Walter Höllerer (Hrsg.): Theorie der modernen Lyrik

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Walter Höllerer (Hrsg.): Theorie der modernen Lyrik

Höllerer (Hrsg.)-Theorie der modernen Lyrik

EIN DICHTER

rechtfertigt – anerkennt – die Natur nicht zur Gänze. Die wahre Poesie steht außerhalb der Gesetze. Aber die Poesie anerkennt zuletzt die Poesie.

Im Anerkennen der Poesie, das sie in ihr Gegenteil verwandelt (sie vermittelt eine Zustimmung), halte ich einen Sprung zurück, in dem ich über das All hinausginge, rechtfertige ich die gegebene Welt, bin ich mit ihr zufrieden.

Mich einfügen in das, was mich umgibt, mich erklären oder in meiner unergründlichen Nacht nur eine Fabel für Kinder erblicken (mir von mir selbst ein physisches oder mythologisches Bild machen)! nein!… Lieber auf das Spiel verzichten…

Ich weise ab, empöre mich, aber warum mich verwirren. Wenn ich irre redete, wäre ich einfach natürlich.
Das dichterische Delirium hat seine Stelle in der Natur. Es rechtfertigt sie, ist bereit, sie zu verschönen. Die Weigerung gehört dem klaren Bewußtsein an, ermißt, was ihr zustößt. Die klare Unterscheidung der verschiedenen Möglichkeiten, die Gabe, bis an das Ende der fernsten zu gehen, sind Sache der ruhigen Wachsamkeit. Das Spiel, für mich selbst ohne Umkehr, und das Weitergehen in das Jenseits-alles-Gegebenen erfordern nicht nur das unendliche Lachen, sondern auch die langsame Meditation (die wahnsinnige, aber aus Übermaß wahnsinnige).
Es ist das Halbdunkel und das Zweideutige. Die Poesie entfernt gleichzeitig von der Nacht und vom Tage. Diese Welt, die mich bindet, kann sie weder in Frage stellen noch in Aktion versetzen.
Die Drohung wird in ihr aufrechterhalten: die Natur kann mich vernichten – mich beschränken auf das, was sie ist, das Spiel widerrufen, das ich weiter hinaus spielte als sie – das meinen unendlichen Wahnsinn fordert, meine unendliche Fröhlichkeit, meine unendliche Wachsamkeit.

Erschlaffung zieht aus dem Spiel zurück – und ebenso ein Übermaß an Aufmerksamkeit. Vom Spieler werden lachender Zorn, unvernünftiger Sprung und ruhige Luzidität verlangt, bis zu dem Tag, da ihn die Chance fallen läßt – oder das Leben.

Ich nähere mich der Poesie: aber damit ich ihr fehle.

Die Beschränkung auf die Ordnung scheitert in allen Fällen: die eigentliche Frömmigkeit (ohne Überschreitung) führt zur Inkonsequenz. Der umgekehrte Versuch hat also Aussichten. Er muß sich der mittelbaren Wege bedienen (des Lachens, des unablässigen Ekels). Auf der Ebene, wo diese Dinge spielen, verwandelt sich unaufhörlich jedes Element in sein Gegenteil. Gott belädt sich plötzlich mit ,entsetzlicher Größe‘. Oder die Poesie gleitet in das Verschönern. Bei jeder Anstrengung, die ich machte, das Objekt einer Erwartung zu greifen, verwandelt es sich in ein anderes.

Der Glanz der Poesie offenbart sich außerhalb der schönen Augenblicke, die sie erreicht: die Poesie kriecht, verglichen mit dem Scheitern der Poesie.

(Man stimmt allgemein überein, den zwei Autoren, die dem Glanz der Poesie den Glanz eines Scheitern hinzufügten, einen besonderen Platz einzuräumen. Mit ihrem Namen ist eine Zweideutigkeit verbunden, aber der eine wie der andere erschöpften den Sinn der Poesie, die in ihr Gegenteil ausläuft, in ein Gefühl des Hasses auf die Poesie. Die Poesie, die sich nicht zur Sinnlosigkeit der Poesie erhebt, ist nur das Hohle der Poesie, nichts als die schöne Poesie.)

Georges Bataille, 1947
übersetzt von Max Hölzer

 

 

 

Vorbemerkung

Sechzig Poeten äußern sich über Poesie. Niemand wird darüber klagen, daß dies ein ,unübersichtliches Bild‘ ergibt. Ihre Besonderheiten vor allem soll diese Auswahl zeigen, nicht, was sie Ähnliches haben. Das Buch taugt sonst nichts.
Daß man trotzdem durchgehende Linien bemerken kann, ist kein Zufall. Von der ersten bis zur letzten Seite wird die Frage durchvariiert: wie fasse ich, mit welcher Sprache, die Widersprüche, in die ich geraten bin? Die Diskrepanz zwischen meinem Fühlen und Vorstellen und meiner Lage? Gelingt es mir, durch Drogen ein allzu festgelegtes Denken durchlässig zu machen? Oder schärft sich, im Gegensatz dazu, meine Sprache, indem sie sich mathematischem Vorgehen nähert? Kann ich das Sprechen alltäglicher Verständigung mit den entdeckenden Anstrengungen in Verbindung bringen, oder beschränke ich mich nicht besser bewußt auf eine dieser Aufgaben? Bezug zur Gesellschaft und zur Veränderung dieser Gesellschaft, zum adäquaten Bewußtsein und den Weltentwürfen dieses Bewußtseins: immer wieder Fragen.
Immer wieder Antworten, immer wieder neue Kritik! Die Anziehungskraft zwischen Poesie und kritischer Theorie, sei es nun in der Atmosphäre der Faszination oder der unglücklichen Liebe hat sich in unserer Gegenwart eher verstärkt als gemindert. Schon Mallarmé sah, daß das moderne Gedicht in einer kritischen Epoche, in der Epoche der reflektierenden Betrachtung der Sprache angesiedelt sei, Lautréamont behauptete sogar, daß die Urteile über die Dichtkunst wichtiger seien als die Dichtkunst selber. Tatsächlich eröffnet sich wohl nirgends so uneingeschränkt wie in diesen Urteilen der Horizont einer Epoche!
Die Reihenfolge der Dokumente war problematisch. Eine Einteilung in Dichterschulen oder Stilarten schien verfehlt, weil sie mehr verstellt als aufhellt. Ich wählte, nach mancherlei Versuchen, die Ordnung nach dem Alter der Dichter, nach ihren Geburtsjahren. Es kommen dabei, vor allem durch die Frühverstorbenen, einige seltsame Konstellationen zustande, die aber ihren Erkenntniswert haben. Bei der Zusammenstellung der Biographien gab es wegen der notwendigen Kürze der Texte manche Schwierigkeiten. Wie alle solchen Zusammenstellungen sind auch diese ein Kompromiß: weder lexigraphische Vollständigkeit noch gar eine ausführliche Bezeichnung der Wandlungen und Höhepunkte im Gesamtwerk konnten dargeboten werden. Die Notizen sollen dem Leser lediglich erste Hinweise zur Orientierung geben. – Viele Texte wurden eigens für dieses Buch übersetzt, für andere war die Erlaubnis zur Übernahme der Übersetzung einzuholen. Den Autoren, Übersetzern und Verlagen sage ich meinen Dank; besonders Gerhard Schmidt-Henkel danke ich für seine Mithilfe am Zustandekommen dieses Buches.
Ist es richtig, daß weniger ungewollte Imitation und damit weniger abgedroschene Literatur zustande käme, wenn der Schriftsteller die Tradition der Moderne, das einmal Gedachte und Gewagte mehr zur Kenntnis nähmen? Ich bin dessen nicht sicher, aber möglich ist es schon. – Jedoch dies ist sicher: vieles, fast alles, was in diesem Buch versammelt ist, wirkt bis in unsere unmittelbare Gegenwart hinein. Insbesondere die Überlegungen von William Carlos Williams über veränderliches Metrum, von Charles Olson über den projektiven Vers und von Tadeusz Różewicz gegen die Bildersucht geben Impulse, die in der gegenwärtigen, aktuellen Lyrik verändernd wirken können. Das Nachwort dieses Bandes geht auf die Antithetik und die Wirkung, besonders auf die gegenwartsbezoge, der hier versammelten Poetologien ein.

Walter Höllerer, Vorwort

 

 

Zum 65. Geburtstag des Herausgebers:

Peter Rühmkorf: Dem ,Langen Gedicht‘ ein langes Leben!

Zum 100. Geburtstag des Herausgebers:

Alexander Cammann: Aus Feuerschlünden
Die Zeit, 29.12.2021

Gregor Dotzauer: Zeremonienmeister der Literatur
Der Tagesspiegel, 16.12.2022

Michael Krüger: Weltgeist von Sulzbach-Rosenberg
Süddeutsche Zeitung, 19.12.2022

Simon Strauss: Der Hüter der Schatulle
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.12.2022

Michael Braun: Zirkusdirektor der modernen Poesie
Badische Zeitung, 19.12.2022

Dieter M. Gräf: Elefantisch
der Freitag, 18.1.2023

 

 

 

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Günter Grass: Walter Höllerer nachgerufen
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 166, Juli 2003

Norbert Miller: Der Vogel Rock
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 166, Juli 2003

Peter Rühmkorf: Der Forderer
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 166, Juli 2003

Bernhard Setzwein: Mitten am Rand
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 166, Juli 2003

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Hölleritze“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Höllerer, die“.

 

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