Walter Jens: Zu Paul Celans Gedicht „Matière de Bretagne“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „Matière de Bretagne“ aus Paul Celan: Sprachgitter. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

Matière de Bretagne

Ginsterlicht, gelb, die Hänge
eitern gen Himmel, der Dorn
wirbt, um die Wunde, es läutet
darin, es ist Abend, das Nichts
rollt seine Meere zur Andacht,
das Blutsegel hält auf dich zu

Trocken, verlandet
das Bett hinter dir, verschilft
seine Stunde, oben,
beim Stern, die milchigen
Priele schwatzen im Schlamm, Steindattel,
unten gebuscht, klafft ins Gebläu, eine Staude
Vergänglichkeit, schön,
grüßt dein Gedächtnis.

(Kanntet ihr mich,
Hände? Ich ging
den gegabelten Weg, den ihr wiest,
mein Mund spie seinen Schotter, ich ging, meine Zeit,
wandernde Wächte, warf ihren Schatten – kanntet ihr mich?)

Hände, die dorn-
umworbene Wunde, es läutet,
Hände, das Nichts, seine Meere,
Hände, im Ginsterlicht, das
Blutsegel
hält auf dich zu

Du
du lehrst
du lehrst deine Hände
du lehrst deine Hände du lehrst
du lehrst deine Hände
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaschlafen

 

Zu einem Gedicht von Paul Celan

Die Dichtung der Moderne ist eine „pars-pro-toto“-Literatur, deren Geheimnis auf einem (bislang noch unentschlüsselten) Über-Naturalismus beruht. „Bezeichne den winzigsten Sektor so deutlich“, heißt das Gebot, „daß er in seinem abstrakten Für-sich-Stehn die verlorene Einheit zu symbolisieren vermag, und daß jedermann sagt: ,er hat recht, Köln ist die Welt, es gibt nur Berlin, wo wäre Sizilien nicht?‘“ – In der Tat, es hat seinen Grund, wenn, um der End-Stilisierung willen, nicht nur der Romancier, sondern auch der Poet im engeren Sinn als Basis seiner Analysen die naturalistisch-präzise Stimmigkeit des terminus technicus wählt. Marie-Luise Kaschnitz’ winterliches Dorf etwa ist kein beliebiger Flecken, sondern Genazzano, ein Ort im Albaner-Gebirge, den man in jedem Atlas finden kann; Günter Eich gibt seinen Gedichten sehr bewußt topographisch „richtige“ Titel: „Der große Lübbe-See“ und „Geisenhausen“, „Herrenchiemsee“ und „Lemberg“, „D-Zug Frankfurt-München“ und „Wiepersdorf“, die „Arnim’schen Gräber“; Peter Huchel schließlich läßt sein Winter-Gedicht „Chausseen, Chausseen“ (aus dem Zyklus „Das Gesetz“) mit voller Absicht nicht im Stimmungshaft-Abstrakten vorschweben, sondern verfestigt den Text durch die Vokabeln Bethlehem und Stalingrad. Um diese Technik – penibles Sich-Beschränken wegen der erhellenden Verweise, topographische Determination als Stilisierungs-Prämisse – ein wenig genauer zu dokumentieren, sei ein Beispiel, Paul Celans „Matière de Bretagne“ zitiert:

Ginsterlicht, gelb, die Hänge
eitern gen Himmel, der Dorn
wirbt, um die Wunde, es läutet
darin, es ist Abend, das Nichts
rollt seine Meere zur Andacht,
das Blutsegel hält auf dich zu

Trocken, verlandet
das Bett hinter dir, verschilft
seine Stunde, oben,
beim Stern, die milchigen
Priele schwatzen im Schlamm, Steindattel,
unten gebuscht, klafft ins Gebläu, eine Staude
Vergänglichkeit, schön,
grüßt dein Gedächtnis.

(Kanntet ihr mich,
Hände? Ich ging
den gegabelten Weg, den ihr wiest,
mein Mund spie seinen Schotter, ich ging, meine Zeit,
wandernde Wächte, warf ihren Schatten – kanntet ihr mich?)

Hände, die dorn-
umworbene Wunde, es läutet,
Hände, das Nichts, seine Meere,
Hände, im Ginsterlicht, das
Blutsegel
hält auf dich zu

Du
du lehrst

du lehrst deine Hände
du lehrst deine Hände du lehrst
du lehrst deine Hände
aaaaaaaaaaaaaaaaaschlafen

Auf den ersten Blick ein apokryphes Gedicht, bilderreich und von einem Muster wirrer Kreuz-Bezüge bedeckt. In Wahrheit aber herrscht äußerste Klarheit; der Ausgangspunkt ist bestimmbar, die Verweise ergeben sich ganz wie von selbst. Wie Eich, Kaschnitz und Huchel liebt auch Celan die terminus-technicus-Prägnanz der Überschrift-Zeile: „Köln-Domhof bei Nacht“, „Matière de Bretagne“. Zwei Sätze – und man ist an einem Ginsterhang der bretonischen Küste. Das Fundament scheint, in aller Konkretheit, solid und vertrauenerweckend: wer will, kann im Lexikon lesen, daß am Atlantik in der Tat viel gelber Stechginster wächst. Nun aber, Schritt für Schritt, der Sprung in die Luft, das Verlassen der Basis; die Vokabel „gelb“ weckt, folgerichtig, eine „Eiter“-Assoziation; „Eiter“ wiederum bringt das Bild „Wunde“… kein Linné könnte den stechenden Ginster präziser beschreiben; und dennoch hat man sich, in diesem Augenblick, schon weit vom Ausgangspunkt entfernt: „Dorn“ und „Wunde“ evozieren das Karfreitagsgeschehen; das Gedicht, mit einer topographischen Schilderung einsetzend, hat sich, so scheint’s, in religiöse Sphären verflüchtigt – plötzlich ist vom „Läuten“, der „Andacht“, und dem „Blutsegel“, das „auf dich zuhält“ die Rede. Kein Zweifel, daß hier die Schreckens-Vision von Golgatha aufblitzt, kein Zweifel aber auch, daß das Gedicht sein Regional-Fundament nie aus den Augen verliert: wir sind immer noch an der bretonischen Küste, der Abend bricht herein, das Meer beruhigt sich, im letzten Schein der sinkenden Sonne flammt das Segel eines Bootes auf. – Konkret wie die erste Strophe ist auch die zweite: nach dem Meer nun das Land, nach dem Vorausblick der Rückblick auf ein versandetes Rinnsal, ein verschilfendes Bachbett. Zugleich jedoch, mit einer Umschau von oben nach unten verbunden: vom Stern zur Steindattel, vom milchigen Priel bis zum Himmel – zugleich mit dem Rundblick: die Apotheose der Vergänglichkeit. Der Raum entrollt die Zeit; beide begegnen einander, an den Austausch in Augustinischen Erinnerungsschächten gemahnend, im Gedächtnis des Menschen. Die Anamnesis rekapituliert, in Strophe drei, noch einmal den Weg, der das lyrische Ich, das sich auch hier – sehr typisch – ins Gedicht hineinnimmt, bis zu seinem Standort zwischen Meer und Schilf, Staude und Stern geleitete und es an einen Punkt heranführte, wo Raum und Zeit sich miteinander berühren. Der Weg, so viel steht fest, wurde nicht in eigenem Namen beschritten, das schotternde Wort und die schattenwerfende Zeit hatten ihn erst begehbar gemacht; Hände, von denen man nicht weiß, ob sie den gehenden Schatten erkannten, wiesen den Weg. Wessen Hände? Das Gedicht, das seine Bilder so folgerichtig entwarf, scheint hier eine Sekunde lang zu entgleiten; doch gibt die vierte Strophe unverzüglich die Antwort: Christi Hände, ein Teil jener Kalvarienberge, denen man in der Bretagne so häufig begegnet, markieren den gegabelten Weg, dessen Ziel das Ich, nach der eingeklammerten Reminiszenz der Mittelstrophe, in einem Moment wiedererreicht, da die Bilder, nun nicht mehr geordnet, sondern durcheinandergewirbelt, es überstürzen. Dann aber verklingt die Vision im Gleichnis der schlafenden Hände, wobei es freilich nicht mit Sicherheit erkennbar ist – und dies bezeichnet noch einmal die schwebende Subjekt-Objekt-Perspektive des modernen Gedichts –, wen das „du“ meint und wem die Hände gehören: haben auch hier Betrachter und Betrachtetes die Rollen getauscht? Das entspräche der Ambivalenz einer Gruppe von Versen, die eine ganz konkrete Szenerie voraussetzt und von hier aus mit der gleichen Konsequenz und Leichtigkeit wie Peter Huchels Poem „Chausseen, Chausseen“ die biblischen Gegenwelten erreicht. Dabei – und das ist entscheidend – kann man in keinem Augenblick sagen: jetzt ist der Absprung vollzogen, jetzt sind die Bereiche vertauscht. Im Gegenteil, gerade das Mit- und Ineinander der Sphären macht die Eigenart eines Gedichts aus, das schon im dritten Vers auf Golgatha verweist, noch in der vorletzten Strophe vom Ginsterlicht spricht und die Passions-Visionen jederzeit mit der Exaktheit des terminus technicus konfrontiert. Welcher Lyriker vergangener Zeiten hätte gewagt, „Steindattel“ und „Nichts“ in einem Atem zu nennen? Doch gerade dies „in einem Atemzug“ charakterisiert die „Matière de Bretagne“. „Blutsegel“ ist genau zu gleichen Teilen das sonnenbeschienene Tuch, rötliches Meer-Dreieck und Purpurmantel; das „Läuten“ meint das Vesper-Bimmeln der Glocke und das Ticken des Eiters, die „dornumworbene Wunde“ ist die gelbe Stechginster-Blüte und die Wunde des Herrn. „Matière“ endlich – erstaunlich ebenso wie konsequent – heißt nicht nur „Geschichte“ und „Fabel“, sondern auch „Eiter“! Man sieht, Verweis und Transparenz bedürfen, um sich entfalten zu können, um nicht zu zerfließen, in jedem Augenblick der dinglich-realen Fixierung. Dynamik setzt Statik voraus, Verwandlung braucht Archetypen.

Walter Jens, Merkur, Heft 157, März 1961

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