Walter Höllerer: Gedichte

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Walter Höllerer: Gedichte

Höllerer-Gedichte

aaaaaaaaaafür Sanguineti

aaaaaadurch Dantes Hölle gefilterte Chinesen
aaaaaaaaaadie herabfallen   Staub oder Sporen
aaaaaadas keimt im Schimmel   in der
Höhle   im Champignon   im Bauch
aaaaweiß            augenlos           atomar
aaaaaaaaaaanalphabetisch ein
aaaaaaaaaaaaaAbendmahl
aaaaaaaaaaain weißen Kitteln

 

 

 

 

Mich freuen solche Bitterkeiten und Härten“

Die Beziehung zu Paul Celan. –

Paul Celans Gedicht „Assisi“ erscheint im zweiten Akzente-Heft 1954, im April. Noch bevor Celan dies erfährt, überkreuzen sich zwei Briefe: Höllerer sagt Celan am 8. März den schnellen Abdruck zu und bietet an, sich bei Celans baldigem Deutschland-Aufenthalt auch in Frankfurt um Lesungen zu kümmern. Celan schreibt währenddessen am 9. März: 

Eigentlich wollte ich Ihnen noch vor Wochen, nein Monaten schreiben und danken, danken und schreiben, aber dann ließen die Worte mich im Stich, wie so oft schon. An Gedanken hat es aber wirklich nicht gefehlt, glauben Sie’s mir! Nun soll ich nach Deutschland fahren, in etwa zwei Wochen, nach Stuttgart und München, ich komme bestimmt aber auch nach Frankfurt – und darf Sie doch besuchen?

Als Nachsatz, nach der Unterschrift, folgt unten auf der Seite: 

Hat Ihnen mein Gedicht überhaupt gefallen? Ich bin jetzt, da ich es wiederlese, nicht eben begeistert – besonders nicht von den letzten Zeilen…

Die letzten Zeilen von „Assisi“ lauten: 

Glanz, der nicht trösten will, Glanz.
Die Toten – sie betteln noch, Franz.

Franz von Assisi, der christliche Heilige, und die Toten – die bei Celan immer auch die Toten des Völkermords an den Juden durch die Nationalsozialisten sind: Celan hat dieses Gedicht trotz aller Bedenken, die wohl auch den Paarreim betrafen, unverändert in seinen Gedichtband Von Schwelle zu Schwelle 1955 aufgenommen.
Es kommt im Folgenden zu einer Begegnung in Frankfurt, und schöne Zeugnisse für die Atmosphäre dieser Begegnung sind eine Karte, die Celan dann im Juni aus Paris schickte, und die Antwort Höllerers. Auf Celans Karte sind antike griechische Figuren aus dem Louvre abgebildet, und sie ist zusammen mit einem japanischen Professor geschrieben worden: 

Lieber Dr. Höllerer, haben Sie herzlichen Dank für die Begegnung mit Dr. Tezuka! Eigentlich schäme ich mich, nicht Japanisch zu können – hoffentlich sprechen Gedichte immer auch ein wenig Japanisch! Ihr Paul Celan.

Darunter steht: 

Sehr geehrter Herr Doktor! Ich habe mit Herrn Celan im Quartier Latin eine Stunde sprechen können – zum ersten Mal im Deutschen in Paris – eine interessante Situation. Mit herzlichen Grüßen. Ihr T. Tezuka.

Die Antwort Höllerers vom 2. Juli 1954 schlägt einen weiten Bogen; sie führt in nuce den überschwänglichen, grenzüberschreitenden Höllerer dieser Tage vor Augen und zeigt seine zukunftsweisenden Vorstellungen von Dichtung und Kommunikation: 

Lieber Herr Celan,
ich habe mit großer Freude Ihre Karte gelesen, die Sie mir zusammen mit Herrn Tezuka geschrieben haben. Diese Kombination von Griechenland – Paris – Japan hat etwas Faszinierendes. Ich glaube, daß sich darin die Dichtung ankündigt, wie sie einmal sein wird. – Wie geht es Ihnen? Ich denke gerne an die Tage zurück, die Sie bei uns in Frankfurt verbracht haben.
Mit herzlichen Grüßen Ihr
Walter Höllerer 

Höllerer schreibt nichts von der deutschen Sprache, er schreibt „Paris“. Das ist, zumal für einen Vertreter aus dem Kreis der Gruppe 47, eine für Celan ungewohnte Sensibilität – für den deutschsprachigen Juden aus der Bukowina, der im deutschsprachigen Raum nicht mehr leben konnte. Es gibt in den nächsten Jahren persönliche Begegnungen, vor allem in Paris, und gemeinsame Projekte für die Akzente. Am 21. Oktober 1957 zum Beispiel treffen sich die beiden im Deux Magots in St. Germain des Prés; Celan weiß von Höllerers Aufenthalt und schickt ihm eine Notiz ins Hotel: „Rufen Sie mich bitte an: TRO 36-49, am besten zwischen 12 und 2 Uhr“. Am nächsten Tag schreibt Celan, der gerade von einer für ihn bedeutsamen Tagung über Literaturkritik in Wuppertal zurückgekehrt ist (er hat dort Ingeborg Bachmann wiedergetroffen): 

Lieber Dr. Walter Höllerer,
herzlichen Dank – ich komme gerne am Montag ins
Deux Magots.
Nein, Lenzens habe ich nicht gesehen, ich war ja gar nicht in Stuttgart, sondern in Wuppertal, wo’s „getagt“ hat. Es waren recht viele nette Menschen da: Böll, Walter Jens, Enzensberger, Ingeborg Bachmann. Auch Hans Mayer (Leipzig) und Peter Huchel.
Huchel ist ein reizender Mensch, ich glaube, wir alle müssen etwas für ihn tun, etwas Brüderliches – ich freue mich, mit Ihnen auch darüber sprechen zu können.
Herzlichst
Ihr
Paul Celan
Also Montag, „fünfzehn“ Uhr,
Deux Magots.

Nochmals am 22. Oktober schreibt Celan: 

Lieber Dr. Walter Höllerer, herzlichen Dank für Ihren Brief – ich komme nun mit dem meinen zu spät, „um eine Brieflänge“ – was immerhin, bei meiner Ihnen leider so gut bekannten Säumigkeit, einen kleinen Fortschritt bedeutet. Es war schön gestern Nachmittag, es war ja ein Gespräch, ich bin Ihnen dankbar. (…)

Die beiden haben, wie aus dem Weiteren hervorgeht, bei ihrem Treffen offensichtlich auch über neue Aktivitäten gesprochen. Celan schickt Höllerer seine Übersetzung eines Gedichts von Gérard de Nerval und hat Höllerer gebeten, seinerseits Gedichte für die Zeitschrift Botteghe Oscure in Rom zu schicken, die von der Prinzessin Caetani herausgegeben wird und für die Celan wie Ingeborg Bachmann deutschsprachige Texte besorgen.
Am 31. Dezember desselben Jahres, 1957, schreibt Celan: 

Lieber Walter Höllerer,
heute Vormittag kamen Ihre Gedichte: herzlichsten Dank.
Wie soll ich’s sagen? So vielleicht: mich freuen solche Bitterkeiten und Härten. Oder so: Das Wort-um-Wort, mit gepreßter Stimme artikuliert, so daß es manchmal in den Silben und Gelenken knirscht und sich lockert, weil – auch hier! – das Wirkliche hindurchwill, hindurchsoll, hindurchmuß.
Alles Gute!
Ihr
Paul Celan
* Ist das nicht merkwürdig: Mit der Ich-Verlagerung gewinnt auch das „Psychologische“ an Bedeutsamkeit.
 

In einem Brief vom 15.7.1958 notiert Celan angesichts der Pariser Aufmärsche im Zuge der Algerien-Krise: 

Gestern gabs Stiefel und Märsche – we should speak English for a while. 

Und am 20.7.1959 meldet er sich aus einem „Zigeuner-Sommer“ in Sils-Maria – es war der Aufenthalt, während dessen er mit Adorno zusammentreffen sollte; aus dieser versäumten Begegnung entstand der Prosatext „Gespräch im Gebirg“. Der Brief endet mit dem Satz:

Alles Gute für die nächsten Augenblicke und Jahrhunderte!

Es ist aufschlussreich, dass der Kontakt zwischen Höllerer und Celan anlässlich der „Goll-Affäre“ nicht abreißt – Celan sieht sich, vor allem in den Jahren 1958 bis 1961, Plagiats-Verleumdungen der Witwe Yvan Golls ausgesetzt und fühlt sich dabei von fast allen allein gelassen – auch von denjenigen, die versuchen, ihn zu unterstützen. Er bricht in dieser Zeit fast alle freundschaftlichen Kontakte ab. In der Folge wird bei Celan eine psychische Erkrankung erkennbar, es kommt zu langen Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken. In Celans Nachlass gibt es einige Notizen, in denen Höllerers Anthologie Transit als Beispiel für die Kampagne gegen ihn auftaucht – Höllerer hatte, nichts ahnend, dem Transit-Konzept gemäß, manchmal auch Gedichte Celans und Yvan Golls hintereinander abgedruckt.
Ebenfalls im Nachlass findet sich ein Brief an Höllerer vom 9. Februar 1961, der allerdings nicht abgeschickt wurde: 

Lieber Walter Höllerer,
wir kennen uns seit mehreren Jahren. Es hat zwischen uns dies und das gegeben – dies, aber auch das. In Darmstadt, es war, aus Gläsern, etwas Wein in uns geflossen, hatten Sie – Sie selbst –, ein Wort, ein wirkliches, die Literatur lag unterm Tisch (wo sie ja zuweilen hingehört, wie Sie und ich), ein Wort, das ich jetzt nicht genau zu zitieren wüsste – wahrscheinlich wars gerade deshalb eins –, Sie sagten da etwas von sich, es stimmte (d.h. von Ihrer Stimme hatte es seinen Sinn), ich habe es, Sie werden sich daran erinnern, so ernst genommen, wie es war, ich habe dann, später, auch einiges zu Ihnen gehen lassen, Geschriebenes – Sie wissen, was mitschreibt, wenn geschrieben wird, con moto, bewegterweise.
Ich sage mir jetzt, dass es nicht ganz sinnlos ist, diese Zeilen an Sie zu richten. Nebenher; In Sulzbach ist, auf Veranlassung Ihres Herzogs, anno 1669 die Sohar-Ausgabe des Mose Bloch erschienen. Ich sage mir also, dass es einen Sinn hat, dem Walter Höllerer zu schreiben. Ihm zu schreiben und ihn – unterm Tisch – darauf aufmerksam zu machen, dass es ihm nur zur Ehre gereichen kann, wenn er dazu beiträgt, Fälschung und Verleumdung zu entlarven. Denn das gegen mich Angezettelte ist eine ernste Sache. Ich stehe hier nur stellvertretend für etwas. Guess for what.
Es gibt nur eine Wahrheit. Und – es gibt sie.
Mach Dir Gedanken, Walter Höllerer, – Du kannst das. Die Elephanten sehen sowas ganz gerne
. (DLA Marbach) 

Höllerer bemüht sich immer wieder, Celan zu einer Lesung nach Berlin einzuladen. Und es ist bemerkenswert, dass Celan sich grundsätzlich bereit zeigt, solch eine Einladung anzunehmen. Celan sollte sogar, auf dem Höhepunkt der Goll-Affäre, die später legendär gewordene Lesereihe Literatur im technischen Zeitalter in der Kongresshalle eröffnen – das war von Höllerer offenbar ganz bewusst als Solidaritätsaktion gedacht: 

Berlin-Charlottenburg, den 9.10.1961
Lieber Paul Celan,
ich habe mich sehr gefreut, Sie heute am Telefon zu hören. Ich möchte meine Einladung für eine Lesung in Berlin schriftlich wiederholen. Es wäre sehr schön, wenn Sie am Montag, dem 13. November, um 18 Uhr in der Kongresshalle lesen könnten. Dieser Abend stellt den Beginn einer Internationalen Lesereihe dar, zu der im Laufe des Winters u.a. Dos Passos, Henry Miller, Butor, Robbe-Grillet, Goyen, Gombrowicz, Sarraute, Ionesco, Adamov nach Berlin kommen werden. Die Lesereihe wird vom Ausseninstitut der Technischen Universität veranstaltet. Für die Lesung am 13. November kann ich Ihnen ein Honorar von DM 1.200 (weil diese Sendung als live-Aufnahme im Fernsehen übertragen wird) bieten; ferner die Kosten des Fluges von Paris und zurück und die Hotel-Übernachtungskosten für drei Tage.

(…)
Wir alle würden uns sehr freuen, wenn Sie die Reihe eröffnen könnten.
Besonders die Studenten und die Berliner Schriftsteller werden Sie herzlich begrüssen.
(…) (DLA Marbach) 

Am 31.10.1961 schreibt Celan dann: 

Lieber Walter Höllerer,
nochmals herzlichsten Dank für Ihren Brief und Ihre Einladung nach Berlin. Gern wäre ich gekommen, zumal in diesen – Berliner! – Tagen, aber Schul- und andere Sorgen halten mich zurück, ich muß mich mit der Hoffnung begnügen, daß es in nicht allzu ferner Zeit, im Frühjahr vielleicht, wieder eine (ähnliche) Gelegenheit gibt.
Herzlich beglückwünsche ich Sie zu Ihrer Zeitschrift: Sie haben, wie vor Jahren mit den
Akzenten, einen Schritt getan, auf den es ankommt – ich sage das aus (nicht ganz mühelos gewonnener) Überzeugung.
Grüßen Sie Günter Graß, grüßen Sie Berlin und die Berliner Schriftsteller
Herzlich
Ihr
Paul Celan
(DLA Marbach) 

In den nächsten Jahren muss sich Celan mitunter für längere Zeit in psychiatrischen Kliniken behandeln lassen. Höllerer lädt ihn immer wieder nach Berlin ein – und hat schließlich Erfolg. Die Lesung Celans in der Akademie der Künste am 18. Dezember 1967 ist ein literaturgeschichtlich bedeutsames Ereignis, nicht nur, weil Peter Szondi den Berlin-Aufenthalt Celans zum Anlass für einige wichtige Anmerkungen zu Celan-Gedichten genommen hat, die dort entstanden sind. Die Berliner Tage Celans sind fast schon mythisch geworden. Umso verwickelter war die Vorgeschichte.
Am 27. September 1966 bedauert Celan, Höllerer und seine Frau in Paris „verpaßt zu haben“, und fährt fort: 

Endlich einmal muß ich ja nach Berlin kommen – ich täte es gerne, und das Flugzeug ist durchaus kein Hindernis. Aber wann? An Ostern wohl im Frühjahr, kurz vor oder kurz nach Ostern.

Am 27. Oktober desselben Jahres wird es konkreter, und der Brief ist auch wegen Celans Vorstellungen von den Rahmenbedingungen einer Lesung erhellend: 

Lieber Walter Höllerer,
gut, im Mai also. Aber das genaue Datum müssen wir offen lassen, da ich erst in den nächsten Wochen genauer sehen werde, wie es mit den diversen Schulterminen steht. Wenn es aber für Sie wegen der Programmierung eilt, so schlagen Sie mir, bitte, in Ihrem nächsten Brief einen Termin vor; bis zu einem gewissen Grade kann ich mich nach Ihnen richten.
Eines nur, selbst hier; auf eine Beteiligung des Fernsehens, dem ich mich nicht recht gewachsen fühle, bitte ich zu verzichten. Und noch eines: ich lese gern ohne Mikrophon. Deshalb möchte ich Sie fragen, ob wir nicht zwei an verschiedenen Tagen anzusetzende Lesungen machen sollen, in einem kleineren Saal als der Kongreßhalle. Aber dies ist nur eine Frage bzw. eine Anregung.

(…) 

Höllerer beginnt zu organisieren: 

wir können Ihnen Hin- & Rückflug Paris-Berlin, die Übernachtungskosten in einem Hotel der Innenstadt (z.B. Hotel Steinplatz, das bequem liegt) sowie DM 500.- für einen Leseabend im Saal der Akademie bezahlen. Auf Ihren Wunsch habe ich das Fernsehen nicht daran beteiligt. – Wir sind etwas abhängig von den Abenden, an denen uns der Saal zur Verfügung steht. Das wären: 13. Mai oder 14. oder 15. Mai, aber das ist ausgerechnet Pfingsten, & damit ungünstig (Studenten sind in den Ferien). Dann ist da noch 18. Mai. Das wäre schon besser. Oder dann 5. Juni, das hat den Vorteil, daß es nicht so nahe an Pfingsten liegt. Im Juni wären ferner noch die Abende 12., 13., 14., 15., 16. frei, sowie 21. Juni. Das erfuhr ich soeben durch Anruf bei der Akademie, & ich beeile mich, Ihnen diese Daten zu schreiben, damit nicht noch mehr Daten besetzt werden. Auf alle Fälle sollten Sie mindestens eine Woche, besser noch länger hier bleiben. Die 2. Mai-Hälfte & der Juni sind klimatisch die besten Monate für Berlin. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie zusagen könnten! Falls Ihre Frau mitfahren kann, ist sie freundlichst mit eingeladen. Viele Grüße an sie!
Alles Gute, & herzliche Grüße,
Ihr
Walter Höllerer
(DLA Marbach) 

Auf dem Durchschlag für seine Korrespondenzmappe hat Höllerer oben groß auf dem Blatt notiert: „Celan 14.5.67“. Doch es kam anders. Celan schreibt am 11. Mai 1967: 

Lieber Walter Höllerer,
was hier als Nachricht kommt, als Antwort auf Ihren Brief vom 17. März, ist ja nun leider nichts Überraschendes: ich kann nicht kommen.
Sie wissen, vielleicht, daß es mir gesundheitlich nicht allzu gut ging und daß ich meine Lehrtätigkeit an der
École unterbrechen mußte. Nun, ich nehme sie demnächst wieder auf, aber eine Reise nach Berlin, und wär’s nur eine Stippvisite, läßt sich nicht gut schon gleich jetzt, kurz nach der langen Unterbrechung, arrangieren.
Ich hatte gehofft, Ihnen für den 21. Juni eine Zusage geben zu können, aber leider läßt sich auch das nicht einrichten.
Bleibt der Herbst. Wäre Oktober ein günstiger Zeitpunkt? Sie wissen: ich komme gerne nach Berlin, nicht nur um zu lesen, sondern auch um zu sehen und zu hören.

(…) 

Celan ist in ärztlicher Behandlung, und er nimmt seine Lehrverpflichtung an der École Normale Supérieure sehr ernst. Doch gleichzeitig kämpft er gegen die Umstände an; eine Reise nach Berlin wäre für ihn sehr wichtig. Im September 1967 kommt es zu einer Begegnung zwischen Celan und dem Ehepaar Höllerer im Tessin: Celan hält sich bei Freunden in der Nachbarschaft auf und besucht an einem Abend auch Renate und Walter Höllerer in ihrem Haus. Er widmet ihnen seinen soeben erschienenen Gedichtband Atemwende mit den Worten: „In der Freude des Wiedersehens“.
Der nächste Brief Celans, der sich in Höllerers Korrespondenz befindet, trägt das Datum vom 1. Dezember 1967: 

Lieber Walter Höllerer,
der achtzehnte rückt näher, und – diesmal komme ich bestimmt.
Ich werde am sechzehnten eine Maschine der
Air-France besteigen und, so hoffe ich, bald darauf in Berlin sein.
Sie waren so liebenswürdig, mich zu einem mehrtägigen Aufenthalt in Berlin einzuladen, und ich gestehe, daß ich nur allzu gern über Weihnachten, vielleicht sogar über Neujahr hinaus bliebe. Bitte sagen Sie mir, ob ich Ihre Einladung richtig verstanden habe.
Seien Sie und Ihre Frau sehr herzlich gegrüßt
von Ihrem
Paul Celan 

Und am 8. Dezember folgt: 

Lieber Walter Höllerer, vielen Dank für Ihren guten Brief. Ich steige hier am Samstag, dem 16. um 12 Uhr 35 in eine Maschine der Air France und bin um 15 Uhr 25 in Tegel. (…)

Peter Szondis Interpretation des Gedichts „DU LIEGST im großen Gelausche“, das während des Berliner Aufenthalts in der Nacht vom 21. auf den 22. Dezember entstand, ist deswegen von großer Bedeutung, weil Szondi Celans Chiffren, die in der Germanistik als jenseits von Zeit und Raum begriffen wurden, auf konkrete Daten, Tatsachen zurückführt. In seinen „Celan-Studien“ beschreibt er die Umstände von Celans Aufenthalt: 

Celan traf am 16. Dezember 1967 in Berlin ein. Es war, sieht man von seiner Durchreise auf dem Weg nach Frankreich im Jahr 1938 ab, sein erster und einziger Aufenthalt in der Stadt. Unmittelbarer Anlaß war eine von Walter Höllerer initiierte Lesung im Studio der Akademie der Künste. Am Tag danach las Celan vor einem kleinen Kreis von Studenten und Hochschullehrern im Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin Gedichte aus dem kurz zuvor erschienenen Band Atemwende. Außer einer von Ernst Schnabel geleiteten Fernsehaufnahme (am 27. [28.] 12.) gab es für die Tage seines Berlinaufenthalts keine anderen Verpflichtungen. (Peter Szondi: Celan-Studien) 

Die Atmosphäre der Lesung in der Akademie der Künste beschreibt Joachim Günther im Berliner Tagesspiegel am 20. Dezember 1967 so: 

Schon einfach als Ereignis hat das, was die Akademie der Künste zusammen mit dem Literarischen Colloquium letzten Montagabend in ihrem großen Vortragssaal veranstaltete: eine Gedichtlesung Paul Celans – Seltenheits-, ja nahezu Einmaligkeitswert gehabt. Celan ist heute wohl heimlicher König des deutschsprachigen Gedichts, die reinste, sublimste und geheimnisvollste Gestalt auf diesem zerklüfteten Gelände. (…)
Dabei ein Auditorium wie nur zu den besten und aufregendsten Veranstaltungen des literarischen oder kulturellen Lebens der Stadt; ihr Individualitätenschatz für eineinhalb Stunden zusammengetrommelt, von den Kreuzberger Pulloverliteraten bis zu Professoren, Publizisten und der geistigen Damenaristokratie. Die größere Seite des Akademiesaales ziemlich bis auf den letzten Platz gefüllt, obwohl doch nur eine Einmann-Darbietung geboten und dazu kaum Sensationen, zumal nicht solche politischer oder gesellschaftskritischer Natur, zu erwarten standen.
(…)
Walter Höllerer, der auch dieses Mal den Einleiter zu machen hatte, löste seine Aufgabe am geschicktesten damit, daß er selber so gut wie gar nichts zur Vorstellung oder Interpretation des Dichters beitrug, sich vielmehr auf eine kleine Collage von Celanzitaten aus dessen Rede bei Verleihung des Büchner-Preises beschränkte. Der Autor (als Zuhörer neben seinem Lesepult stehend) dabei, fast ein wenig in Delinquentenhaltung. Auch als er sich schließlich zu seinem eigenen Vortrag setzte, bekam die übrige Zuhörerschaft buchstäblich kein einziges kommentierendes oder gar dekorierendes Füllwort von ihm zu hören, sondern allein eine Kollektion von etwa fünfundzwanzig Gedichten je einmal vorgesprochen aus seinen sechs seit 1948 erschienenen Gedichtbänden. (…) 

Helmut Böttiger, aus Helmut Böttiger: Walter Höllerer und die Erfindung des Literaturbetriebs. Literaturhaus Berlin, 2005

 

FEDERLESEN
Nach Walter Höllerer

Amsel, Drossel, Papagei,
alle Vögel, alle,
sind in Deutschland vogelfrei,
gehen in die Falle.

Bluten teils im Stacheldraht,
teils in Adlers Kralle.
Spielen ihren letzten Part,
alle Vögel, alle.

Piepen gegen Pershing Two,
speien Gift und Galle.
Kneifen dann das Arschloch zu,
alle Dichter, alle.

Kurt Bartsch

 

 

Zum 65. Geburtstag des Autors:

Peter Rühmkorf: Dem ,Langen Gedicht‘ ein langes Leben!

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Alexander Cammann: Aus Feuerschlünden
Die Zeit, 29.12.2021

Gregor Dotzauer: Zeremonienmeister der Literatur
Der Tagesspiegel, 16.12.2022

Michael Krüger: Weltgeist von Sulzbach-Rosenberg
Süddeutsche Zeitung, 19.12.2022

Simon Strauss: Der Hüter der Schatulle
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.12.2022

Michael Braun: Zirkusdirektor der modernen Poesie
Badische Zeitung, 19.12.2022

Dieter M. Gräf: Elefantisch
der Freitag, 18.1.2023

 

 

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Nachrufe auf Walter Höllerer : TAZ ✝  Die Zeit ✝ LCB

Günter Grass: Walter Höllerer nachgerufen
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 166, Juli 2003

Norbert Miller: Der Vogel Rock
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 166, Juli 2003

Peter Rühmkorf: Der Forderer
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 166, Juli 2003

Bernhard Setzwein: Mitten am Rand
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 166, Juli 2003

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Hölleritze“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Höllerer, die“.

 

Technik und Poetik – Symposium in Erinnerung an Walter Höllerer.

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