Walter Hinderer: Zu Günter Kunerts Gedicht „Unterwegs nach Utopia I“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Günter Kunerts Gedicht „Unterwegs nach Utopia I“ aus Günter Kunert: Unterwegs nach Utopia. –

 

 

 

 

GÜNTER KUNERT

Unterwegs nach Utopia I

Vögel: fliegende Tiere
ikarische Züge
mit zerfetztem Gefieder
gebrochenen Schwingen
überhaupt augenlos
ein blutiges und panisches
Geflatter
nach Maßgabe der Ornithologen
unterwegs nach Utopia
wo keiner lebend hingelangt
wo nur Sehnsucht
überwintert

Das Gedicht bloß gewahrt
was hinter den Horizonten verschwindet
etwas wie wahres Lieben und Sterben
die zwei Flügel des Lebens
bewegt von letzter Angst
in einer vollkommenen
Endgültigkeit.

 

Die zwei Flügel des Gedichts

Zweifelsohne ist im Moment Utopie als Wille und Vorstellung nicht mehr gefragt. Der Fortschrittsglaube der Aufklärung wurde inzwischen allerorts von den verhängnisvollen Folgen seiner industriellen Praxis widerlegt. Doch als Günter Kunert 1977 dieses Gedicht mit thematisch ähnlichen Texten in dem Band Unterwegs nach Utopia veröffentlichte, lebte er noch in der DDR, in der jede Art von Utopiekritik mit Fluch und Bann belegt wurde. Nicht von ungefähr kritisierte er in einem seiner „Verspäteten Monologe“ (1981) den Marxismus als „verweltlichten Glauben“, der die fehlende Transzendenz durch die „Utopie als Endziel und Aufgabe“, ein „säkularisiertes Himmelreich“ ersetzt hatte.
In diesem Gedicht wird nahezu epigrammatisch demontiert, was der Titel zu suggerieren scheint: eine Reise nach Utopia. Schon in den ersten Zeilen zeigt sich, daß das Unternehmen von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist. Die angeblich handelnden Subjekte, die Vögel, auf die sich alle Aussagen der ersten Strophe beziehen, sind in Wirklichkeit leidende Objekte, irregeleitete Opfer einer unbekannten Macht. In die „ikarischen Züge“ der „fliegenden Tiere“ ist bereits unübersehbar und unüberhörbar der ökologische Tod eingeschrieben.
Angesichts der drohenden Weltkatastrophe beschwört Günter Kunert seit den sechziger Jahren immer wieder das griechische Mythologem von Ikarus, der trotz der Warnungen seines Vaters Dädalus mit seinen verletzlichen Flugwerkzeugen der Sonne zu nahe kam und abstürzte. Auch in seinen poetischsten Versen verleugnet der „Grashüpfer“, wie Kunert einst von dem ehemaligen Kultusminister der DDR, Johannes R. Becher, durchaus wohlwollend genannt wurde, nie seine persönliche Betroffenheit und sein kritisches Bewußtsein. Im Gegenteil: mit seinen geschliffenen apokalyptischen Ketzereien wurde er bald zu einer ständigen Herausforderung für die Partei. Noch im Jahre 1979 hielt es Wilhelm Girnus für nötig, den Abtrünnigen mit folgendem utopischen Glaubensartikel in die Schranken zu weisen:

Ständige Steigerung des menschlichen Lebensprozesses, das ist das Grundgesetz der Gattung Mensch.

Gegen solche Auffassungen schreibt Kunert in seinem Warngedicht ebenso gezielt wie pointiert an, und es gelingt ihm dabei das Kunststück, Anschauung und Denken, Bild und Reflexion nahtlos zu verschmelzen. Für mich gehört es zu den wichtigsten poetischen Texten der siebziger Jahre. Evoziert die erste Strophe bis in alle Einzelheiten die ökologische Gefährdung, so enthält die zweite ein differenziertes poetologisches Bekenntnis. Die Höhenflüge der „augenlosen“ Tiere mit ihrem „zerfetzten Gefieder“ und ihren „gebrochenen Schwingen“ erweisen sich als Illusion. „Nichts von Freiheit, von göttergleichem Aufschwung“, so kommentiert Kunert den Sachverhalt in einem anderen Zusammenhang, „nie war mir vordem Ikarus so fern wie während des Fluges, Kassandra so nahe“. Nach der Auskunft des Gedichts gelangt niemand „lebend“ nach Utopia, nur die Sehnsucht „überwintert dort“.
Das Stichwort „Sehnsucht“ leitet den Wechsel des Themas ein. Der Horizont erweitert sich und eröffnet eine neue, überraschende Dimension: der Schrecken der falschen Utopie scheint nun in der richtigen Utopie, der poetischen Anschauung, aufgehoben. Denn nur das Gedicht, so heißt es hier, „gewahrt“ das Wesen des Lebens, die Essenz der Existenz. Ihre „zwei Flügel“, durch die Zeile „etwas wie wahres Lieben und Sterben“ bedeutungsmäßig in der Schwebe gehalten, sind deutlich antithetisch den „gebrochenen Schwingen“ der zum Untergang bestimmten ikarischen Vögel gegenübergestellt. Doch selbst die poetische Anschauung, der seherische (kassandrische) Blick ins Absolute, wird noch bestimmt von der „letzten Angst“. Nichtsdestoweniger legt das Gedicht, auch wenn es von der Angst vor dem Tod „bewegt“ wird, Zeugnis ab von einem tieferen Lebenssinn. „Im Ich des Gedichts erscheint“, wie Kunert in seinen Notizen zur Literatur (1976) erläutert, „das unverkrüppelte, vollkommene, wenn auch ewig unvollkommene Individuum – ein Windhauch aus Utopia“.

Walter Hindereraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebzehnter Band, Insel Verlag, 1994

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