

Die glasgemalten Engel telephonierten
Und flogen hinüber zur Cox-Bank
Rosa Dollarschecks einzulösen
Gegen Mittag wurde ein neuer Zug gen Warschau gebildet.

 

Die Botschaft des Geldes

Kein Bauwerk hat die deutschen Dichter so sehr angezogen und sie zugleich so sehr entzweit wie der Kölner Dom. Flammenden Aufrufen zur Vollendung des mittelalterlichen Torsos, um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, antwortete später der Jubel über das Gelingen. Schreckbilder vom Dom als klerikaler Zwingburg oder als modernem Turmbau zu Babel konnten nichts ausrichten. Die Kathedrale wurde zum Altar, vor dem die Dichter andächtig ihre religiösen und geistigen und stolzgeschwellt ihre nationalen Messen zelebrierten. Unter den Gedichten des zwanzigsten Jahrhunderts ist Yvan Golls „Kölner Dom“ von 1924 ein Vorreiter; das Gedicht hält schon die Erscheinung fest, die sich heute dem Besucher Kölns aufdrängt: die Inbesitznahme des Doms durch den Tourismus.
Das Motiv des durch den Bahnhof hindurchfahrenden Zuges erinnert an Ernst Stadlers Gedicht „Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht“ (1913), in dem erstaunlicherweise der Dom gar nicht auftaucht: Der Schnellzug fährt durch die Dunkelheit wie durch einen „Minengang“, erreicht die Brücke und fliegt „königlich… hoch übern Strom“, Millionen Lichtern entgegen, fliegt anscheinend ohne Halt vorbei an der „blinkenden Parade“ und taucht wieder hinein in die „langen Einsamkeiten“, aber nun auch in ein verschwommenes mythisches Dunkel, ein dionysisches – und expressionistisches – Gemenge von „Kommunion“, „Zeugungsfest“ und „Untergang“.
Dagegen sind Golls Verse von einer Nüchternheit, die sich sogar die poetischen Formen des regelmäßigen Verses und des Reims verbittet. Die erste Strophe verabschiedet alle Romantik, die sich um den Rheinstrom gewoben hat. Die Faszination der Sagen vom Rheingold, dem Nibelungenhort, und von der Loreley ist verflogen. Beginnt mit dem „Sterben“ der Fische etwa auch schon die Verseuchung des Rheins? Das Gold des Industriezeitalters ist die Kohle. Mythische Namen wie Aurora, der Name für die Göttin der Morgenröte, sind zum Aushänge- und Werbeschild für Wirtschaftsunternehmen geworden.
Der Beginn der zweiten Strophe knüpft an den Eindruck an, den die unmittelbare Nachbarschaft von Hauptbahnhof und Dom dem Ankommenden vortäuscht: daß der Zug in den Dom hineinfahrt. So entlädt im Gedicht die Bahn die Besuchermassen geradewegs in die Kathedrale. Doch die fromme Szene – der Vorbeter, die Lokomotive, kniet – kippt plötzlich ins Makabre um: Die Dienstfertigkeit der Eisenbahn enthüllt sich als Unfall. Allerdings wird auch diesem Unglück seine tröstliche Seite abgewonnen. Der sakrale Ort ist Pforte zum Paradies, der Domwächter oder -führer avanciert zum Einlaß gewährenden heiligen Petrus, dem man ein Trinkgeld schuldet.
Der Zynismus der Verse ist der Zynismus der Satire, er verlästert nicht die Religion, sondern macht gerade die Entleerung des Religiösen durch das bloße Schaubedürfnis und dessen Vermarktung kenntlich. Das verdeutlicht die letzte Strophe. Die Engel der Glasmalerei werden zu Bankboten, statt der religiösen bringen sie die Botschaft des Geldes. Sachlich kehrt der letzte Vers zur Tagesordnung zurück. Nach dem Eisenbahnunglück wird ein Ersatzzug bereitgestellt.
Der jüdisch-französisch-deutsche Dichter Yvan Goll, der im Jahr 1924 auch seinen Gedichtband Der Eiffelturm abschloß, hat die grotesken Wucherungen der Tourismusindustrie klarer vorausgesehen als seine Weggefährten der Avantgarde. Jedesmal, wenn ich vom Kölner Hauptbahnhof her zur Domplatte hinaufsteige, melden sich in meinem Kopf seine Verse von der Einfahrt des Zugs in die Kathedrale.

Walter Hinckaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiundzwanzigster Band, Insel Verlag, 1999

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